Ein Holzscheit hätte gereicht

Du hättest mir etwas vererben müssen.

Wenn jemand stirbt, dann vererbt er denen, die zurückbleiben etwas. Das macht man so. Das hättest auch du so machen sollen. Eine Vererbung ist kein großer Aufwand. Ein Blatt Papier und ein wenig Gedankenarbeit. Das sollte reichen. Zumal man davon ausgehen kann, dass die, die etwas erben, dem der vererbt bekannt sind und es ihm nicht schwer fallen sollte, zu wissen mit was man ihnen eine Freude macht. Ich dürfte dir sehr bekannt gewesen sein. So gut bekannt, dass dir klar gewesen sein muss, dass es wichtig gewesen wäre. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dir das sogar mehrfach gesagt. Ziemlich egoistisch, sich dennoch darüber hinweg hinzusetzen. Doppelt egoistisch, wenn man sich aus eigenen Stücken aus dem Staub macht. Dann könnte man sich vorher um sein Erbe kümmern. In einer angemessenen Art! Es ist eindeutig nicht angemessen, seinen kompletten Besitz und seine komplette Existenz vor dem endgültigen Schritt zu entsorgen. Wahrscheinlich wäre nicht mal die Arbeit der Gedanken oder ein Blatt Papier nötig gewesen. Du hättest mir einfach ein Stück Holz in die Hand drücken können. Kein geschnitztes, kein bearbeitetes. Nein. Ein verdammtes Holzscheit hätte komplett gereicht. Sterbenden erfüllt man einen letzten Wunsch. Gut so. Es wäre aber doch nett, wenn Sie den Lebenden ebenfalls einen Wunsch erfüllen würden. Das wäre persönlich, und nicht so schrecklich stur, wie du es zum letzten Tag gewesen bist.

Du hast mir Erinnerungen vererbt. Vielen Dank dafür. Sie sind schön. Sie sind ein Schatz. Aber die hab ich mir nicht ausgesucht. Die hab ich nicht im Griff. Die kommen und gehen wie sie wollen. Sind noch egoistischer als du. Noch sturer, uneinsichtiger und unberechenbarer, als du es je gewesen bist. Nett, auch, dass ich nicht nur die meinen mit rumschleppe, sondern du dafür gesorgt hast, dass ich auch die deinen, in einer an Vollständigkeit grenzenden Menge, an mir kleben habe.

Wenn wir ehrlich sein wollen, dann sind Erinnerungen aus einem Nachlass wie dem deinen einen Großteil ihrer Existenz über nur eines: Scheiße. Sie sind zu flüchtig um sich an ihnen festzuhalten. Wenn man sie braucht, lassen sie sich nicht fassen und das, woran man denken möchte, liegt hinter schwerem, tristgrauem Nebel. Schlimmer aber, man kann sie nicht zur Seite legen. Wenn sie da sind, sind sie da, man kann sie nicht weg sperren und man kann sie, weder sortieren, ordnen noch entsorgen. Erinnerungen sind nur dann gut, wenn sie erwünscht sind. In allen anderen Fällen sind sie nur eines: unpraktisch. Die ersten Jahre taten sie weh und jetzt, jetzt, wo es endlich geht, an dich zu denken, ohne dass es wehtut, verblassen sie bereits. Du hättest mir etwas vererben sollen. Ein Holzscheit zum Beispiel. Ja wirklich, ein Holzscheit, das wäre am besten gewesen.

Die Großfamilie väterlicherseits hat mir viel schönes vererbt. Im Gegensatz zu dir haben sie sich viele Gedanken gemacht und mir Dinge überlassen, die mir wichtig sind. Das wichtigste aber, dass sie mir vererbt haben, habe ich mir selber geschnappt. Ein geklautes Erbe. Es ist aus Holz und bedeutet mittlerweile wahrscheinlich keinem einzigen Menschen außer mir noch etwas. Als meine Familie 1945 aus dem damaligen Sudetendeutschland vertrieben wurde, packte mein Urgroßvater eine große Holzkiste mit allem, was sie aus ihrem Leben mitnehmen konnten oder besser durften. Er beschrifte die Kiste mit seinem Namen, dem Wohnort, den sie verlassen mussten und der Nummer eines Waggons, in denen sie mit vielen anderen Menschen gepfercht wurden. Von dieser Holzkiste wurde mir als Kind so oft berichtet, dass mir klar war, dass zwischen ihren Brettern all das eingespeichert war, was man mir erzählt hat. Holz ist gedulig und wenn man genau hinhört, dann erzählt es Geschichten. Flüsternd meist. Zwischen den Wänden eines kleinen Holzhauses, das auf einer Waldlichtung in den Bergen steht, liegt zum Beispiel meine komplette Kindheit. Die Bretter haben auch die Jugend meiner Eltern aufgenommen und wenn man das Ohr an ihre Seite legt, dann hört man das Lachen von Generationen. Es war nur konsequent, dass die Kiste meines Urgroßvaters dort ihren Platz gefunden hat. Jahrzehntelang lagerten Wein und Bierflaschen in ihr. Manchmal auch Streusalz und in den letzten Jahren Werkzeug. Wir neigen hier nicht zu sentimentalitäten. Wir – außer mir.

Wann immer ich dort war, habe ich diese Kiste besucht. Hab mit den Fingern über die Schrift gestrichen und genau gespürt, dass diese Kiste meine Familie besser symbolisiert als alles andere. Ganz sicher nicht, weil die Vertreibung noch ein Thema war, sondern weil es dieses Holz und diese Kiste gefühlt schon immer gegeben hat. Es ist erstaunlich, dass sie so viele Jahre lang durchgehalten hat. Unzählige Bierkisten wurden darauf gestellt und die Schrift ist mit den Jahren verblasst und verschrammt. Und jetzt, bevor sie – die Schrift – ganz weg ist, hab ich mir den Deckel geholt.

Die Kiste ist meine Familiengeschichte. 50 % von mir hängen irgendwo in diesem Holz fest. Das ist wieder traurig, noch stimmt es mich sentimental. Es ist einfach eine Tatsache, dass dieser Kistendeckel zu mir gehört. Ich hab ihn zu einem Tisch umfunktioniert und wochenlang darüber nachgedacht, wie ich die Schrift restaurieren soll. Die Lösung ist einfach. Gar nicht. Dieser Teil der Familie endet mit mir. Nach mir interessiert sich keine Sau mehr für diesen Kistendeckel. Das it ok. Noch 30 oder 40 Jahre wird er jetzt bei mir sein und dann ist beides zu Ende. Ich und er. Mehr kann ein Kistendeckel nicht verlangen.

All das hat wenig mit dem Erbe zu tun, dass ich gerne von dir gehabt hätte. Oder es hat sehr viel damit zu tun. Du hast mich mehr als einmal dabei beobachtet, wie ich auf der Hütte vor dieser blöden Kiste stand, mit den Fingern über den Deckel strich und dabei an meine Großmutter, meine Urgroßeltern alle meine Tanten und Onkel gedacht habe. Wenn jemand so idiotisch sentimental wie ich ist, dann ist völlig klar, dass so ein Mensch unbedingt ein Erbe braucht. Eines, das ähnlich wie der Deckel meines Urgroßvaters nicht kaputt gehen kann. Eines, dass man festhalten oder gegen Wände schlagen kann. Eines, dass man in einem Keller stellt, wenn man nicht daran denken möchte und das man sich zurück holt, wenn die Erinnerungen nicht mehr weh tun.

Ein Holzscheit. Das wäre das perfekte Erbe gewesen. Und du hättest es wissen müssen. 

27 Gedanken zu “Ein Holzscheit hätte gereicht

  1. Nachvollziehbar. Es gab im Haus meiner Eltern eine kleine geschnitze und bemalte Holzkiste , die meiner Mutter seit ihren Teenagerjahren gehörte und nun voller „unwichtiger“ alter Fotos und Negativen aus den 30er und 40er Jahren. Im Krebsenstadium meines Vaters haben sie darin einen Teil ihrer gemeinsamen frühen Vergangenheit verbrannt, von dem sie meinten, der ginge ihre Kinder nichts an. Dabei kannte ich jedes Teil darin auswändig und es war wie ein Schlag, eine letzte und endgültige Zurückweisung..

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      1. Danke, Mitzi! Ich kann mich nicht zwischen Gedankenlosigkeit und Ignoranz entscheiden. Andererseits hat unsereiner sie ja auch nicht in alles mit einbeziehen wollen. Schwierig, auch deshalb, das eher kindliche Emotionale gegen den erwachsenen Sinn für gegenseitige Gerechtigkeit auszuspielen.

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      2. Nelia hat einen schönen Gedanken beschrieben. Vielleicht trifft er auch bei „meinem“ nicht erhaltenen Holzscheit zu. Dennoch…das Zurückbleiben ist eine harte Übung. LIebe Grüße

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    1. Und manchmal braucht man vielleicht ein Ritual, um das Leben loszulassen. Vielleicht ist es keine Zurückweisung sondern ein schmerzlicher Versuch gewesen, sich selbst das Zurücklassen irgendwie leichter zu machen.Herzliche Umarmung vonNelia

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      1. Danke, Nelia. Das war es sogar sehr wahrscheinlich. Rational ist es nachvollziehbar, was aber nichts an der Wirkung mindert, wie ja auch ein Holzscheit allenfalls Vorstellungen transportieren könnte, die aber dem anderen fernliegen.

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  2. Ein schöner anklagender, trauriger, sehnsüchtiger Text. Alles hat Platz in der virtuellen Kiste deiner Erinnerungen. Die wenigstens muss dir niemand vererben und kann niemand heimlich entsorgen.

    Vermutlich das einzig Tröstliche an der Situation.

    🫂

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      1. Wir haben so vieles nicht im Griff.

        Ich überlege gerade, dass du vielleicht dein Holzscheit nicht bekommen hast, weil du nicht daran leiden solltest, es nachträglich noch über einen Dickschädel ziehen zu wollen und doch nicht zu können? Womöglich steckte so ein Gedanke dahinter und die etwas blasseren Erinnerungen wurden als gnädigere Hinterlassenschaft gewertet?

        Wie auch immer, Erbschaften sind oft schwierig, ob sie nun zugewiesen oder verweigert werden. Ich hoffe, es tut dir gut zu wissen, dass du quasi die lebendige, unzerstörte Hinterlassenschaft bist. Kein Holzscheit könnte dir geben, was du dir selbst geben kannst.

        Herzliche Grüsse, Eva

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      2. Ich bin mir recht sicher, dass ein Gedanke dahinter steckte. Einer der gut gemeint war und der sich richtig und gut angefühlt hat. Es ist also schon ok. Auch wenn ich nach wie vor der Meinung bin, dass man im Fall des Ablebens ruhig ein wenig auf den Wunsch derer eingehen kann, die übrig bleiben.
        Das klingt egoistisch und ist es wohl auch, aber das „übrig bleiben“ bedeutet ja, dass man weiter macht. Das „gehen“ das es vorbei ist und es vielleicht keine Rolle mehr spielt ob man nun ein Scheit weitergegeben hat oder nicht.
        Aber wie gesagt, alles in allem sind die Erinnerungen natürlich das wichtigste.

        Liebe Grüße und danke!
        Mitzi

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      3. Und doch stimme ich dir zu: Es wäre nett und umsichtig gewesen, dir ein Scheit zu hinterlassen.

        Einen schönen Advent, möge er hell und friedlich werden!

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  3. Das Holzscheit und manche alte Kiste finden ihren Weg in den Ofen. Der wärmt und rasch hat man das Holz vergessen, das dafür verantwortlich war.

    Wollen wir uns erinnern? Sehr gern. Vorzugsweise an Gutes. Aber die Erinnerungen sind sehr eigenwillig und kommen und gehen, wie sie wollen.

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    1. Auch das ein schöner Gedanke. Ich hab mir schon vorgestellt, diesen alten Holzdeckel irgendwann (noch nicht jetzt) zu verheizen. Nicht weil ich ihn vergessen will, sondern damit es bis zum letzten Moment etwas sinnvolles gemacht geleistet hat.
      Das wäre ein netter Abschied und ich glaube nicht mal besonders traurig.

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  4. Das ist ein Nachruf der besonderen Art, liebe Mitzi. Du nennst dich „idiotisch sentimental“, und ich bin froh drum, dass du es bist. Ich erlebe dich in deinen Texten und Kommentaren warmherzig, was wohl das passende Synonym ist für die besondere Weise, in der du zu Menschen und Dingen stehst.

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  5. Hallo, liebe Mitzi, ich habe deinen Text gleich nach dem Erscheinen gelesen – ich KONNTE dazu aber nichts schreiben – den Grund wirst du ja wissen.

    Ich weiß nicht, was in dem Kopf der Person vorgeht, bevor sie ihren letzten Schritt oder Sprung oder sonstwas machen. – Hätten sie ein Erbe schon lange vor ihrem Tod vergeben, wären sie nicht mehr frei in ihren Gedanken gewesen. – Vielleicht hat er gedacht, du hast schon so vieles, was dich an ihn erinnert und was als „Erbe“ ausreicht.

    Ich finde es schön, dass du immer noch an ihn denkst.

    Einen lieben Gruß zu dir

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  6. Danke, liebe Mitzi, für diesen wunderbaren Text. Familie und Erinnerungen sind Teil unseres Lebens. Ich habe auch immer versucht zu verstehen, woher ich komme, und einzelne Gegenstände, die ich von meinen Eltern und Grosseltern behalten habe, sind dabei wirklich hilfreich, auch wenn sie ganz unscheinbar sind. Es berührt mich auch immer, wenn ich die Nachlässe meiner verstorbenen Mitbrüder sichten muss und dabei auf viele Fotos und Gegenstände stosse, die für sie sehr lieb und wichtig waren, mit ihrem Tod aber ihre Bedeutung verloren haben, da die Erinnerungswelt, die damit verbunden war, verschwunden ist.
    Aber ich kann mir auch vorstellen, dass jemand, der aus was für Gründen auch immer zum Schluss kommt, sich und sein Leben auslöschen zu wollen, nicht zuerst daran denk, seinen Nächsten ein Erinnerungsstück zurückzulassen. Das gehört wohl zur Tragik dieser Lebensentscheidungen.

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    1. Ja, da hast du wohl recht. In solchen Situationen, wenn einer selbst entscheidet zu gehen, dann werden Prioritäten anders gesetzt als bei einem z.B. alten Menschen, der in Ruhe alles ordnet und in Frieden mehr oder weniger bereit ist zu gehen.

      Gegenstände, die eine Wichtigkeit besessen haben und zurück gelassen werden, rühren mich auch. Aber du beschreibst es gut…sie haben ihre Bedeutung verloren und dann kann man und muss man wohl auch Dinge gehen lassen. Dann sind sie nur noch das: Dinge. Und sie hatten ja ihren Zweck erfüllt.

      Liebe Grüße und eine schöne Adventszeit.

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