Speicherplatz

Ich glaube fest daran, dass es Orte gibt, die Erinnerungen besonders gut konservieren. Weit besser als jedes Tagebuch, detaillierter als Fotos und zuverlässiger als das eigene Gedächtnis, hüten sie all jene Erinnerungen, die man bereits zu vergessen geglaubt hatte. Es reicht zu ihnen zurück zu kehren und für einen kurzen Moment inne zu halten und all das was dort verstaut ist, kommt wieder hervor. Manches leise und manches mit solcher Wucht, dass man verwundert den Kopf schüttelt und sich fühlt, als wäre man gegen eine Wand gelaufen. Emotionen jeder Art hängen in den Vorhängen und zwischen den Fugen der Holzbretter hört man das Lachen von Jahrzehnten. Verstehen Sie mich richtig, man erinnert sich nicht an das Lachen, man hört es! Und wenn man oben am Fenster steht und nach unten auf die Lichtung blickt, dann hört man mich.

Das zumindest sagt einer meiner Freunde, der schwört, dass er dort an diesem Fenster stehend noch immer mein 18 jähriges Ich hört, dass zwischen Wut und Verzweiflung schwankend zu ihm nach oben ruft, dass er ein Vollidiot sei, wenn er sich nicht sofort in mich verlieben würde. Ich höre es nicht, ich war ja nicht oben. Ich stand unten und wenn ich heute zu diesem Fenster nach oben blicke, dann höre ich ihn, der mich eine dumme Kuh schimpfte, weil er es doch längst sei. Ein Fenster darunter ist stiller, dort schreit niemand, aber wenn man genau hinsieht, dann sieht man alle, die dort lehnten und nach draußen sahen. Das Fenster beim Waschbecken dient seit Jahrzehnten der Kommunikation. Ganz still ist es also doch nicht. Dort wurden Fußballergebnisse unzähliger E- und WMs von drinnen nach draußen weiter gegeben, Kinder zum Essen gerufen, ins Bett oder unter die Dusche geschickt und Schüsseln und Teller aus der Küche zum Tisch im Hof gereicht. Von jedem, der an diesem Fenster lehnte hängt noch etwas im absplitternden Holz des Rahmens. Eine Berührung mit dem Ellbogen reicht und die Person ist einem wieder ganz nah. Im Fenster ganz hinten an der Treppe die nach oben führt, sind nur Schatten zu sehen. Ich kann mich an niemanden erinnern, der dort gerne lange gestanden und nach draußen geblickt hätte. Unweigerlich müsste man sich bei diesem Anblick fragen, wer auf die wahnwitzige Idee gekommen sein mag, ein Holzhüttchen so dich am Abgrund zu bauen. Die meisten huschen an diesem Fenster nur schnell vorbei und vermeiden den Blick nach unten. Und trotzdem flüstert auch dieses Fenster manchmal. Es beruhigt uns und erklärt, dass hier noch nie eine Hütte den Hang nach unten gerutscht sei. Ich will ihm glauben. So sehr wie den alten, aber bequemen Matratzen, die mir bestätigen, dass meine Freunde die dort alle schon lagen, die besten und wunderbarsten Menschen sind, mit denen man sein Leben teilen kann. Auch das kleine Beil im Schuppen ist der Meinung erinnert aber, sobald ich es in der Hand halte daran, dass es manches lieber nicht gesehen hätte. Morde geschahen hier nicht. Aber es wundert sich noch heute, dass wir uns als Teenager nicht jeder mindestens einen Daumen abgehackt haben.  

Im Keller, der eigentlich keiner ist, aber auf irgendetwas muss so ein Holzhäuschen ja stehen, wohnt eine uralte Truhe. Vor vielen Jahrzehnten beinhaltete sie alles was meine Urgroßeltern aus der Flucht aus dem damaligen Sudetendeutschland mitnehmen konnten – heute ist sie mit Styropor ausgekleidet und kühlt Getränke. Manchmal, wenn ich ein paar Flaschen nach oben hole, fahre ich mit den Fingern über den eingravierten Namen. Dann erzählt auch sie – über Dinge die lange vor mir gewesen waren, die mir dort in der Hütte aber oft von meinen Großeltern und ihren Geschwistern erzählt wurden. Meist bin ich um die Sonnenwende herum dort. Letztes Wochenende war ich und auch heute wäre ich es gerne und würde den Baumwipfeln im Abendwind ein wenig zuhören. Sie erzählen von meinem fünfjährigen Ich, das dort im Wald stundenlang mit Tannenzapfen und Moos gespielt hat. Bald, spätestens dann, wenn die Sternschnuppen kommen, fahre ich wieder nach oben. Dann lege ich mich auf das Sofa und höre das Lachen von mehreren Generationen in den alten Balken. So viele Erinnerungen an einem Ort. Meine, die meiner Freunde, meiner Eltern, ihrer Freunde und ein paar von meinen Nichten und Neffen. Bis dahin erzählt die Hütte ihre Geschichten einem anderen. Gerade meinem Vater und einem seiner Freunde.  Nächste Woche….ach, so genau weiß man das nie. Über die Jahrzehnte haben sich die Schlüssel verteilt und ich schätze, mittlerweile gibt es ein gutes Duzend. Einen solchen Schatz muss man teilen und mein Vater hat es immer und gerne gemacht. Vielleicht fahre ich schon nächste Woche hoch – ich würde mich gerne meinem Großvater ein wenig nah fühlen. Wenn ich mich auf das Fensterbrett rechts lehne, dann geht das ganz leicht. 

1979 Juni Opa Hüttenfenster

 

 

 

12 Gedanken zu “Speicherplatz

  1. Liebe Mitzi,
    was für ein Kapitel aus Deiner Familiengeschichte, die Du manchmal aufschlägst und wundervoll erzählst.
    „Unweigerlich müsste man sich bei diesem Anblick fragen, wer auf die wahnwitzige Idee gekommen sein mag, ein Holzhüttchen so dich am Abgrund zu bauen.“
    Damit verstehe ich Dein Viertel Blog-Motto „gerne am Abgrund taumelnd“, so dich, auf neue Weise.
    Gute Wünsche zum Sommeranfang
    und schöne Grüße
    Bernd

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    1. Daran habe ich noch gar nicht gedacht, Bernd. Aber du hast recht – das Motto passt recht gut zu dieser Hütte. Vielleicht wäre also auch ich auf diese wahnwitzige Idee gekommen ;).

      Herzliche Grüße

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  2. wunderschön! ich spüre soviel sehnsucht in diesem text, die sich glaube ich aus einer fröhlich-wehmütigen erinnerung deinerseits und ein bisschen eine andere art davon von mir zusammensetzt. es fühlt sich fast an, als wäre ich dabei gewesen!

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    1. Danke! Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir (glaube ich) oft ähnlich ticken. Zumindest die Bandbreite an Emotionen dürfte sich (mag der Grund auch ein anderer sein) decken. :-*

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  3. Immer wenn ich mich an nicht so schöne Dinge erinnere, sagt man mir, ich solle im hier und jetzt leben. Aber auf so schöne Erinnerungen wollen wir nicht verzichten. Sie geben Kraft für die Zukunft.
    Liebe Mitzi,
    ich wünschen Ihnen ein prima Wochenende!
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich,
      im hier und jetzt zu leben ist sicher nicht verkehrt. Aber ich glaube, das es nicht zu Lasten von Erinnerungen geschehen sollte. Die halte ich für Wertvoll.

      Herzliche Grüße
      Mitzi

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  4. So nett erzählt – aber gell, das angefügte Foto ist nicht direkt eine Dokumentation dieses fast schon Shakespearschen Dialoges? Von wegen blöde Kuh, Vollidiot, ganz wie einst die Jule und ihr Romeo (wenn ich mich recht erinnere warens damals irgendwelche Vögel, Nachtigallen, Lerchen)?

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