Man sollte einen Mann lieben oder zumindest bis über beide Ohren verliebt sein, wenn man mit ihm, seinen Vater und der Stiefmutter in einen Urlaub zu viert aufbricht. Das ist hilfreich. Dann lässt man sich mit einem Du und ich, Sonne, Strand und Meer locken und ignoriert den Nebensatz, der die weiteren Reisebegleiter aufzählt. Wenn ich an den Herbst vor einigen Jahren zurück denke, dann muss ich gestehen, dass ich auch die Einleitung nicht aufmerksam verfolgte. Ich hörte nur „Sonne, Strand und Meer“ und nickte, was am Telefon nur schwer zu hören war. Es war egal, denn die Frage wurde von einem gestellt, der keine Antworten erwartete und grundsätzlich davon ausging, dass eine Frau ihm zustimmte. Tat sie es einmal nicht, dann mutmaßte er, dass sie ihn akustisch wohl nicht verstanden hatte. Sonne, Strand und Meer waren genau das Richtige für diesen trüben Oktober, der sich nun schon seit fast einem Jahr hinzog und nur selten goldig glänzte.
Ich sei genauso seltsam wie er, sagte mir Ben und weil ich ihm weder widersprechen konnte, noch wollte, nickte ich an dem Abend, als ich ihn kennen lernte. Dass Minus mal Minus in unserem Fall sicher kein positives Ergebnis hervorbringen würde, ignorierte ich großzügig. Er war Mathematiker und würde die Formel sicher entsprechend umstellen können. Ich stellte gar nichts um, in diesem Herbst. Mich machte es schon nervös, wenn meine Zahnbürste im linken statt im rechten Becher stand. Ich war mit der Aneinanderreihung einzelner Atemzüge beschäftigt und war Ben dankbar, dass er nicht viel mehr erwartete. Er konnte stundenlang vom Kosmos erzählen und ich verlor mich in Paralleluniversen, der Hitze des Urknalls, Zeitschleifen und der Expansion des Alls, während mein eigener Mikrokosmos seit Monaten nur lauwarm war und ich mich fragte wie er ohne jede Kraftaufbringung meinerseits im Gleichgewicht bleiben konnte. Aber eigentlich war es mir egal. So egal, wie mit meinem Freund und seinen Eltern in Urlaub zu fahren. Hauptsache Sonne, damit mir endlich wieder warm wurde.
Als wir ankamen gab es keine Sonne. Sie war hinter ein dicken Wolkendecke. Es gab auch kein Meer. Es gab nur eine graue Suppe, auf die ich nicht gerne blicken wollte. Stattdessen blickte ich auf einen Mann, der sein Gemüse in winzige Stücke zerteilte, bevor er es in den Mund schob. Ich blickte auf eine alternde Geliebte, die krampfhaft versuchte den Urlaub dazu zu nutzen, als Gewinnerin zu verlassen und einem Vater-Sohn-Gespann, das sich seit Jahren nichts mehr zu sagen hatte. Am zweiten Tag schwor ich mir, Ben die Gabel aus der Hand zu schlagen, wenn er die Zucchini ein weiteres Mal teilte. Ich tat es nicht. Am dritten Tag ertappte ich mich bei dem Wunsch der Stiefmutter zu sagen, wie erbärmlich bemüht sie doch wirkte und stellte am vierten Tag die Verwandtschaft von Vater und Sohn in Frage. Gesagt habe ich nichts. Ich wunderte mich nur, dass mich etwas störte, weil mich schon lange nichts mehr wirklich gestört hatte. Man sah es mir nur an. Das Wundern und das Stören. Vater und Sohn blieben stumm. Die Stiefmutter nicht. Im Nieselregen an der Strandpromenade erkundigte sie sich gehässig, ob mir klar sei, dass ich nicht die Letzte für Ben sein würde. Dass es andere geben würde. Kein Wunder, wie sie anfügte, ich tat ja nichts. Nicht lachen, nicht reden und überhaupt, ich sei so lau. Ich atmete. Aber das verstand sie nicht. Auch nicht, dass das anstrengender war als so manches. Wären mein Koffer und meine Gedanken nicht so schwer gewesen, wäre ich längst nach Hause gefahren. So blieben wir. Sie und ich und die anderen beiden. Der Regen hörte auf, aber es wurde nicht richtig warm. Es war lau.
Lauwarm entspricht nicht meiner Betriebstemperatur. Ich blieb den Rest des Urlaubs, aber schon am Flughafen saß ich alleine. Ben brachte ich etwas zu essen. Es war lauwarm. So lauwarm wie das mit uns, sagte ich ihm und war mir nicht sicher ob er verstand was ich meinte. Bevor wir uns nicht mehr sehen sollten, wuchtet er noch meinen Koffer vom Gepäckband, drückte mir förmlich die Hand und wünschte mir alles Gute. Das tat auch mein Chef, als ich eine Woche später kündigte. Meine Kollegin hatte mich darauf hingewiesen, dass ich wiederholt schief gelocht hatte. Ich nickte, stand auf und kündigte. Da nützt ein ganzes Studium nichts, wenn man zu blöd zum Lochen ist. Gekündigt habe ich dann auch noch meine Wohnung. Ich war nicht mehr lau. Mir war wieder kalt. So kalt, dass ich für den Winter eine Badewanne brauchte. Es gut zu frieren. Dann besteht die Chance, dass einem wieder warm wird.
Ben schrieb mir letzte Woche. Ob mir wieder warm sei? Ich überlegte kurz und antwortete dann mit „ja“ und „geht´s wieder?“. Auch von ihm ein „ja“. Wir sind nicht befreundet und waren es nie. Das zwischen uns war eine lauwarme Sache. Aber eine wichtige. Ich atmete und er referierte stundenlang über Gott und die Welt, weil er Stille nicht ausgehalten hätte. Für eine Weile mussten wir in dieser lauwarmen Suppe schwimmen. Wenn ich jemals wieder weder kalt noch warm empfinden kann, dann rufe ich Ben an und bitte ihn, mir etwas über den Urknall zu erzählen. So etwa ein halbes Jahr lang, wäre dann schön. Nächstes Jahr bin ich dran. Dann frage ich ihn ob er ohne Radio und TV einschlafen kann. Wenn er mit nein antwortet, fahre ich vorbei. Wir sind nicht befreundet. Bei den wichtigen Fragen ist das manchmal auch nicht nötig.
es gibt bekanntschaften, die einen auf eine seltsame art und weise über phasen retten. die irgendwie wichtig sind, obwohl sie nicht einmal gut sind. aber sie sind da und in manchen zeiten ist es das einzige, das zählt.
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Das denke ich auch. Und das macht sie nicht einmal weniger wertvoll.
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absolut!
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„Ich atmete“, ist in seiner Kürze doch ein kompletter Satz, mit dem du sehr viel umschrieben hast, liebe Mitzi. Über den Vorwurf, du hättest schon wieder schief gelocht, musste ich schmunzeln. Sowas kann man sich nicht ausdenken.
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Wenn das kein Kündigungsgrund ist, nicht wahr? Ich hörte es über Jahre. Es war tatsächlich der hauptsächliche Grund. Schwer zu glauben, heute nach all den Jahren muss ich darüber auch lachen.
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Ein gelungener Urlaub, würde ich sagen. Stellen Sie sich vor, Sie wären mit Ben alleine gefahren. Es wäre wohl nicht auszuhalten gewesen … 🙂
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Da haben Sie sicher Recht. Es brauchte noch ein warnendes Beispiel 😉
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