Glück mit Strauchtomaten

Ich fürchte mich vor dem Moment, in dem sie feststellen, dass ich eigentlich gar nichts kann. Das denke ich mir seit gestern und es erinnert mich an einen Moment vor etwa fünfzehn Jahren, an dem mir ähnliches schon einmal durch den Kopf schoss.

Ich weiß noch, dass es ein ungewöhnlich warmer Oktobernachmittag war, als ich an der Trambahn Haltestelle saß und mein Diplom in Händen hielt. Mitzi Irsaj hat die Diplomprüfung mit dem Gesamturteil gut bestanden, stand auf schwerem beigen Papier und ich lehnte mich erleichtert und ungläubig zurück. Ich war durchgekommen, ohne dass man merkte, dass ich eigentlich überhaupt keine Ahnung von gar nichts hatte. Ich und BWL. Das war ein Witz. Nicht mal ein besonders guter. Ich rief meine Eltern an, teilte ihnen mit, dass ich mein Studium offiziell und erfolgreich beendet hatte und schwor mir, ihnen die Details dieses Zeugnisses niemals zu zeigen. Ich fürchtete mich davor, dass sie feststellten, dass ich eigentlich gar nichts weiß und mein Abschluss völlig unverdient ist.

Mehrere Trambahnen fuhren an mir vorbei, während ich immer wieder die wenigen Zeilen überflog. Mitzi Irsaj hat aufgrund eines ordnungsgemäßen Studiums die Diplomprüfung im Studiengang Betriebswirtschaft abgelegt und bestanden. Das die FH München mein Studium als ordnungsgemäß bezeichnet, überraschte mich. Vermutlich unterstellte man mir eine gewisse Ordnung weil ich zu selten anwesend war, um Unordnung in den Universitätsalltag zu bringen. Die erste Seite konnte ich für zu Hause kopieren und behaupten, dass so ein Diplom eben nur aus einer Seite besteht. Den Innenteil konnte ich unmöglich präsentieren. Wenn sie mich gefragt hätten was mit „Methodenkompetenzen“ gemeint ist, ich hätte es ihnen nicht erklären können. Unter uns, ich war bei den Methodenkompetenzen nie anwesend. Maja, ein russischer Engel hat über zwei Semester für mich in der Anwesenheitsliste unterschrieben. An den Freitagnachmittagen war ich in der Regel bereits im Zug in Richtung Italien oder arbeiten. Ich muss wohl auch ein Fach über das „Wirtschaftssystem Frankreichs“ besucht haben. Ob es sich von dem deutschen Wirtschaftssystem unterscheidet? Keine Ahnung. Ich war nur zu den Prüfungen anwesend und wie ich die sogar noch gut abgelegt habe, ist mir damals wie heute ein Rätsel.

Überhaupt fragte ich mich an diesem Tag, wie ich die einzelnen Fächer bei einem so ausgeprägtem Desinteresse überhaupt bestehen konnte. Volkswirtschaftslehre zum Beispiel. Von dieser Vorlesung ist mir  in erster Linie in Erinnerung geblieben, dass ich in der vollbesetzten Aula eine Aspirin in meine Flasche kohlensäurehaltiges Mineralwasser bröckelte und mir eine solche Fontäne entgegen schoss, dass mich der Professor mit hochrotem Kopf rausgeworfen hat.Auch im Statistik Kolloquium wurde ich gebeten, den Raum zu verlassen, nachdem ich hysterisch zu heulen begann und lautstark anmerkte, dass kein Mensch diesen Scheiß verstehen geschweige denn brauchen würde. Auf den Stufen vor dem Saal sitzend, fragte ich mich ob sie mich ganz von der Uni schmeißen würden, weil spätestens jetzt der Letzte begriffen haben musste, dass ich für die meisten Fächer einfach zu blöd war. Dass ich mich zwei Tage später für genau den Schwerpunkt eingeschrieben habe, in dem die meisten durchfielen, lag nur daran, dass mich der Rest noch weniger interessierte. Ich erinnere mich, dass ich ungläubig auf das „sehr gut“ hinter dem Fach „Betriebliche Steuern“ geblickt habe. Ich wusste nicht mal welche Steuern den nun betrieblich sind. „Sehr gut“ stand auch bei den Schwerpunktfächern im Bereich Marketing. Multiple Choice ist das Lotto der Dummen und ich hatte  sechs Richtige mit Zusatzzahl.

An diesem Nachmittag log ich meine Freundin an, als sie mich nach dem endgültigen Schnitt fragte. Ich setzte ihn um eine ganze Note nach oben und verschwieg auch das „sehr gut“ der Diplomarbeit. Obwohl ich mich bei dieser Arbeit ins Zeug legte und mich wirklich für das Thema interessierte war die Note wieder Glück. Ich schrieb die Arbeit ausgerechnet bei dem Professor, der am ganzen Campus als besonders streng verschrien war. Ich ging zu ihm, weil sein Büro auf dem Weg zur Mensa lag. Das kann man doch niemanden erzählen, der voll Elan und mit viel Einsatz studiert hat und am Ende doch nur ein mäßiges Zeugnis erhalten hat. Auch nicht, dass ich mit ihm weder das Inhaltsverzeichnis noch das Thema im Detail besprochen hatte. Ich bin Realist genug um zu wissen, dass ich nur mit Glück genau den Nerv des verschrobenen Kerls getroffen hatte. Eine Themaverfehlung wäre durchaus ebenso möglich gewesen. Vor allem wenn man über die  Erfolge und Absatzpotentiale von Lebensmitteln Discountern – Italien und Deutschland im Vergleich nur deswegen schreibt, weil man eine Rechtfertigung braucht um sich für zwei Jahre nach Italien abzusetzen.

Bei allem was ich nach dem Studium gemacht habe, habe ich mich angestrengt und beruflich nichts mehr auf die leichte Schulter genommen. Ich bin überzeugt davon, dass man nur einmal im Leben so viel Glück hat, gute Noten und Beurteilungen nachgeschmissen zu bekommen. Und obwohl ich mich über dieses Glück  freue, beschämt es mich, wenn mir mein Diplomzeugnis in die Hand fällt. Dann fürchte ich mich noch heute davor, ein Schreiben von der FH zu bekommen, in dem man mir mitteilt, dass das alles ein großer Irrtum war und man festgestellt hätte, dass ich nun wirklich keine Ahnung von Betriebswirtschaftslehre habe.  Von Lebensmitteln Discountern übrigens schon. Kaufen sie ruhig die holländischen Strauchtomaten. Die aus Sizilien, kommen überwiegend auch aus Holland und werden nur zum Verpacken quer durch Europa gekarrt. Das ist doch albern.

 

 

 

 

32 Gedanken zu “Glück mit Strauchtomaten

  1. Ich verstehe dich. Wenn auch bei mir auf andere Art, ist es ähnlich: Neulich hielt ich meine Diplomarbeit in den Händen und fragte mich, wie ich jemals so kluge Dinge schreiben konnte. Heute bin ich wohl zu praxisorientiert 😉

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  2. Diese Gefühle und Erinnerungen aus der Studienzeit sind nach längerer Zeit gegenwärtig und finden hier gut gestalteten Ausdruck. Lektüre zur Schulzeit: Walter Kempowski, „Immer so durchgemogelt“. Später: Wolf Wagner, „Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie Studieren und sich nicht verlieren“.

    Das Herumkarren nicht nur der Strauchtomaten finde ich ebenfalls albern. Wunsch: Wenn ich schon nicht saisonale Tomaten aus meiner Region bekomme – was im Winter und Frühjahr ziemlich normal ist -, dann wäre es doch verbraucherfreundlich, Herkunft plus Verpackungsort auszuzeichnen. Falls dies nicht gesetzlich vorgegeben wird, was ich begrüßen würde, könnten sich Anbieter auch freiwillig betätigen und sich damit selbst auszeichnen.

    Viel Glück weiterhin mit dem Diplom!

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    1. Bei der klaren Kennzeichnung bin ich ganz bei dir. Es ist schier unmöglich geworden zu wissen, was woher kommt. Ich glaube, es ist noch zu vielen Leuten auch einfach egal, was sie konsumieren.
      Immer so durchgemogelt, hatte ich schon mal in der Hand. Vielleicht komme ich einmal dazu.

      Danke für die Glückwünsche – es ist nun 15 Jahre her und lief ganz gut.

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    1. Um Gottes Willen – bloß keine Ehrlichkeit ;).
      Das sind Fragen die man sich selbst stellt. Und die Methodenkompetenz werd ich bei Gelegenheit googeln – mal sehen ob ich so was habe.

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  3. Hallo Mitzi, dieser Artikel hat mich wieder einmal sehr gut unterhalten und außerdem sehr an mein eigenes BWL Studium, allerdings an der LMU in München, bis zum Vordiplom erinnert. Da ich schon bei einem Trainee-Programm bei Daimler, bei dem man im Kostüm erscheinen mußte mußte, gemerkt hatte, dass das nix für mich ist, habe ich vorzeitig das Handtuch geschmissen, obwohl ich die Prüfungen zwar auch alle gut, aber mehr aufgrund der vielbezahlten ,,Reps“. bei denen man die Aufgaben quasi schon vorher lösen konnte (wie DU vermutlich weißt) bestanden habe… Medizin war dann schon eine größere Challenge.. Aber letztendlich stehe ich als promovierte Ärztin mit zwei Fachärzten und ein paar Zusatzbezeichnungen vor Dir, die ich Dir an dieser Stelle erspare 😉 vor Dir… Deshalb sage ich Dir: Da geht immer noch was… Und so ist es oft im Leben! Bisous, Nessy

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    1. Da sieht man wieder, liebe Nessy, dass manche Umwege nötig und wichtig sind. Mindestens einmal ist es völlig in Ordnung das Studienfach zu wechseln.
      Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!

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  4. Liebe Mitzi,
    mir kannst du nichts vormachen. Wenn es stimmt, was du hier alles über dich mitteilst, dann müssen wir uns vor deiner überragenden Intelligenz in Acht nehmen. Ich kannte eine wie dich sehr gut. Sie war auch geschickt im Tiefstapeln, versteckte sich gern hinter einem geseufzten „keine Ahnung“, steckte aber, wenns ihr drauf ankam, mit ihrer praktischen Intelligenz alle in die Tasche, selbstverständlich auch mich.

    Dabei ist es absolut beruhigend zu wissen, dass du in Vorlesungen nicht im Business outfit in der ersten Reihe gehockt und getreulich alles mitgeschrieben hast, um nachher als gewissenlose BWL-Tusse in der Unternehmensberatung Karriere zu machen. Danke übrigens für den Tomaten-Tipp. Und herzlich Grüße,
    Jules

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    1. Ertappt, lieber Jules. Eine BWL Tussi ist zum Glück nicht aus mir geworden. Und mitgeschrieben habe ich damals noch in Steno – leider konnte ich einen Großteil davon schon einige Wochen später selbst kaum noch lesen 😉

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  5. Hach ja. Ich finde diesen Post herrlich erfrischend – vielen lieben Dank für den Morgenschmunzler 🙂
    Ich habe ja nie studiert, frage mich aber trotzdem, wie ich zu einem Abschlussdiplom mit „Sehr gut“ in meiner Ausbildung kam. Meine Mum wurde vorbereitet: In der letzten sogenannten „Elternversammlung“ wurde ich namentlich genannt als die Beste der Klasse (in jüngeren Jahren wurde man für sowas verkloppt :)). Und die Mutter meiner Freundin sagte zu Hause zu meiner Freundin: „An die musste dich halten, die ist sehr gut!“
    Ich hab mich sowas von geschämt, dann haben wir beide herzlich gelacht und Schokoladenkekse im Unterricht ausgepackt! 😀

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    1. Eine schöne Erinnerung – die Schokoladenkekse 🙂
      Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass es in der Schulzeit nicht erstrebenswert war, Klassenbeste oder Lehrers Liebling zu sein. Allerdings war ich von beidem weit entfernt.

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  6. Ach. Wir können doch alle gar nichts. Eigentlich. Aber das können wir echt gut. 🙂
    Ich kommentiere den Sachverhalt des Eigentlichgarnichtskönnens oft lakonisch mit: ‚It’s only human!‘ Dumm nur, wenn jemand das als ‚it’s only you, man‘ missversteht. 😉 [Das gibt dann so hässliche Kratzer im Selbstpferdgewühl]
    Passend zum Strauchtomatenwahnsinn, und weil die Tomate ja ein Nachtschattengewächs ist, noch ein schattiger Nach(t)gedanke: Es ist für mich erschreckend, wie viel die einzelnen Menschen können und wie wenig wir als Menschheit damit hinbekommen.

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      1. Manchmal antworte ich auf die Frage ‚gibt es intelligentes Leben im Universum?‘: Ich wäre zumindest froh, wenn man auf der Erde endlich welches fände. In Wirklichkeit ist allerdings nicht die fehlende Intelligenz das Problem, sondern die fehlende Fähigkeit, intelligent damit umzugehen. Dummheit ist nicht das Schlimmste. Der ‚handelsübliche Depp‘ (aka Dodel) ist weniger gefährlich als unintelligente Anwendung hoher Intelligenz.

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      2. Ja, die klugen Zitate. Wenn man sie EINMAL brauchen könnte sind sie nirgends aufzutreiben, die Hundlinge. 😉
        [Anderseits zeigt das ja, dass sie wirklich klug sind, die Zitate. Sie glänzen durch Uneinfallbarkeit und zwingen einen, selber zu denken.]

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  7. Nun gut … wohin uns die moderne Betriebswirtschaftslehre – oder besser die Betriebswirtschaftsleere – hinführt, können wir nicht nur an holländischen Strauchtomaten tagtäglich bewundern …

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