Januarort

Am 6. Januar wäre meine Großmutter 107 Jahre alt geworden. Obwohl sie sich anstrengte und ich insgeheim der festen Überzeugung war, dass sie die 100 locker schaffen würde, kam es nicht dazu. Leider, denn ich vermisse sie noch heute und hätte ihr gerne das ein oder andere erzählt. Auch zugehört hätte ich ihr sehr gerne noch einige Jahre mehr. Am liebsten aber, würde ich noch einmal im Winter auf dem Kanapee ihres kleinen Zimmers sitzen und gar nichts machen – bei ihr war es leicht. Nichts zu machen, ist eigentlich nämlich gar nicht leicht. Ganz im Gegenteil, nichts zu machen erfordert ein angeborenes Talent, jahrelange Übung oder einen Ort, der es einem ermöglicht einfach nur zu sein. Weiterlesen

Ein Schatz

Meine Großmütter haben mir in meiner Kindheit viel erzählt. Geschichten um Geschichten aus dem Fundus ihrer Erinnerungen. Keine von beiden dachte sich je etwas aus oder las mir ein Märchen vor.  Die Erzählungen meiner Großmütter bestanden ausschließlich aus ihren Erinnerungen. Beide berichteten am liebsten von ihren großen Lieben. So weiß ich, dass der Martl, der Martin, die erste große Liebe meiner Großmutter mütterlicherseits war. Sie hat uns Kinder oft von ihm erzählt. Ich kann mich an ihre leuchtenden Augen und das warme Lächeln erinnern, wenn sie von ihm berichtete und erzählte wie schwer es mit einem ledigen Kind war. Er ist ihr weggestorben noch bevor sie ihn heiraten konnte, auch das wusste ich, und dass sie ihn nie vergessen konnte, war mir leicht zu verstehen. Die erste Liebe bleibt immer eine ganz besondere. Sie hat uns so oft von ihm erzählt und doch nicht alles. Oder ich kann mich nicht mehr richtig erinnern. Seltsamer Weise verschwinden die Details bei Erzählungen, die man besonders oft hört, am leichtesten. Gestern Abend hat sie es mir noch einmal erzählt. Ganz in Ruhe und ganz ausführlich. Hat erzählt und sich erinnert: Weiterlesen

Duft-Atom

Ich wache auf und das Bett riecht nach dir. Dein Geruch haftet im Stoff der Kissenbezüge und hüllt mich ein. Sinnlos den Kopf unter der Decke zu vergraben, denn auch sie riecht nach dir. Das ganze Schlafzimmer riecht nach der, für dich so typischen, Mischung aus After Shave, einem Hauch kaltem Rauch und einer erdigen Note, von der ich bis heute nicht weiß, wie sie in deine Haare gelangt ist. Obwohl ich mir schon oft klar machte, dass es unmöglich ist, dass auch nur ein einziges winziges Atom von dir an meiner Bettwäsche haften geblieben ist, rieche ich dich. In machen Nächten wache ich auf, weil auch mein Unterarm, den ich unter meine Wange geschoben habe, nach dir duftet. Dann muss ich aufstehen und duschen. Mit dir auf dem Körper kann ich nicht wieder einschlafen. Weiterlesen

Danzt hob i für mei Lebn gern

Meine Großmutter tanzte für ihr Leben gern. Das tat sie bis ins hohe Alter. Selten freilich, weil die Beine nicht mehr so wollten, aber manchmal hat es sie noch gepackt. Um genau zu sein packte sie ihr Enkel. Ein Brackel von einem Kerl. Kräftig genug um die winzige Frau in seinen Armen über das Parkett zu heben und ein so guter Tänzer, dass meine Großmutter nicht widerstehen konnte. Dann staunten die Urenkel und wenn sie erschöpft zurück auf den Stuhl sank. Verlegen hob sie dann die Hände und meinte, dass sie nun wirklich zu alt dafür sei. Aber sie strahlte und in ihren Augen spiegelte sich eine Jugend, die ich nur von Erzählungen kannte. Weiterlesen

Heute nur noch Birken

Die Stille hat mich angeschrien. Ich weiß nicht ob es ich war, die diesen Satz irgendwann gedacht habe, oder ob ich ihn gelesen und mir heimlich zu eigen machte. Es ist nicht wichtig. Dass Stille sehr laut werden kann, ist eine Erfahrung, die nicht nur einer Person gehört. Besonders laut war es an einem Nachmittag im März vor zwei Jahren, als ich fröstelnd in einem Birkenwäldchen stand und auf den breiten Rücken meines Vaters blickte.  Weiterlesen

10.000 Dinge #2

Goethe und ich sind nicht so dicke. Allenfalls ist meine Beziehung zu ihm eine lockere Bekanntschaft, ohne die Anteilnahme und die Zuneigung einer Freundschaft. Die Schönheit mancher Sätze und die Klugheit einiger Gedanken bleiben mir dennoch nicht verborgen. „Wer besitzt, der muss gerüstet sein“,  heißt es zum Beispiel in Torquato Tasso einem Stück von Goethe. Weder Alfons, der die Worte spricht, noch Goethe, sein geistiger Vater, dachten hier wohl an die Bügel-Perlen-Topfuntersetzer die ich heute bei meiner herbstlichen Inventur gefunden habe. Weiterlesen