Zettelwirtschaft in Büchern (Archiv 2016)

Die kleine Karte ist unscheinbar. Kaum größer als ein Post it. Im Laufe der Jahre ist das rosa Papier dünn und grau geworden. Obwohl ich sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr in der Hand hatte, erkenne ich sie sofort wieder. Sie liegt jetzt auf dem Boden vor meinen Füßen und ist aus Milan Kunderas Buch „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ gefallen. Sofort schießen mir die Tränen in die Augen, weil es mir unmöglich ist, nicht an Karenin, den sterbenden Hund im Buch, zu denken. Die Erinnerung an Karenin verschwindet schnell, die Tränen bleiben. Wegen der Karte.

In fast jedem meiner Bücher befindet sich ein Zettel, ein Zeitungsausschnitt oder  Post-, Kino- und Eintrittskarten. Obwohl ich mir in den vergangenen Jahren wunderschöne Buchbänder zugelegt habe, benutze ich sie nicht. Ich kaufe meine Bücher fast immer spontan in einer Buchhandlung, die ich grundsätzlich dann besuche, wenn ich Zeit zu überbrücken habe. Zu lesen beginne ich schon im Bus nach Hause oder auf der nächsten Parkbank. Als Einmerker dient das, was gerade zur Hand ist. Meistens handelt es sich dabei um etwas, dass ich schon länger in den Tiefen meiner Handtasche mit mir herum schleppe. Eine hübsche Postkarte von einem lieben Freund; die Eintrittskarte in eine Ausstellung, die hübscher war als die ausgestellten Bilder oder etwas aufgeschriebenes, das mir im Moment des Schreibens wichtig erschien. Die meisten meiner Erinnerungsstücke haben diesen Weg zurück gelegt. Sie werden ein paar Wochen dicht bei mir in der Tasche mit herum geschleppt und landen dann in einem Buch. Dort bleiben sie, bis ich sie Jahre später wieder entdecke, wenn das Buch ein zweites Mal gelesen wird. Wie viele Erinnerungen ich auf diesem Weg aufbewahre, wurde mir erst vor einigen Monaten bewusst, als ich einen Teil meiner Bücher verschenkte. Ich stellte einen Karton randvoll mit alten Kinderbücher, Krimis und seichten Romanen ins Treppenhaus zu den Briefkästen und schrieb „zu verschenken“ auf den Deckel. Der Karton leerte sich schnell und ich freute mich, das die Bücher eine neue Heimat gefunden hatten. Dann fuhr ich für eine Woche in Urlaub.

Als ich zurück kam, war das Schwarze Brett im Treppenhaus bunt geworden. Unter einem Foto meiner ersten WG Küche hing ein kleiner Zettel. „Gefunden in ‚Interview mit einem Vampier‘. Danke für das Buch!“ Daneben hatte man die Visitenkarte eines Lokals in Los Angeles, inklusive der darauf notierter Telefonnummer eines Renaldos an die Hausordnung geheftet und hinter diese eine alte Kinokarte mit einem gekrizelten „Blöde Kuh, ich hab dich lieb“, gesteckt. Zwei Postkarten und ein weiteres, abgegriffenes Foto lehnten auf den Briefkästen. Ich war  froh, dass mich niemand beobachtete, wie ich all die Erinnerungen schnell in die Tasche steckte und nach oben lief. Renaldos Telefonnummer kam in den Müll – er war keine Erinnerung wert. Den Rest warf ich in einen Karton und begann meine Bücher zu durchblättern.

In fast jedem fand ich etwas, das mich zu der Zeit, als ich das Buch las, begleitet hat. Oft wusste ich nicht mehr, wann ich mir ein Buch zugelegt habe. Mit den kleinen Erinnerungen darin, ist es leicht zu dem jeweiligen Moment zurück zu kehren. Die Buddenbrocks hatte ich mir zum Beispiel am Bahnhof auf dem Weg nach Mailand gekauft und es dort gelesen. Als Einmerker diente mir die Zugkarte. Während des zweimonatigen Sprachkurses las ich dann etwas von Fontane. Damit ich abends wusste, wo ich morgens aufgehört hatte, klemmen seit Jahren Signora Loredanas Bilder zwischen den Seiten. Bei dem in die Jahre gekommenen Fotomodel hatte ich damals ein Zimmer zur Untermiete. Aus der Blechtrommel fiel ein Bilderrätsel inklusive männlich, rustikal verpackter Kopfschmerztablette und „Extrem laut und unheimlich nah“ hatte ich wohl während des Kunstherbstes in München gelesen. Zumindest wenn ich der Karte darin glauben schenke. Romeo und Julia im letzten Jahr meiner Ausbildung. Eine kleine Glückwunschkarte zur bestandenen Prüfung steckt dort, wo Julia ihren Schlaftrunk zu sich nimmt. Den Schlaftrunk wünschte ich mir an manchen unsäglich langweiligen Berufsschultagen wohl auch herbei. Die Geschichte zur Kinokarte in Madame Bovary ist ebenso dramatisch, wie das Buch. Der aufgedruckte Film ist kaum noch zu entziffern, aber ich weiß auch so, dass es der Abend war an dem ich meinem damaligen Freund eine filmreife Szene aufs Parkett legte. Lautstarke Auseinandersetzungen auf offener Straße, empfinde ich als Zumutung für die unbeteiligte Passanten. Rücksichtsvoll vermeide ich solch peinliche Zurschaustellungen. Überhaupt bin ich nicht der Typ für Szenen. Außer man sagt etwas so unglaublich dummes zu mir, wie mein Freund an jenem Abend. Der Film lief bereits mehrere Minuten, als ich aufsprang, ihm die Popkorntüte in den Schoß warf und wutentbrannt aus dem Kino stapfte. Weder leise, noch rücksichtsvoll. Es war mein einziger Streit auf offener Straße und der einzige, bei dem ich keinen Millimeter klein bei gab. Die Kinokarte erinnert mich daran. Und an die folgenden sechs Jahre, in denen wir uns keine Szenen mehr lieferten, weil die eine erbärmlich genug war.

Die Karte aus Milan Kunderas Buch schiebe ich ganz vorsichtig wieder zwischen die Seiten. Das Buch gehörte Lisa und die Karte beinhaltet Glückwünsche der Großmutter zum 18. Geburtstag. Vieles steht in der Karte, auch „du junger Mensch, wirst noch vieles erleben…“Ich kannte Lisa nur vom sehen. Bekam das Buch über einige Ecken und wollte es im Sommer 1994 auf einer Feier an der Isar zurück geben. Lisa kam nicht. Man erzählte mir, dass sie schon im Frühjahr an Leukämie gestorben war.

6 Gedanken zu “Zettelwirtschaft in Büchern (Archiv 2016)

  1. Liebe Mitzi,
    Deine Schilderung der Inhalte von Büchern finde ich köstlich originell und berührend. Die Kinokarten, Visitenkarten, Widmungen und ähnliches vermögen die Leseerinnerungen ebenso zu speichern wie „Eselsohren“ (umgeknickte Ecken), Anstriche, Unterstriche oder kleine Randbemerkungen.
    Manchmal sind es bei mir Kassenzettel vom Bücherkauf – ein Lob auf die Kassenzettel! – und auf deren Rückseite finde ich Notizen und Seitenangaben. Hier gibt es einen Zeitungsartikel mit der Buchbesprechung oder etwas anderes zum Autor oder zur Autorin. Dann wieder eine Postkarte. Als Einlage gut geeignet finde ich auch Zigarettenpapierchen – so dünn, dass viele in ein Buch passen, ohne die Bindung zu sprengen, dazu beschreibbar beschreiblich sowie nötigenfalls als Reservoir. In anderen Büchern erblättere ich herbstliche Baumblätter zwischen den Seiten oder besonderenfalls Blüten.
    Hab‘ ich hier irgendwann schon mal erzählt, wie ich einen Geldschein in einem Buch fand?
    Welche Einlagen und Eingaben Deine Lesegemeinde beitragen wird?
    Frohes Lesen im Sommer
    und schöne Grüße
    Bernd

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    1. Die Schilderung deiner Bücher ist wirklich schön. Ich wäre neugierig ein solches Buch mit beschriebenen kleinen Zettelchen zu finden. Etwas in einem fremden Buch zu finden ohne zu wissen wie es dort gelandet ist, ist gleich noch mal interessanter. Der Gedanke, dass in meinen eigenen Büchern ebenfalls Erinnerungsstücke landen, ist schön.

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  2. Ein besonders schöner Nebeneffekt dieser Einmerker – so nanntest du die Lesezeichen wohl – besteht sicher darin, dass es einfach nicht vorhersehbar ist, welche Erinnerungen ein Buch bergen wird. Ein sehr schöner Text, der Phasen deines Lebens anhand von Büchern und Einmerkern erzählt.

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