Kalender Sturheiten

Meine Nachbarin Frau Obst steht im Laubengang vor meinem Küchenfenster und ist damit beschäftigt, die Lichterkette am Geländer abzuwickeln. Ich, die gerade mit den Einkäufen heimkommt, bleibe vor ihr stehen und sehe sie fragend an. Die muss weg, sagt sie und fummelt am Kabel. Oh nein, sage ich mit einem so überdeutlichen Ausrufezeichen in der Stimme, dass auch eine Frau wie Frau Obst versteht, dass ich ihr eigentlich lieber auf die Finger klopfen würde. Einen Moment ist sie irritiert und fragt mich dann, ins bayerische“du“ verfallenend, ob ich spinne. Diese leicht unfreundliche „du“ ist etwas, dass wir Münchner immer dann anwenden, wenn wir die Handlungen einer (auch fremden) Person absolut nicht nachvollziehen können oder wollen. Die bleibt, antworte ich und verwende keine direkte Ansprache, weil eine Frau wie Frau Obst jenseits des bayerischen „du“ liegt.

Heute ist der 29. Januar und die Lichterkette bleibt bis zum 31. Januar, erkläre ich meiner Nichte, die den unfreundlichen Dialog zwischen mir und Frau Obst irritiert beobachtet hat. Es leuchtet ihr nicht ganz ein, warum ich wegen zwei Tagen eine Diskussion beginne und weil ich diskutiere zur Zeit nicht mag, wiederhole ich auch meiner Nichte gegenüber einfach nur, dass die Kette zu bleiben hat. Schließlich sei heute der erst der 29. Januar. Meine Nichte bleibt irritiert, und ich kann es ihr nicht verdenken. Seit sie kein Kind, sondern eine junge Frau mitte Zwanzig ist, hinterfragt sie, die eine oder andere Eigenart ihrer Tante. Ich rechne es ihr hoch an, dass sie das in der Regel nur mit einer hochgezogenen Augenbraue tut, traure gleichzeitig aber ein ganz kleines bisschen der Zeit nach, in der sei mein Handeln noch nicht hinterfragt hat. Zum Beispiel meinen inneren Kalender, den ich mit Händen und Füßen verteidige, ohne zu erklären warum.

Wie es Kalender so an sich haben gliedert sich auch der meine in zwölf einzelne Abteilungen, Monate genannt.

Der Januar ist einfach. Dass das Jahr am 1. Januar anfängt ist in diesen Breitengraden bei allen üblich. Am 6. Januar ist ein Feiertag und der Christbaum steht genau bis zu diesem Feiertag. Spätestens bei diesem Punkt unterscheiden sich die jeweiligen Kalender der Menschen. Bei mir ist der 6. Januar als Christbaum Entsorgung Tag gesetzt. An diesem Tag fliegt der Baum raus. Keinen Tag früher, egal wie trocken er ist, und keinen Tag später, egal wie gut er mir gefällt. Verlangen Sie bitte keine Begründung dafür, es gibt keine. Mein innerer Kalender gibt mir das vor. Wer mich kennt, weiß, dass der Baum natürlich nicht vollständig entsorgt wird, sondern erst mal nur für einige Wochen auf dem Balkon geparkt ist. Aber er wird ab geschmückt. Sonstige Regeln für den Januar gibt es keine außer, dass selbstverständlich die Lichterkette auf dem Balkon und am Laubengang bei Einbruch der Dunkelheit noch anspringen. Der Januar ist ein so unspektakulärer und immer noch dunkler Monat, dass dieses Licht für die langsame Entwöhnung nach der Adventszeit dringend nötig ist.

Februar. In diesem Monat gibt es Krapfen. Womit die gefüllt sind, ist mir völlig egal. Ich bin da nicht besonders traditionell und freue mich über die Vielfalt. Was aber gar nicht geht, ist das Essen von Krapfen schon im Januar. Wenn man im Januar schon mit den Krapfen beginnt, dann hat man sich im Februar ja schon überfressen. Nein, wenn es um etwas richtig Gutes geht, etwas, dass man essen kann, dann ist es unheimlich wichtig, dass dieses Gute manchmal zeitlich begrenzt ist. Nur dann entwickelt es seinen vollen, wunderbaren Geschmack und ist etwas besonderes. Krapfen also frühestens ab 1. Februar und selbstverständlich nur bis die katholische Fastenzeit beginnt. Nicht, weil ich streng katholisch bin, sondern damit die Zeit begrenzt und der Krapfen etwas besonderes bleibt.

Im März wird der Balkon auf Vordermann gebracht. Das könnte man gut und gerne auch schon dann machen wenn im Februar schönes Wetter ist. Für mich und meinen ganz persönlichen Kalender ist es aber unmöglich, weil im Februar der Christbaum ja noch ein Drittel des Balkons einnimmt. Hätte ich meinen eigenen Jahresablauf nicht, dann würde ich so einen Christbaum wahrscheinlich erst entsorgen, wenn ich seinen Nachfolger kaufe. So aber bedeutet der 1. März ab in den Keller, die kleine Axt und die Astschere rauf holen und erst mal einfach hinlegen. Bis zum 15. März wird dann mit sich gehadert, wann man das sperrige Ding zerlegt. Ab 20. März verbringe ich die ersten sonnigen Tage auf einem umgedrehten Eimer neben einem komplett verdorrten Tannenbaum und frage mich am 28. März wie blöd und faul man eigentlich sein kann, bevor ich ihn am 30. März in der Mittagspause zerlege. In welchem Monat ich diese Überreste dann zum Wertstoffhof bringe, verrate ich Ihnen nicht. (Der April ist es nicht)

Der April ganz klar ist dann wirklich Frühling. Es ist der Monat, in dem man sich alles was blüht, Narzissen Tulpen und so weiter in Vasen auf den Tisch stellen kann und die Osterdekoration rausholt, die in meinem Fall nur aus einer Vase mit Palm Kätzchen besteht. Blumen kaufe ich auch vorher schon, aber nur, wenn ich ganz dringend etwas schönes brauche – bei Prognosen zur Wahl zum Beispiel. Eigentlich ist es „verboten“.

Da Sie mich vermutlich eh schon für bekloppt halten, erspare ich Ihnen die restlichen Monate. Sie sind eh unspektakulär. Kirschenmonat, Spargelmonat, Wiesnmonat(e) und ganz klar…die Lichterkette wird erst am ersten Advent wieder aufgehängt. Meine Freunde haben sich mittlerweile – meiner Sturheit geschuldet – meinem Kalender angepasst und wissen, dass ihnen im Juli kein Spargel und im März keine Tomante vorgesetzt werden. Sie hinterfragen nicht mehr. Jüngere Kinder dagegen schon noch. Zum Beispiel eines meiner Patenkinder – die Jüngste.

Sie sieht das mit der Lichterkette genauso wie ich und wir haben erst neulich wieder darüber gesprochen, was man wann im Jahr macht und was nicht. Es war ein richtig schöner Abend. Klar, wenn man mit achtjährigen Mädchen lange Gespräche führt, dann ist es immer ein schöner Abend. Sie ist die einzige, die jetzt weiß, warum ich manchmal so stur an meinem inneren Kalender festhalte. Vor vielen Jahren gab es ein Weihnachten, an dem ich so traurig war, dass ich nicht wusste, wie ich die nächsten Tage geschweige denn das nächste Jahr überstehen soll. Das erste Jahr nach diesem Weihnachten hab ich nur hinbekommen, weil ich von einem Termin zum anderen lebte. Mein stilles Mantra half mir: Der Christbaum bleibt bis zum 6. Januar. Bis dahin kriege ich es auch hin. Bis die Lichterkette abgenommen wird, wird es gehen. Den Krapfen Monat halt ich aus und wenn die Sonne auf den Balkon scheint, wird es leichter. Im nächsten Monat kauf ich mir Blumen, dann ist es vielleicht schon besser. Von Tag zu Tag von Woche zu Woche und von Monat zu Monat bin ich durch das Jahr gekommen. Erst ist es leichter geworden, dann ist es gut geworden. Nur an meinem sturen Kalender halte ich noch immer fest. Vorsichtshalber.

Vorhin rief mich meine Freundin an und erkundigte sich, in welchem Bauern Kalender etwas von Weihnachtssternen und Fensterbeleuchtung stehen würde. Ihre Tochter, mein Patenkind, hätte ihr vorhin mit Hinweis auf eben diesen Kalender der Weisheiten verboten, den leuchtenden Weihnachtsstern vom Fenster abzuhängen. Laut meiner Auskunft muss der unbedingt noch zwei Tage dort hängen. Ich gebe der Kleinen recht und nur weil meine Freundin mich gut genug kennt, fragt sie nicht weiter nach. Ich dagegen freue mich, weil es wenigstens noch ein Kind gibt das klein genug ist meinen verschobenen Rhythmen als gesetzt hinzunehmen. In spätestens 5-6 Jahren wird sie den Stern am Fenster in ihrem Kinderzimmer abhängen wann sie möchte. Aber dann bin ich vielleicht ja schon Großtante und kann einem anderen kleinen Menschen sagen, wie sich so ein Jahr einteilt.

22 Gedanken zu “Kalender Sturheiten

  1. Ich bin auch kalenderstur. Ich lasse z. B. meine Weihnachtsbeleuchtung (zwei Sterne) auf der Terrasse immer bis zur Zeitumstellung leuchten. Dann funktioniert auch wieder meine Sommerlichterkette, weil es dann lange genug hell ist und die Solarbatterien sich gut aufladen können. Ich brauche immer etwas Licht vor der Terrassentür.

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  2. Ein bisserl kalenderstur bin ich auch. Weil ich wie du klare Strukturen brauche für mein Leben. Das hat auch seine Schattenseiten – zum Beispiel, wenn es mir im August im Supermarkt den Magen schier umdreht, weil da bereits das Weihnachtsgebäck feil geboten wird. Oder wenn zur Weihnachtszeit „frischer“ Spargel und „erntefrische“ Erdbeeren zu kaufen sind. Schlimm finde ich auch, wenn kurz nach dem Jahreswechsel so manche liebe Mitmenschen bereits vom „Frühlingsanfang“ fabulieren. Frühlingsanfang ist am 20. März. Punkt. 😉

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    1. Die frühen Weihnachtssüßigkeiten mag ich auch nicht. Aus dem gleichen Grund wie Krapfen. Es ist doch schön, wenn es manche Dinge nicht ein halbes Jahr lang zu kaufen gibt. Und bei sommerlichem Obst und Gemüse kommt ja noch hinzu, dass man gar nicht wissen möchte, woher es im Winter kommt und wie hoch der umwelttechnische Preis dafür ist.
      Dafür muss ich gestehen, dass auch ich zu den Menschen gehöre, die kurz nach Weihnachten bei den ersten Sonnenstrahlen schon behaupten, dass es nach Frühling riecht. 😉

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  3. Mitzis Interner Bauernkalender – sicher nicht für alle massgebend, doch selbst wenn er mit Frau Obsts innerem Kalender kollidiert, hat sie trotzdem nicht unaufgefordert an deiner Lichterkette herumzufummeln.

    In meiner Nachbarschaft wurde eine Weihnachtslichterkette zur Ganzjahresdeko umgewidmet. Von mir aus könnten sie auch einen beleuchteten Ganzjahreschristbaum aufstellen, ist ja ihr Balkon. Und ihre Stromrechnung. Wer weiss denn, ob sie sich damit nicht auch über eine schwere Zeit hinweg gerettet haben und vorsichtshalber daran festhalten. Oder es einfach schön finden. Ich freue mich nämlich auch, wenn es an Epiphanias nicht schlagartig wieder finster wird…

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    1. Ja, so sehe ich das auch. Man sollte jeden so machen lassen, wie er möchte und solange es sich nicht um wild blinkende Weihnachtsdeko handelt, die einem ins eigene Schlafzimmerfenster scheint, kann und sollte es einem auch egal sein.
      Mittlerweile sind meine Lichterketten weg. Die Sonne schafft es langsam wieder in den Laubengang und in mein Küchenfenster. Über diese Helligkeit freue ich mich ganz besonders, und traure den Lichtern nicht hinterher. Außerdem ist Frau Obst dann auch wieder beruhigt. Ich bringe ihren ganz persönlichen Kalender nicht weiter durcheinander. 😉

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  4. Mitzi, wie das ist, wenn man ein schlimmes Jahr überstehen muss, das kann ich 100pro nachvollziehen, obwohl ich nicht nach so einem strengen Kalender lebe, es aber verstehen kann.

    Was ich aber nicht verstehe, wie eine „fremde Person“ DEINE Lichterkette entfernen will.

    Gut, wenn man so „gläubige Nichten“ hat. – Gut’s Nächtle!

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    1. Liebe Clara, ich glaube, dass so gut wie keine fremde Person sich an meiner Lichterkette vergreifen würde. Frau Obst ist hier eine Ausnahme. Eine der das ganze Haus gehört, obwohl sie nur eine Wohnung gemietet hat.😉

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  5. Ich finde es gut, auf tradierten Jahresrhythmen zu bestehen. Sicher kann man über die Notwendigkeit eines exakten Tages streiten, käme eventuell ins Schwimmen, wird man gefragt, ob man jetzt den julianischen oder den gregorianischen Kalender nutzt, aber das Prinzip ist ehrenwert. Es gibt keine Lebkuchen vor der Adventszeit, egal, was die Supermärkte für angemessen halten. Fertig.
    Blumen aber kann man gar nicht so viele kaufen, selbst ganze Gräber voller Gestecke reichen nicht. Für dieses Fest der Demokratie (Linnemann), in der die Rechtskonservativen nochmal siegten und die Rechtsradikalen immerhin ein gesichertes fünftel der Bevölkerung hinter sich wissen, was für einen neuerlichen Marsch auf Berlin eigentlich reichen sollte. Und nein, es ist kein Protest, Radikale, die diesen Staat letztlich abschaffen wollen und das Demokratie nennen, zu wählen.

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    1. Ich glaub ja, dass das festhalten in meinem Kalender dieses Jahr nicht zuletzt mit dem ganzen politischen Wahnsinn zu tun hat. Im zweiten Teil deines Kommentars er ahnst du das ja auch und ganz besonders. Dein letzter Satz ist so unglaublich richtig. Und doch kommt dieses Argument immer wieder, es liegt mir auf der Zunge zu schreiben, dass es ein unglaublich dummes Argument ist und nur weil ich Wähler nicht als dumm bezeichnen möchte spare ich es mir. Unverständlich ist mir dagegen, dass eine nachweislich mit rechts radikalen Personen und Thesen und Aussagen gespickte Partei noch immer nicht auf ein Verbot geprüft wird.

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      1. Nicht, bevor es nicht zu spät ist… –
        Ach, ich scheue mich nicht, auch den einen oder anderen als dumm zu bezeichnen. Oder, was in vielen Fällen eher zutrifft, als böse. Was sich gegenseitig nicht ausschließt. Gefährlich sind aber die vielen schlauen Bösen, übrigens keineswegs konzentriert in jener Gruppe, die Typen sind reineweg überall!

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  6. Ich musste schmunzeln bei der Lichterkette. Ich habe eine im Fenster, die noch die Mutter installiert hatte. In der Weihnachtszeit würde sie mich traurig machen. So leuchtet sie jetzt immer in kurzen Sommernächten und die Nachbarn denken sicher „die hat sie nicht mehr alle“. Aber mir macht es Spaß… 😉

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    1. Das kann ich so gut verstehen. Beides. Dass sie an Weihnachten traurig macht, dass sie aber noch immer leuchtet. Was die Nachbarn sich denken, kann einem ja egal sein. Aber bei so einer Lichterkette im Hochsommer, ist es wahrscheinlich auch ein freundliches schmunzeln. 😊

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      1. Zumal es eine bunte, aber nicht blinkende, Lichterkette ist. Meine Nachbarn haben schon lange aufgehört, sich über mich zu wundern. Es ist eine stille Koexistenz, zum Glück… 😉

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      2. Zumal es eine bunte, aber nicht blinkende, Lichterkette ist. Meine Nachbarn haben schon lange aufgehört, sich über mich zu wundern. Es ist eine stille Koexistenz, zum Glück… 😉

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  7. Also, heute haben wir den 28. Februar. Morgen den 1. März. Glück gehabt! Bei einem Schaltjahr hätten wir morgen erst den 29sten. So aber haben wir morgen bereits den 1. März. Der Christbaum darf morgen in deinen Keller. Ich gönne mir einen Krapfen. Möglicherweise werde den Krapfen mit einem Whiskey einnehmen müssen… 😉

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