Alltag X – Ruhe jetzt

Man hat ihn mir aus der Hand genommen, meinen Alltag. Hat ihn in Kisten verpackt und zu Stapeln geschichtet. Hat ihn in den kleinsten meiner Räume gepackt und mich gebeten, auf dem letzten der Kartons Platz zu nehmen. Dort könne ich sitzen, bis alles vorbei sei. Nein, bitte nicht helfen, nichts anfassen und einfach warten. Warten bis meine fliederfarbenen Wände silberwiesengrau strahlen und warten bis alles wieder an seinem Platz stünde. Nichts reden, wenn ich es schaffen würde und einfach die machen lassen, die wissen wie man eine Wohnung renoviert. 

Ich versuche es und sitze in meinem Alltag. Ein wenig unschlüssig, weil man selten seinen vollständigen Alltag so greifbar auf wenigen Quadratmetern direkt neben sich stehen hat. Alles haben sie mir in den Raum gestellt und es gibt keinen Grund sich zu langweilen. Ich könnte eines meiner Lieblingsbücher lesen oder in alten Fotoalben blättern. Könnte bei dieser Gelegenheit endlich die CD´s sortieren, die ich seit Jahren nicht mehr hörte oder endlich entscheiden welche Lehrbücher aus dem Studium es wert sind sie aufzuheben. Ich könnte endlich die Spanisch Bücher wegbringen. In diesem Leben lerne ich es nicht mehr. Könnte all die Gläser mit Sand und Muscheln von Staub befreien oder die Tüte mit Kabeln undefinierbarer Herkunft und Funktion zum Wertstoffhof bringen. Ich könnte all das und tue nichts davon, weil es mich vor Wochen schon aus dem Alltag geworfen hat und mich banalstes überfordert. Irgendwann im Juni bin ich aus dem Takt geraten und taumle seit dem in unbekanntem Rhythmus durch das Jahr. Obwohl ich die Melodie nicht kenne, mag ich es. Obwohl mir angesichts der vielen Kurven ein wenig schwindlig geworden ist, biege ich weiter spontan ab. Abends zum Beispiel. Wer kann bei über 30 Grad nach einem Tag im Büro schon einfach geradeaus nach Hause gehen? Ich schaffe ich es nicht. Liege in der Abendsonne an der Isar, sitze mit Freunden auf deren Fensterbänken und trinke einen Aperitif, dem meist kein richtiges Abendessen folgt, weil es viel zu warm ist. Ich ernähre mich von Oliven, käse, Melone und den Tomaten von meinem Balkon. Zu Hause betrete ich meine Wohnung erst wenn es dämmert. Zu vor sitze ich mit Nachbarn unter Sonnenschirmen, Kirschbäumen oder Kastanienbäumen und erledige das Nötigste im Vorbei gehen. Resturlaub habe ich kaum noch. In anderen Jahren macht mich das nervös. Dieses Jahr nicht. Wie könnte ich noch einen Rest haben, wenn ich so oft schon spontan oder geplant weggefahren bin und noch fahren werde. Kollegen runzeln die Stirn, wenn ich schon wieder für ein langes Wochenende nach Italien fahre. Einfach so, weil ich gerne auf einer bestimmten Piazza einen Kaffee trinken möchte. Meine Freundinnen überfahre ich mit meinem Aktionismus und reiße sie aus ihrem eigenen Alltag in dem ich bei einem Glas Wein nicht nur meinen, sondern auch ihren Urlaub verplane. Nickt eine leichtsinnig bei der Frage ob sie nicht auch Lust auf das Meer hätte, buche ich uns Minuten später einen zehntägigen Aufenthalt in Ligurien. Sie müssen sich um nichts sorgen, versicher ich. Ich fahre, ich kümmere mich und sie müssen einfach nur mitkommen, weil wir ja mit ihrem Auto fahren werden und gerne einen lieben Menschen an meiner Seite hätte, wenn ich abends den Sonnenuntergang am Meer ansehe. Zum Glück nicken sie und fragen meist nur noch einmal nach, wann genau ich sie über den Brenner zu schleifen gedenke. 

Stillstand ist in diesem Jahr nicht möglich. Es passiert und passierte zu viel und vielleicht muss ich deswegen auch genau jetzt und nicht eine Woche später die Wände meiner Wohnung neu streichen und die Räume meines Alltags verändern. Seit Monaten renne ich. Ich hetze durch meinen Alltag, ohne dass es mir leid täte. Es ist eine schöne Unruhe und doch auch etwas anstrengend. Ich kann sie nicht mehr sehen, die fliederfarbene Wand, so wie ich nicht mehr hören kann, dass man etwas doch auch später, nächstes Jahr oder irgendwann machen könnte. Kann man. Nur ich nicht. 2019 muss alles etwas schneller gehen. Etwas zackiger und etwas planloser. Vier Wochen noch. Dann sitz ich am Meer und werde wieder etwas ruhiger. Das werde ich immer, wenn ich in Italien bin und immer, wenn ich mit genau dieser einen Freundin, die ich vor Wochen so überrumpelte, zusammen bin. Bis dahin wird mir weiter etwas schwindlig sein. Ich werde rennen, werde machen und tun und werde zu wenig schlafen. Zu oft abbiegen, zu spontan über Landesgrenzen fahren und zu vieles zur gleichen Zeit machen.

Heute nicht. Heut sitze ich inmitten meines materiellen Alltags und wurde zwangspausiert. Ich würde sie wahnsinnig machen, sagen die, die gerade meine Wände streichen und die Löcher darin zuspachteln. Ruhe jetzt, sagen sie und schließen die Tür hinter sich. Nun gut. Ein Tag ist ok. Einen Tag gebe ich Ruhe. Morgen geht es weiter. In diesem chaotischen, planlosen und herrlichen Alltag 2019.

Andere Alltage von Ulli fein zusammengestellt.

 

20 Gedanken zu “Alltag X – Ruhe jetzt

  1. Das klingt nach unerschöpflicher Kraft, liebe Mitzi. Schön ist das! Ich bin grad das Gegenteil, sage alle Verabredungeen, zu denen ich mich durchgerungen habe, wieder ab und bleibe zu Hause hocken. Ich, die ich Veränderungen so liebte, suche nun den Stillstand. Verrückt.

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    1. Im ersten Moment vielleicht verrückt, aber doch auch normal. Für mich wäre es normal. Manchmal ist alles zu viel. Auf anstrengende Art zu viel. Dann ist zu Hause hocken für eine Weile genau das richtige.
      Vielleicht ist der Stillstand nur eine kleine Pause, bevor du mit getankter Energie wieder auf die Veränderung zu steuerst? Liebe Grüße

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  2. ich habe gegoogelt. silberwiesengrau ist keine farbe. aber das macht ja auch nicht wirklich was. bei mir ist es auch chaotisch und es war ebenso schnell, nur ist es mir in den letzten wochen dann doch ein bisschen zu rasant geworden, sodass ich tatsächlich die notbremse ziehen musste und einfach zeit brauche innezuhalten. aber ich weiß so gut was du meinst, es war bei mir im letzten sommer so und ich bin sicher, es wird wieder einer kommen, wo es so ist. und was gibt es schöneres als spontaneität (ich gewöhne mich nicht an das fehlende e in der neuen rechtschreibung) und sommer? sie schreibt die schönsten geschichten.

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    1. Leider finde ich den Farbton im Internet auch nicht. Eine von den mischbaren Designerfarben im Baumarkt. Anscheinend aber von der letzten Saison – nicht mehr zu finden. Es ist ein kräftiges Schlammgrün. Zu den restlichen weißen Wänden passt es recht gut.Ich hab nur eine Wand damit gestrichen. Also….streichen lassen ;).
      Es ist gut die Bremse zu ziehen. Und wichtig. Es würde mir ähnlich gehen, wenn nicht das meiste schön und selbstgewählt ist. Anders kenne ich es auch. Und du hast recht….es wird wieder anders kommen. :-*
      Ach, das ist neu, das fehlende „e“….oh Gott, ich bin so grottenschlecht in all dem.

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      1. schlammgrün, das glaub ich wirkt sehr angenehm. danke für die aufklärung 🙂

        Ich schaffe es meistens auch bei „schön und selbstgewählt“ mich irgendwann zu überfordern 🙂 aber ich weiß was du meinst. ich hatte das auch echt lange und habe es auch lange – zumindest in maßen – genossen.
        Ach das macht ja nix. Kennst du das lied von Reinhard Mey „Der unendliche Tango der deutschen Rechtschreibung“? 🙂

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  3. Griaßdi Mitzi!

    Du, woaßt woos! Jezza hams doch glatt den Wuidbiesla
    in flagranti dawischd, dea bei uns imma ans Hauseck
    hieg’soacht hood! D’Moosederin und da Goggal-Schorsch
    (dea hoaßt a so, weila si oamoi in da Woch a Goggal
    vom Goggalwoong hoid) ham si hinta da Garaasch vaschteggd
    und dem Saubäär aufg’lauad. Da Goggal-Schorsch hood glei
    d’Bolizei o’gruaffa und de hom eam danna d’Levitn g’lesn.
    Weila a no bsuffa war, homsn aufs Revia miedgnomma.
    Des g’schiad eam ganz recht!
    Wos hoid im Oidoog ois so baasiad, gäh!..;-)

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  4. Hallo Mitzi, ist es schön oder für dich nicht so schön, dass jetzt andere das Streichen übernommen haben. ICH würde gar nicht erst mit Streichen anfangen. Ich habe das mal irgendwo gemacht, da haben sie mich baldigst in die Küche geschickt – und damit den Bock zum Gärtner gemacht.
    Lieben Gruß

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  5. Welch eine Energie!
    Seit Wochen, wenn nicht seit Monaten, warte ich auf den lang ersehnten Urlaub … habe meine Aktivitäten auf ein Minimum heruntergefahren. Bald das Meer. Ja, soviel muss sein …

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    1. Ach schön….das Meer! Und zur Energie…ich antworte jetzt auf einen Kommentar vom 08.08…ich bin chaotisch…das trifft es eher. Mir werden schon gar nicht mehr alle neuen Kommentare angezeigt. Aber ab jetzt wird es ruhiger und ich bin wieder da. Hoffe ich 😉

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