Vier Minuten Gespräche (aus dem Archiv 01.10.2015)

Wikipedia definiert Routine, als eine Handlung, die durch mehrfaches Wiederholen zur Gewohnheit wird und beschreibt dadurch zutreffend eines meiner morgendlichen, werktäglichen Rituale. Pünktlich um 06:51 Uhr stehe ich am kleinen Kiosk im U-Bahn Untergeschoss und kaufe eine Tageszeitung und ein einzelnes Ferrero Roche. Der Duden definiert wie Routine dagegen als Ausführung einer Tätigkeit, die zur Gewohnheit geworden ist und jedes Engagement vermissen lässt. Wenn ich davon ausgehe, dass das aushändigen meiner Zeitung auch für die drei Kioskmitarbeiter längst zur Routine geworden ist, muss ich dieser Beschreibung widersprechen. Sie zeigen Engagement. Mehr noch – anstelle von Routine, wird mein täglicher Einkauf durch sie zur liebgewonnen Tradition.

Obwohl ich seit mehreren Jahren täglich vor dem kleinen Fenster stehe, kann ich mir partout nicht merken, wer von den Dreien an welchem Tag arbeitet. Nur donnerstags. Da weiß ich dass Hilde mich bedient. Donnerstags kaufe ich anstelle der Tageszeitung die inTouch. Peinlich, ich weiß. Seichter geht es kaum. Grausam. Unterirdisch. Nur Fotos von Promis, kaum Text. Hilde ist es genauso peinlich, wie mir. Deshalb nimmt sie die Zeitung nicht mit nach Hause, sondern liest sie morgens, bevor die ersten Kunden kommen. Um 6:51 Uhr ist sie bereits bestens informiert und begrüßt mich ungeduldig vor dem Kiosk stehend. Dass wir eigentlich nicht zugeben würden, diese Zeitung zu lesen, ignoriert Hilde. Und ich auch. Wir haben 4 Minuten, bis ich zu meiner U-Bahn rennen muss. 4 Minuten in denen wir über Schwangerschaften, Diäten, Trennungen und Cellulitis sprechen. Nicht unsere. Die von Heidi, Sabia, Beyoncé und Angelina. So sehr wir unseren Donnerstags-Tratsch lieben, nach den wenigen Minuten reicht es dann auch wieder. Es gibt schließlich wichtigeres. Wobei…Heidi Klum ist seit ihrer Diät wirklich extrem faltig geworden.

Ist Hilde nicht da, schiebt mir fast immer Traudl die Zeitung über den Tresen. Traudl würde sich nie über Prominente unterhalten. Überhaupt spricht Traudl eher wenig und konzentriert sich auf das Wesentliche. Lange Zeit schob sie mir das Wechselgeld kommentarlos zu und erwiderte meinen Gruß nur mit einem angedeuteten Kopfnicken. Sie sprach mich das erste Mal am Morgen nach meiner schlimmsten Trennung an. Ich war weder verheult noch sagte ich einen Ton. Trotzdem merkte Traudl, dass es mir nicht gut ging. Anstelle meiner Zeitung reichte sie mir einen Becher heißer Schokolade und eine Packung Taschentücher durch das kleine Fenster. „Ein Mann?“ erkundigte sie sich und ich nickte. An diesem Tag verpasste ich nicht nur eine U-Bahn. Ich verpasste mindestens fünf und lernte einen Menschen kennen, der mich jetzt seit über fünf Jahren begleitet. Traudl weiß sehr viel über mich. In kleinen Häppchen, erzählen wir uns, was uns beschäftigt und uns wichtig erscheint. 4 Minuten reichen uns dabei selten. An den „Traudl-Tagen“ verpasse ich meistens meinen Anschlusszug. Wie könnte ich sie auch unterbrechen, wenn sie mir von ihrer Schilddrüsen Operation oder den gesundheitlichen Problemen ihrer fast hundert jährigen Mutter erzählt? Sie ist ein Sammelsurium an Münchner Anekdoten. Kennt das Viertel wie ihre Westentasche und hat das herrlichste und lauteste Lachen, das ich kenne. Wen Traudl in ihr großes Herz geschlossen hat, kann sich glücklich schätzen. Er findet immer ein offenes Ohr und fühlt sich, nach einem kurzen Gespräch mit ihr, glücklicher und verstandener als zuvor. Wenige Augenblicke reichen dieser über siebzig jährigen Frau für eine knappe und messerscharfe Analyse ihres Gegenübers. „Heid gehst amoi wieder hoam, zum Bappa. Des muas ausgredt wearn.* “ Sagt sie mir bei Familienchaos und ich weiß, sie hat recht. Oder „Jetza ruaf eahm oh!** Der wart´ doch drauf.“ Wenn ich mich nicht traue den ersten Schritt zu mache.

Aki und ich kamen ins Gespräch, als ich mein Buch der Woche, auf den Tresen knallte. Er griff danach. „Fontane? Ey cool, der Alte.“ Kein Witz, das waren seine Worte. Für Aki war Fontane ein cooler Alter. Ich nickte und grinste ihn (arrogant, wie er mir Monate später vorhielt) an. Ich ließ ihm das Buch da. Nach einer Woche gab er es mir zurück. Effi und der Alte. Das ginge ja mal gar nicht, meinte Aki. Aber cool, der Alte (diesmal war Fontane gemeint). Trotzdem nicht so seines, aber das erste Buch, dass er seit Jahren gelesen hätte. Wer sich mit Anfang zwanzig, mir zu liebe, durch Effi Briest quält, hat mein Herz erobert. Im letzten Jahr fütterte ich Aki mit „Schöne neue Welt“, „Geschlossene Gesellschaft“ von Sartre, „Die Farm der Tiere“ von Orwell, „Mobby Dick“ und einigen Büchern mehr. Er hat sie alle gelesen und revanchiert sich mit USB Sticks voller Musik, die teilweise richtig schlimm und oft genial ist.

Aki ist mein adoptierter kleiner Bruder. Hilde meine 4 Minuten Tratsch-Schwester im Geiste und Traudl…ach Traudl ist mir so vieles! Heute sagte sie mir, das der Kiosik Ende nächster Woche schließen würde. Ein Backshop käme hinein. In der U-Bahn habe ich geheult. Ohne die Drei in die Woche zu starten erscheint mir unmöglich. Erst seit heute morgen weiß ich, wie wichtig sie mir geworden sind.

Hochdeutsch:
*Heute gehst du mal wieder nach Hause, zu deinem Vater. Darüber muss gesprochen werden.
**Jetzt ruf ihn an!

13 Gedanken zu “Vier Minuten Gespräche (aus dem Archiv 01.10.2015)

  1. ach wie wunderschön und traurig zugleich. es tut mir sehr leid, dass du dieses ritual verlierst – auch wenn ein neues kommen wird, ist es nicht dasselbe. es sollte mehr traudls auf der welt geben.
    und geschlossene gesellschaft, das mochte ich sehr.

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  2. Ich glaube, das war der erste Text den ich hier gelesen habe, der hat mich so beeindruckt, daß ich in noch gut in Erinnerung habe. Damals wußte ich gleich: Das hier ist was Besonderes, hier mußt du folgen.

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    1. Mir gings genauso. Weiß nicht, was ich damals kommentiert habe, aber der Definition des Dudens muss ich widersprechen, weil viel zu negativ. Routinen sind nötig, sonst könnte man so etwas kompliziertes wie Autofahren etwa gar nicht.

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  3. Heute beim Friseur in Auto-Motor-Sport nicht gelesen, sondern geblättert. Ein Mann wie ich gibt sich mich wenig zufrieden. 6, 8 oder 12 Zylinder, das reicht.
    Schwangerschaften, Cellulitis und Heii Klum müssen nicht sein … 😉

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  4. Backshops sind in jeder Hinsicht langweilig, im Gegensatz zu deinen Geschichten! Eins macht mich allerdings immer wieder stutzig, ihr Süddeutschen seid so gesprächig 😀 Bei uns würde es schlichtweg bei jahrelangem zu nicken bleiben (aber wir sind nicht herzlos, dass würde uns auch fehlen!)

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