Alte Männer

Nicht nach Italien, sagt mein Vater, als er mir für zwei Wochen sein Auto überlässt und in die S-Bahn Richtung Flughafen steigt. Sein Auto trägt noch Sommerreifen und in Österreich ist ab November Winterreifenpflicht. Ausnahme Sommerreifen mit Schneeketten. Eine Alternative, die mir wenig verlockend erscheint. Zumal die Schneeketten (vorsichtshalber) aus dem Kofferraum entfernt wurden. Mein Vater kennt mich und mein Fernweh. Ich bleibe also. Und weil ich bleibe, erklärt mir heute ein weiterer alter Mann, was ich zu tun und zu lassen habe. Zum Friedhof erst ab acht und natürlich nicht mit dem Auto, meint der alte Mann, formuliert es aber gewohnt ruppig.

Mein Nachbar, Herr Meyer fragt mich, ob ich spinnen. Zum Ostfriedhof sind’s zu Fuß gerade mal 10 Minuten. Da braucht man nun wirklich kein Auto. Da hat mein Nachbar recht, allerdings will ich erstens nicht zum Ost- sondern zum Westfriedhof und zweitens braucht er mittlerweile zu Fuß wahrscheinlich eine gute halbe Stunde. Trotzdem hat er recht, der Herr Meier. Heute an Allerheiligen ist auf den Friedhöfen hochbetrieb und die Parkplätze sind überfüllt. Ich fahre trotzdem. Erstens, weil ich die Kerzen und Gestecke nicht schleppen will und zweitens, weil ich, wenn ich schon nicht nach Italien darf, wenigstens durch München fahren möchte.
Ich locke meinen sturen Nachbarn, der so früh am Morgen noch etwas wacklig auf den Beinen ist, mit der Sitzheizung. Eine was, fragt er mich und ich halte es für durchaus realistisch, dass er noch nie auf so einer gesessen ist. Schließlich steigt er ein, und nach zwei Minuten grinste er. So eine Sitzheizung braucht einen Moment, bis man sie spürt und wir fahren eine Extra Runde, damit er sie ein bisschen genießen kann. In der Zeit erklärt er mir, dass wir viel zu früh dran sind, weil die Friedhöfe erst um acht öffen und ich sage nichts. Wir wissen beide, dass die Tore immer eine Stunde vorher schon offen sind, weil die Friedhofsgärtnereien vermutlich wenigstens einen kurzen Moment in Ruhe arbeiten möchten. Auch das Tor am Ostfriehof ist schon offen, als ich Herrn Meier rauslasse. Abholen werde ich ihn natürlich nicht. Es sind zu Fuß gerade mal 10 Minuten bis nach Hause und auch wenn’s für ihn ein paar Minuten mehr sind… gerade ein alter Mensch tut gut daran zu Fuß zu gehen. Auch einer mittelalten Frau wie mir würde es nicht schaden und wenn ich in zwei Wochen das Auto wieder abgebe, dann werde auch ich es wieder für einen kompletten Schwachsinn halten mit dem Auto zum Friedhof zu fahren. Heute aber nicht. Heute fahre ich. Zum Westfriedhof und ein paar Jahrzehnte in der Zeit zurück.

Ich habe keine Ahnung wer in dem Grab vor mir liegt. Also doch…meine Großeltern. Aber mit denen stand ich schon als kleines Kind an genau diesem Grab. Offensichtlich liegt hier noch einer, den man gut genug gekannt haben musste, um ihn regelmäßig zu besuchen. Sein Name war am Ende aber nicht wichtig genug, um auf dem Stein zu stehen, der jetzt die Daten meiner Großeltern zeigt. Vielleicht, meine Familie neigt manchmal zur Rationalität, sorgte man aber auch einfach für ausreichend Platz für kommende Namen. Ein sehr in die weiter Zukunft gerichteter Gedanke, da sich schon zu Zeiten meiner Großeltern abzeichnete, dass diese Kinderreiche Sippe zu einer recht kleinen wurde. Noch kleiner, da ich es versäumt, mich rechtzeitig fortzupflanzen und irgendwann die einzige sein werde, die (zumindest in München) übrig bleibt. Ein Gedanke, der mich nicht sentimental stimmt. Man hat ja zwei Familienseiten und die andere nimmt das mit der Fortpflanzung sehr ernst. Sie heißen halt nur anders, aber was bedeuten schon Namen? Nicht viel, da ich noch immer einen besuche, dessen Name völlig vergessen ist, an den aber gedacht wird.

Ich schlängle mich zwischen den Büschen zu einem zweiten Grab. Auf dem steht mein eigener Name. Maria (Mitzi in der Koseform) Irsaj. Das ist praktisch. Irgendwann müssen meine Nichten und Neffen hier nur mein Geburts- und Sterbedatum anfügen, der Name steht ja schon da. Offensichtliches muss nicht wiederholt werden. Ich habe die Rationalität meiner Familie geerbt. Aber auch ihre Neigung an Ritualen festzuhalten. Zum Beispiel dem Friedhofsgang. Nicht aus Zwang und nicht, weil es die Nachbarn interessieren könnte. Nein, man geht zum Friedhof, um einen Spaziergang zu machen. Das gefällt mir. Und auch dass es dort heute leuchtet. Um halb acht ist es noch nicht richtig hell und etwas neblig. Und dank Allerheiligen brennt auf fast jedem Grab eine Kerze. Schön sieht das aus. Ich habe die Geste meines Großvaters übernommen, beim Gehen über den Grabstein zu streichen. Wenn man keine Wange und keinen Oberarm mehr hat, dann muss es der Stein tun. Fühlt sich gut an. Tschüss, Oma, bis nächstes Mal. Tschüss Mitzi, Mischko, Uroma und Uropa und Tschüss Unbekannter ohne Namen.

Bevor ich gehe sagt mir noch ein dritter alter Mann was ich zu tun habe: Das Laub auf Tante Mitzis Grab entfernen. Wie schaut den das aus, fragt er. Ich sags ihm gerne. Schön sieht das aus. Bunte Ahornblätter auf dunkler Erde. Herbstlicher´ geht es doch kaum. Tante Mitzi hätte es gefallen und mir gefällt´s auch. Man muss nicht auf jeden alten Mann hören. Kurz überlege ich vielleicht doch… Nein. Auf diesen einen alten Mann höre ich dann doch. Schließlich ist er gestern achtzig geworden. Und wer achtzig Jahre alt wird hat neben ein bisschen Glück vermutlich auch ausreichend Verstand um zu wissen, was richtig ist. Z.B. nicht mit Sommerreifen im November über den Brenner zu fahren.

13 Gedanken zu “Alte Männer

  1. Vor einigen Jahrzehnten war ich, egal, wo ich aufschlug, immer einer von den Jüngeren.
    Jetzt bin ich, egal, wo ich aufschlage, immer einer von den Älteren.
    Was, so frage ich mich oft, ist hier falsch gelaufen…? 😉

    Gefällt 2 Personen

  2. Mir gefällt sehr, dass du die Allerheiligen-Tration hoch hältst, liebe Mitzi. Das hat so etwas erfreulich Vertrauenswürdiges. Glücklicherweise hast du bei den alten Männer das neuerdings modische Adjektivattribut „weiße“ weggelassen, weshalb sie auch so rüberkommen in deinem rührenden Text, wie es gemeint ist.

    Gefällt 1 Person

    1. Um diese „alten weiße Männer“ geht es zum Glück ja auch nicht. Mit dieser Kennzeichnung täte ich mich auch schwer. Für meinen Geschmack wird da viel zu viel über einen Kamm geschert.
      Liebe Grüße

      Like

  3. Alt sein heißt noch nicht weise sein. Ich habe hier am Ort am Grab das Laub – das wir einige Zeit vorher tatsächlich entfernt hatten, es kommt ja eine Menge zusammen! – tags davor liegengelassen und gab auch eben diese meine Auffassung zum Besten. Dass nämlich tote, bunte Blätter sehr schön zum Allerheiligengedenken, zum Grab an sich, zur Vergänglichkeit passen.

    Und auch das Grablicht wurde entzündet. Und wieder einmal geseufzt. Das würde die Urgroßeltern jetzt freuen, gell? Dass nun doch noch unsere Enkel, ihre Urenkel kommen. Denn tote Blätter, der Tod an sich bedeutet auch Leben, Wiederkehren, Wiedergeburt, nicht in dem Sinne der direkten Seelenwanderung, vielmehr der Wandlung durch Gene und äußere Einflüsse und so kann, wenn keine Katastrophen passieren – und wir wollen an besinnlicher Stelle nicht an die bekannten Scheußlichkeiten anknüpfen – es weiter- und weitergehen.

    Gefällt 1 Person

    1. Schön geschrieben. Und der Gedanke, dass es sie, die da schon so lange liegen, freut, der freut einen am Ende ja auch selbst. Es ist schon gut, dass es weitergeht. Und irgendwie wird es das auch.

      Like

      1. Pippi hat die Vorstellung, dass ihre Mutter vom Himmel aus auf sie schaut und aufpaßt. Der Brandner Kaspar dagegen kann raufschaun. Ins Paradies. Einmal dort gefällt ihm das dortige Unterhaltungsangebot viel zu sehr – es ist identisch mit den schönen Momenten und Tagen seines bisherigen Erdendaseins – beschäftigt, um etwa hinabzuschauen.
        Wir wissen nicht, welche Vorstellung wir übernehmen sollen. Lassen wir uns verwirren und handeln wie ein Schreckgespenst, das den Weg nicht findet? Wie etwa der Münchner im Himmel, der schließlich im Hofbräuhaus sitzt und dort ebenfalls seiner gewohnten Tätigkeit nachgeht (und, bekanntlich, deshalb die himmlischen Ratschläge der bayrischen Staatsregierung nicht überbringt)? Oder vielleicht findet dieser Kontakt zwischen den Welten ohnehin nur an kultisch ausgestalteten Festtagen statt, Dia de los Muertos, Samhain? Hatten wir erst und lassen wir sie nun wieder still und friedlich ruhen, die Toten, die in unseren Erinnerungen leben.

        Gefällt 1 Person

      2. Ich denk ein jeder sucht sich das raus, was ihm ein gutes Gefühl gibt. Das Verdrängen ist vielleicht auf Dauern nicht gut. Irgendwann holt es einen ja ein. Da ist das „damit Leben“ und sich eine Vorstellung machen (wie Pipi) hilfreicher. Dann hat man etwas auf das man sich freuen kann, wenn es soweit ist. Da könnt ma auch den Brandner Kaspar anschauen und dem Tod etwas gelassener entgegen sehen.
        Man sollt es sich mischen, so wie es sich gut anfühlt, dann nimmt es vielleicht den Schrecken vor dem, was eh eintritt.

        Like

      3. Das Verdrängen kommt vielleicht auch daher (abgesehen von der Angst, dem Unwilllen…), dass man sich’s nicht vorstellen kann. Den eigenen Tod. Etwa gleich wenig, wie das eigene Leben (denn die Vorstellung stimmt doch höchst selten mit der Realität überein, schon gar nicht mit dieser realistischen Realität, also dem, was die anderen sehen!).

        Gefällt 1 Person

      4. Stimmt. Es ist wahrscheinlich auch eine der wenigen Dinge, auf die man sich am Ende doch nicht ganz vorbereiten kann. Es erzählt einem ja keiner, wie´s gewesen ist.

        Like

Hinterlasse eine Antwort zu Mitzi Irsaj Antwort abbrechen