Herr Meier geht fremd

Wenn der alteingesessene Münchner sein eigenes Viertel verlässt, dann nennt er sein Ziel selten beim Namen. Der Giesinger zum Beispiel, verkündet nicht, dass er in die Altstadt radelt – er fährt „rein“. Rein in die Stadt. Dass es sich um die Innenstadt handelt, ist anderen Giesingern dabei völlig klar. Der Giesinger fühlt sich in seinem eigenen Viertel nämlich so wohl, dass er die anderen Stadtteile weitestgehend ignoriert. Das Zentrum, die Altstadt ist ein Sonderfall – die mag der Giesinger. Weitere Ausnahmen sind die angrenzenden Viertel. Nach Harlaching geht man „hoch“ weil man sich die Isar betrachtend flussaufwärts bewegt. In die Au „runter“ – weil der Obergiesinger ein Bergerl runter muss und für den Untergiesinger die Au flussabwärts liegt. Und in das Glockbachviertel gehen wir „rüber“, weil hier die Isar überquert wird. Weitere Ausflüge innerhalb der Stadt unternimmt der Giesinger eher selten und ist ausnahmslos immer froh, wenn er wieder daheim ist. Abgesehen von dieser kleinen Absonderlichkeit zeichnet sich der Giesinger unter den Münchner als besonders aufgeschlossen und neugierig aus. Neues gefällt ihm. Vorausgesetzt man setzt es ihm vor die Nase und er muss nicht raus, runter, rüber oder es handelt sich um etwas, das nach Schwabing oder Maxvorstadt riecht. Da hat der Giesinger eine empfindliche Nase.

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Kontrollverlust

Denken Sie noch manchmal an die Pandemie? An Corona und wie es damals gewesen ist? Ich ja. Im Sommer ganz besonders. Nicht täglich, aber immer wieder. Weniger an Jens Spahn und seine Maskenaffaire, aber durchaus an die Auswirkungen, die diese Ausnahmezeit auf mein künftiges Leben hatte. Man möchte meinen, dass ich als allein wohnende Person mit einem Job der nicht von der Pandemie betroffen war und ohne schulpflichtige Kinder, recht gut durch die diese Zeit gekommen bin und das stimmt auch. Aber danach, als die meisten wieder ganz normal arbeiten konnten, die Kinder vormittags wieder aufgeräumt waren und das Leben wieder normal wurde – da hat es mich erwischt. Vor allem meinen Keller. Dort stampeln sich zwar keine, zu teuer erworbenen Masken, dafür aber Gläser. Und das ist ein Problem. Nicht Ihres, aber meines. Und deshalb müssen Sie sich jetzt anhören, welch katastrophale Auswirkungen Corona noch heute auf uns (also mich) hat.

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Franziska

Am 31. Dezember wird Franziska 90 Jahre alt. An diesem Tag werde ich ihr, sofern es sein soll, einen Kuchen vorbeibringen und mit ihr gemeinsam ein Gläschen Sekt trinken. 90 Jahre sind ein stolzes Alter und ein Grund zu feiern. Vielleicht werde ich Franziska dieses Jahr Silvester aber auch an einem anderen Ort besuchen müssen. Auch das wäre in Ordnung. Nur nicht mit ihr anzustoßen zu können, das wäre traurig.

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Trampeltier – mittelalt

Ich bin eine mittelalte Frau. Wenn Sie meine Erzählungen und mich schon etwas länger verfolgen und über rudimentäre Kenntnisse der Mathematik verfügen, dann können Sie sich in etwa vorstellen, wie alt ich bin. Nicht alt, aber mit etwas Realismus betrachtet, in der zweiten Lebenshälfte. Das ist okay. Die Alternative wäre, dass ich nicht mehr am Leben bin und das käme mir doch recht ungelegen. Ich hänge nämlich sehr am Leben. Auch an meinem mittelalter Leben. Nur eine Sache, die geht mir wahnsinnig auf die Nerven. Mein mittelalter Körper neigt seit einiger Zeit dazu unkontrolliert zuverfetten. Seine Neigung in kürzester Zeit Fettpölsterchen (alleine schon das Wort…) an den denkbar ungeeigneten Stellen anzulegen, nehme ich meinem Körper wirklich übel. Es ist ja nicht so dass ich kurz nach dem vierzigsten Geburtstag angefangen habe, doppelt so viel zu essen. Ganz im Gegenteil. Ich esse wesentlich kontrollierter (trotzdem natürlich Genuss orientiert, Sie kennen mich) und gesünder. Trotzdem hat mein Körper sich entschieden mir jegliche, minimal über die strenge schlagenden, Exzesse nachzutragen. Das hat er auch früher. Aber da hab ich mich danach drei Tage am Riemen gerissen und hatte danach wieder das auf der Waage, was auch vorher dort stand. Das hat sich im übrigen auch jetzt gar nicht mal so wesentlich geändert, aber diese mir vertrauten Kilos sehen seit einigen Jahren anders aus. Nicht besser, wenn Sie wissen was ich meine. Und kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass ich froh sein soll, dass mich mein Körper gesund ist und mich stabil durchs Leben trägt. Das haben er und ich schon lange ausgehandelt: Ich kümmere mich um ihn und dafür funktioniert er. Nur die Verteilung dieser minimalen kleinen Fettpölsterchen ist eine Unverschämtheit. Weil ich schlau genug bin zu wissen, dass Hungern und Diäten kompletter Schwachsinn sind, haben mein Körper und ich (in erster Linie ich, also der Teil mit dem Verstand) beschlossen, dass wir uns wohl oder übel etwas mehr bewegen müssen. Wir haben jetzt ein paar Monate Diskussionen hinter uns und haben erkannt, dass für unsere Zwecke Yoga und ausgedehnte Spaziergänge alleine nicht mehr ausreichen. Angesichts des nahenden Sommers werden seit einigen Wochen härtere Geschütze aufgefahren.

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Herr Mu und der Frühling

Schön, sagt eine Freundin und lächelt, als sie die Tulpen auf meinem Tisch sieht. Ich nicke und wir schauen sie bestimmt eine Minute lang an ohne mehr als „schön“ zu sagen. Sie sind so schön, dass einem die Worte fehlen. Es liegt in der Natur des Frühlings, dass wir uns nach all der Dunkelheit und dem Grau nach Farben sehnen und jeden bunkten Klecks willkommen heißen. Diese Tulpen aber, sind trotz unserer ausgehungerten Sinne, die schönsten, die je in meiner Vase standen. So kräftig lila und gelb, mit fast Pfingstrosen großen Blüten und so herrlich welkend…..schön. Ich hätte sie dir gerne gezeigt.

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Frau Wolf zieht ein

Im Schnee liegt zwischen vertrockneten Christbäumen ein Usambaraveilchen. Sie gehören hier nicht hin. Weder die Christbäume noch das lila blühende Veilchen. Die Bäume wurden der Einfachheit halber nicht zur Sammelstelle gebracht, sondern auf die Wiese im Innenhof geworfen. Einer fängt an, ein Zweiter folgt und schon der Dritte vermutet, dass es sich um einen offiziellen Abgabeort handelt. Man kann ihm keinen Vorwurf machen, denkt sich der Vierte, der es besser weiß und seinen Baum deshalb erst im Dunklen auf die Wiese legt. Der Fünfte könnte ich sein, aber mein Baum steht noch auf dem Balkon. Vermutlich bis Mitte März. Bis dahin wird das Usambaraveilchen im Schnee nicht überleben. Bleibt es hier, zwischen den Bäumen, wird es sterben.

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Nächtliche Energiekrise

Ich gehe jetzt rüber! Mit Schwung schlage ich die Bettdecke zurück und setze mich auf die Bettkante. Wartend. Wenn man nachts um kurz vor drei Uhr ankündigt, zu den Nachbarn auf der ande, der neben einem liegt, davon abhält. Finden Sie nicht auch? Der meiner dreht sich auf die andere Seite und macht gar nichts. Ich gehe jetzt rüber, wiederhole ich und warte. Drei Atemzüge lang. Dann stehe ich auf und höre ein gemurmeltes „bis gleich“. Bis gleich? Ich verkünde ein drittes Mal, dass ich jetzt sofort, im Nachthemd und mit einer Stinkwut im Bauch an ein fremdes Fenster auf der anderen Straßenseite im Erdgeschoss klopfen werde. Der, der neben mir liegt schlägt jetzt endlich ebenfalls die Bettdecke zurück und setzt sich auf. Weiterlesen

Ohne ihn brennt´s nur halb so schön

„Iljana, komm raus“, fordert der alte Säufer mit rauer, noch nachtschwerer Stimme. Iljana, die mazedonische Aushilfe des vietnamesischen Schönheitssalons schüttelt lächelnd den Kopf. Sie kennt den Alten seit bald einem Jahr und hat sich daran gewöhnt, dass er morgens vor dem Laden sitzt und nach ihr ruft. Er ist eine treue Seele. Und wie man die meisten treuen Seelen gern hat, so mag man auch ihn. Man hat sich an seine kratzige Stimme und seinen schwankenden Schritt gewöhnt. Nach den ersten Schlucken aus der kleinen Jägermeisterflasche geht er gerader und man versteht ihn besser. Die meisten. Iljana nicht. Sie spricht noch immer kaum Deutsch, braucht es aber auch nicht. Letztes Jahr stand Iliana an der Kasse des vietnamesischen Backshops. Seit er schließen musste arbeitet sie im vietnamesischen Schönheitssalon. Iljana ist eine treue Seele. Ihr ist es egal, ob sie Semmeln abkassiert, oder Geld für frisch manikürte Fingernägel in die Kasse wirft. Ihre Arbeitgeber versteht sie noch schlechter als den Säufer, weil der ihr wenigstens nur einzelne Worte um die Ohren haut. Der vietnamesische Singsang dagegen gleicht einem nicht zu verstehenden Gemurmel. Auch für mich.

„Iljana“, schreit der Alte, „es brennt!“ Solange es draußen brennt, ist es nicht ihr Problem, sagt Iljana – glaube ich – und füllt meinen Becher mit heißer Milch. Weil die Kaffeemaschine aus dem Backshop noch nicht abgebaut ist, gibt es im Schönheitssalon morgens warme Getränke zu erwerben. Warum auch nicht. Der Säufer hat sich selbst etwas mitgebracht und öffnet im Türrahmen stehend den zweiten Jägermeister. Ich stell mich mit meinem Kaffee neben ihn und trinke draußen, weil es drinnen nicht mehr nach Gebäck sondern nach Lacken riecht. Seine Fingernägel sind gepflegter als meine. Es wundert mich, das einer, der so riecht, so schöne, alte Finger hat. „Schau, Iljana“, sagt er und meint mich. Ihm ist es egal,mit wem er spricht. So egal, wie ihm der Laden ist, vor dem er sitz. „Schau, Iljana, es brennt. So schön brennt es.“ Ich nicke und rufe nach Iljana. Auf der anderen Straßenseite steht eine Pappel. Ihre gelben Blätter brennen im Sonnenlicht des Herbstmorgens. Der Baum ist wunderschön. Zu schön um ihn nicht anzusehen.

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Herbst…ganz normal, sagt Herr Mu

Bist traurig, fragt mich Herr Mu und ich schüttle den Kopf. Nein, murmle ich und lasse mich neben ihn plumpsen. Das Holz der Bank ist Sonnenwarm und ich mache es wie Herr Mu. Schlüpfe aus meinen Schuhen und wackle mit den nackten Zehen. Seit einigen Monaten sitzt er wieder an der Bushaltestelle und macht es sich dort fast jeden Tag gemütlich. Herr Mu wartet nicht auf den Bus. Herr Mu wartet auf Menschen aus der Nachbarschaft, mit denen er sich für ein paar Minuten unterhalten kann. Und wenn einer wie ich kommt; einer der eigentlich reden will, aber nichts zu sagen hat, dann ist Herr Mu einfach da und erwartet nichts. Drei Busse fahren vorbei und ich beobachte wie Leute aus- und einsteigen, während ich einfach in der Sonne sitzen bleibe und den abgeblätterten Nagellack an meinem großen Zeh ins Licht halte. Herbstwarm ist es, sage ich nach dem vierten Bus und der alte Mann nickt. Still liest er seine Zeitung und schaut nur kurz auf. Und trotzdem wird´s schon kälter, rede ich weiter, weil ich so gerne etwas sagen möchte aber selbst nicht weiß was. Der Nagellack an den anderen Zehen blättert auch ab merke ich und stelle fest, dass mir das aber heute völlig egal ist. Nicht wirklich kalt, fange ich wieder an. Heut ist es ja richtig warm, aber unter dem Warm, wird´s schon kalt. Es herbstelt und obwohl der Herbst nach dem Sommer so schön ist und ich mich wirklich darauf freue, kommt er doch ein bisschen arg schnell, finden Sie nicht? Herr Mu faltet seine Zeitung zusammen und legt sie neben sich. Ein paar Minuten lang sagt er nichts, grüßt mit einem Nicken einen Nachbarn und lehnt sich dann zurück. Ob ich das Wetter meine, will er wissen und es dauert ein bisschen, bis ich den Kopf schüttle.

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Giesing – bin ich!

In regelmäßigen Abständen erzähle ich meinem Vater, welche unserer ehemaligen Nachbarn noch immer im Haus meiner Kindheit leben. Obwohl wir dort schon lange nicht mehr wohnen, ist es noch immer unser Haus. Vor allem meines. Ich wuchs dort auf und kenne den Hof, das Treppenhaus und jeden Winkel im Keller vermutlich besser als meine Eltern. Dennoch ist es auch für sie noch immer „unser Haus“ oder zumindest das Haus, in dem sie vor vielen Jahren eine Familie gründeten. Auch wenn wir behaupten, dass es egal ist – wir freuen uns, dass sich einige Namen auf den Klingelschildern über all die Jahre nicht geändert haben. Es wäre seltsam, wenn in „unserem Haus“ nur noch Fremde wohnen. Und das obwohl uns selbst die vertrauten Gesichter von früher, längst fremd geworden sind. Das Haus ist nicht schön. Schlicht, unspektakulär und mit einem scheußlichen Hof, der während unserer Zeit aus Garagen und Beton bestand und erst lange nach unserem Auszug begrünt wurde. Als Kind war es mir egal. Über die Dächer der flachen Garagen konnte ich in die anderen Höfe klettern und das Grau wurde durch die Menschen, die in ihm lebten bunt genug. Außerdem hatten wir eine Hecke. Für meine Mutter ein Witz, für mich völlig ausreichend, um den Wechsel der Jahreszeiten vom Fenster meines Kinderzimmers aus zu beobachten. Zumal man in Untergiesing die Isar ihre weitläufigen Grünanlagen vor der Nase hatte und jede Gelegenheit nutzte das Blickfeld der Eltern zu verlassen. Wenn ich heute vor dem schmalen Haus stehe und in den Hof blicke, dann ahne ich, dass dieses Viertel mich mehr geprägt hat, als ich mir selbst eingestehen möchte. Mehr als einmal hätte sich die Gelegenheit ergeben, in ein anders Viertel zu ziehen. Eines das schicker, aufregender oder moderner war. Ich bin geblieben. Und war ich doch einmal weg, dann bin ich zurück gekommen. Heute vermute ich, dass das Kind in mir, trotzig gegen neues protestierte und stur auf das Vertraute und Bekannte bestand. Es bekam seinen Willen. Damals wie heute. Das Viertel betreffend. Meine Eltern zogen erst um, als ich meine erste eigene Wohnung mietete.

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