Keine Erwartungen, sagte ich und erwartet etwas schönes. Nichts besonderes, natürlich, das wäre albern. Aber ein paar besondere Fotos für die letzten Seiten des Albums mit dem Titel „2022“. Ähnlich denen der letzten Jahre, die alle mit dem letzten Tag des Jahres enden. Sie zeigen mich in pinken schummrigen Licht unter unzähligen Luftbalons. Mit einem Glas Champagner in der Hand und mit goldenem Konfetti in den Haaren. Auf den letzten Bildern im Jahresalbum sieht man mich küssend in Rom. Oder in Prag. Auch in Amsterdam. Meistens in München inmitten meiner Freunde. Im Kleidchen, mit Wunderkerzen in der Hand unter dem Christbaum am Marienplatz. Mit der besten Freundin im Arm oder umarmt von den liebsten Freunden. Manchmal mit Kindern auf dem Arm, oft ohne, aber immer lachend. Selbst auf dem im Coronajahr. Da lachen wir nur zu zweit über eine Schüssel gebeugt und freuen uns über das letzte Set „Bleigießen mit echtem Blei“. Silvester muss man nicht planen – es kommt, wie es kommt. Nur keine Erwartungen, sage ich jedem und fahre nicht mit nach Hamburg, weil die Feiertage blöd liegen und mir der Urlaub zu schade ist. Auch nicht in die Berge und nicht über den Brenner, aus den gleichen Gründen. Passt sage ich, zu einem sich zur Nachtschicht in der Klinik einteilen lässt, weil nur er noch weniger Erwartungen an diesen Abend hat wie ich. Wir werden uns schon irgendwann treffen und dann wird er mir den Glitzer aus den Haaren pflücken und ich die letzte Wunderkerze mit ihm anzünden, wenn es draußen schon wieder hell wird. So oder so ähnlich war es immer. Früher.
Passt, sage ich zu den Freunden, die dieses Jahr nun wirklich mal einfach nur auf dem Sofa sitzten bleiben wollen. Ist ok, sage ich zu denen, die die erste Party ihrer Teenager lieber vom Schlafzimmer aus beaufsichtigen und schade, murmle ich bei denen die sich Corona und Magendarm eingefangen haben. Scheiße, flüstere ich zu mir selbst am Nachmittag des letzten Tages des Jahres, als mir dämmert, dass ich Silvester das erste Mal in meinem Leben absolut gar nichts vorhabe.
Scheiße murmelt mein Nachbar Paul, als ich ihm am frühen Abend nicht mit einem Liter Öl aushelfen kann. Und „Mist“ als ich ihm versichere, dass Fondue mit Butter nicht funktioniert. Scheiße und verdammt, ihr könnt mich mal, brüllt meine Nachbarin Anne, als ihr Nachwuchs statt mit ihr zu essen in den Kinderzimmern über iPad und Switch gebeugt den letzten Abend des Jahres lieber virtuell mit den Freunden zockend verbringt. Fein. Ich bin nicht alleine mit meinem Silvesterfrust.
Ich kann es gleich zugeben, ich weiß bis heute nicht – und wir haben Mitte Januar – , wie es dazu kam, dass genau die beiden ab neun Uhr abends auf meinem Sofa hockten. Ich weiß nur, dass ich jeden einzelnen von ihnen gerne einfach rausgeschmissen hätte. Ich glaube, ich habe es sogar versucht. Habe Paul in der Küche angeraunzt, dass es mit über vierzig Jahren erbärmlich ist in einer fremden Küche, mit aus der Nachbarschaft zusammengeschnorrten Ölresten, in einem qualmenden Topf etwas als Fondue zu verkaufen, dessen einzige Zutat ein paar abglaufene Tofubrocken sind. Und habe Anne mehrfach gefragt, wie man glauben kann, dass zwei Teenager Lust auf Bleigießen mit der Mutter haben könnten. Ich glaube ich war an Silvester noch nie so schlecht gelaunt wie letztes Jahr. Da war es dann schon egal, als auch noch Herr Iwanov auftauchte.
Schräg über meiner Wohnung feierte die Studenten WG. Laut, fröhlich und bestimmt mit Glitzer. Unten bei mir sitzen vier und schauen einen Agatha Christi Film, auf den keiner Lust hat. Ein erbärmliches Quartett und mindestens drei von uns haben sich – da bin ich sicher – noch nie so alt wie an diesem Abend gefühlt. Wir sind jetzt offiziell die Alten, die nix vor hatten, sagte Paul und Anne nahm mir – danke dafür – die Gabel aus der Hand, bevor sie in Pauls Oberschenkel landen konnte. Ich will jetzt ins Bett, verkündete ich in den letzten Minuten des Jahres 2022.
2023
Um halb eins, im noch sehr jungen neuen Jahr, habe ich silberenes Konfetti in den Haaren, ein Glas Cremant in der Hand und komplett den Überblick verloren, wer auf meinem Sofa sitzt, was in meiner Küche vor sich geht und warum sich gut und gerne 25 Menschen in meinem Wohnzimmer in den Armen liegen und sich seit zwanzig Minuten ein gutes neues Jahr wünschen. Vor 30 Minuten standen wir noch zu viert auf dem Balkon um wenigstens das Feuerwerk zu sehen. Ich glaube wir sahen so verloren, so traurig und so bemitleidenswert aus, dass die Jungs aus der WG uns wenigstens Wunderkerzen runter bringen wollten. Sie kamen aus Mitleid. Warum sie blieben und der Rest nachkam? Vermutlich weil die WG bei der Hausverwaltung eh schon angezählt ist. Vielleicht auch weil Paul seinen überaus reichhaltigen Getränkevorrat anschleppte und großzügig zur Verfügung stellte. Vielleicht aber auch, weil es sinnlos ist und schon immer war, den letzten Abend im Jahr zu planen und man doch eigentlich immer spontan irgendwo landete und dann blieb, weil es unerwartet schön war. Ok, und weil die mittelalte Nachbarin, bei der man landete die einzige ist, die sich um kurz vor zwei Uhr nachts mit der alten Obst anlegt und überhaupt nicht daran denkt, die Musik leiser zu drehen.
Am Ende kam es doch noch – das Silverster Happy End, von dem ich behaupte es nicht zu brauchen, ohne das ich das Jahr aber nicht beschließen kann. Nie gleich, aber immer etwas, an das ich mich zurück erinnern kann. In diesem Jahr sind es meine Nachbarn. Anne, die stundenlang in meinem Wohnzimmer mit einer Horde zwanzig Jähriger tanzte, Herr Iwanov der die besten Drinks mixte, die WG, die irgendwann nicht mehr aus Mitleid sondern Spaß blieb und natürlich Paul. Besonders Paul, der es irgendwie schaffte, dass ich mit Anne tanzte und es ihm überließ, den Überblick zu behalten. Er war es, der im Morgengrauen die restlichen Nachbarn überzeugte, dass es bestimmt bald ruhiger werden würde und er hielt Herrn Iwanov davon ab in seinem Keller nach alten Feuerwerkskörpern der Jahrtausendwende zu suchen. Besonders das rechne ich ihm hoch an, denn so gern ich Herrn Iwanov mag…wenn es einen hier im Haus gibt, der es versehentlich sprengen könnte, dann er.
Schön war´s, oder, frage ich Paul als schließlich auch er ging und drücke kurz seine Hand. Ganz tapfer hat er genickt. Wir waren in dieser Nacht die Alten. Anne, Herrn Iwanov und mir war es egal. Die Jahrzehnte kommen schließlich nicht über Nacht. Nur der Moment, in dem man sich das erste Mal eingestehen muss, dass man jetzt endgültig nicht mehr „ein junger Erwachsener ist“, der ist hart. Paul, der hat es an Silvester das erste Mal gespürt. Und das erste Mal ist nie leicht. Keines der jungen Mädchen hat sich für ihn interessiert und er war klug genug es zu akzepieren und sich nicht zum Affen zu machen.
Zum Abschied zupft er mir ein Konfetti aus den Haaren und lächelt sein Rhett Butler Lächeln. Ich sag es ihm nicht, aber Paul hat noch einige gute Jahre vor sich. Mit diesem Lächeln wird er die nächsten Jahrzehnte noch viele Herzen schneller schlagen lassen. Nur vielleicht nicht mehr die von Zwanzigjährigen. Er wird sich daran gewöhnen.
Da kann ich nur zustimmend nicken: das erste Mal ist hart. Ja, aber dann lebt es sich ganz gut 🙂
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Langsam entdeckt man auch schönes daran. Es braucht nur ein bisschen. 🙂
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Bis hierher konnte ich dir noch folgen: „…Ein erbärmliches Quartett und mindestens drei von uns haben sich – da bin ich sicher – noch nie so alt wie an diesem Abend gefühlt. Wir sind jetzt offiziell die Alten, die nix vor hatten, …“ und hätte gesagt, wenn du noch einige Jahrzehnte älter wirst, findest du das sogar gut, dass es ohne Trubel abgeht, aber dann kommt ja die große Wende in deiner Berichterstattung – also war Mitzi wieder in ihrem Element.
Und tschüss
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Ein bisschen ruhiger hätte es sein dürfen…aber so ungewollt öde….ach Clara, das war wirklich scheußlich.
Hätte ich das geplant ok, aber ich war einfach doof und mich zu sehr darauf verlassen, dass es sich schon irgendwie ergibt. Hat es ja auch, aber das war nur Glück 😉
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wieder mal ein herzchenpost von dir ❤
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❤ Freut mich 🙂
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Na, dann Prosit Neujahr! – die tabletfixierte (echte, wirkliche, noch längst nicht 20-jährige) Jugend nebenan, unbeaufsichtigt, hat dann ihre Böller, illegal erworben, in der Wohnung erprobt? Oder sich einfach verdrückt zu der einen aus ihrer Klasse, deren Eltern leichtfertig verreist sind und die rasch über What’s App eine Party organisierte, die die durch die Teuerung angeschlagene Baubranche gerade noch mal rettete?
Glitzer im Haar, dann auf dem Kopfkissen und morgens im Kaffee mochte ich noch nie gerne leiden. Aber es gibt diese Momente, in denen man derlei duldet oder nur noch am Rande mitbekommt. Aber das Gemaule kommt vermutlich daher, dass die ruhige Coronazeit so abrupt beendet wurde, die allzeit Vorbereiteten eine Schießerei anfingen, zum Glück bislang nur mit Silvesterraketen (hier zumindest) und gar nicht wieder aufhören wollten. Ja, so laut hätt’s nicht sein müssen…
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Auch mir war es eindeutig zu laut. Vielleicht liegt es daran dass die meisten hier wirklich meinten etwas nachholen zu müssen, aber in meinem Viertel, hatte ich das Gefühl dass sie einfach komplett durchgedreht sind. Die Teenager aus der Nachbarwohnung sind übrigens irgendwann zu uns rüber gekommen und auch wenn sie es nie zugeben würden, ich glaube auch Ihnen hat es gefallen.
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Satanarchäolügenialkohöllisch anrührend
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Danke.
Was für ein fantastisches Wort!
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Ehre, wem sie verdientestermaßen gebührt 😊
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🙂
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