Eigentlich suchte ich etwas anderes. Gelandet bin ich bei alten Kalendern, deren Einträge mich heute sentimental machen, berühren und mit ziemlicher Wucht durch die Jahrzehnte schleudern.
22.03.2000
11:00 Uhr – Katrin Strand Enfola
15:00 Uhr – Catharina Portoferraio
23.03.2000
10:30 Uhr – Micha, Carmen, Katrin Rom
Verdammt. 20 Jahre?!? 20 Jahre ist es her, dass ich mit Katrin am Strand von Enfola auf Elba saß. Wahrscheinlich ist es richtig, denn es steht in meinem Kalender. Irgendwo habe ich ihre Nummer und werde sie anrufen. Nach acht Jahren seltsam. Momentan völlig normal. Wir erkundigen uns nach dem Verbleib von Menschen, die es aus unserem Alltag gespült hat. Jetzt wo der nicht mehr existent ist, bleibt die Zeit nachzufragen. Sie müsste in Norddeutschland sein. Noch immer mit segelnd. Wie damals, als wir uns in diesem verrückten, verrückten Sommer kennen lernten. Dem Sommer in dem mein Freund nach Italien zog und ich zu pendeln begann. Vielleicht der schönste Sommer meines Lebens. Und Catharina…das Kindermädchen bei der lustigen Familie. Facebook hält mich auf dem Laufenden. Sie ist in Kanada. Wie es dort wohl mit Corona ist? Ich schreibe ihr zwischen Home Office und Wäsche aufhängen. Ob sie noch weiß wie sehr wir gelacht haben, heute vor 20 Jahren. Wir lachten – mein Freund nicht. Der hatte Angst, dass wir uns bei unseren Fahrkünsten auf der kurvigen Küstenstraße den Hals brechen würden. Es war schon warm, das weiß ich noch. Aber noch mehr erinnere ich mich an das Lachen. Heute fehlt es – das Lachen.
Rom! Du mutigster meiner Freunde, weißt du noch, Rom? Heute vor 20 Jahren liefen wir durch Rom. Andere hätten sich Sehenswürdigkeiten angesehen, aber wir, wir waren auf diesem Markt gestrandet und Carmen kaufte die alte, eiserne Waage, die du den ganzen Tag tragen musstest. Du warst so stinkig, dass du kurzzeitig jede Kommunikation verweigert hast. Heute hätte ich dich auch schlecht gelaunt und meinetwegen auch stinksauer gerne hier. Dass es nicht geht, macht mich unruhig. Ich bin es nicht gewohnt, dich nicht sehen zu können, wenn ich es möchte. Dich und die anderen beiden – das Dreigestirn meiner engsten und liebsten Freunde, die mich in- und auswendig kennen und die ich im Wechsel anrufe um zu hören ob alles ok ist. Rom….die ewige Stadt, sie wartet bis wir wieder kommen.
22.03.2001
11:30 Uhr – Zug Mailand
21:30 Uhr – Bruno & andere essen gehen
23.03.2001
19:00 Uhr – Micha – Kekko
Oder Mailand. Heute würde ich mich sogar in Mailand mit dir treffen. Die Stadt, die ich eigentlich nicht mag und von der ich erst jetzt merke, wie sehr sie mir in den Monaten in denen ich dort lebte, ans Herz gewachsen ist. Bruno hält sich tapfer. Kocht und postet aus der Quarantäne Bilder auf Facebook. Mitten drin auch er. So mitten drin, dass jedes Lebenszeichen eine große Freude ist. Gestern vor 19 Jahren war ich mit ihm und all den anderen Essen. Und heute, sagt mein Kalender, trafen wir uns mit diesem japanisch, italienischen Pärchen von dem ich nur zu gerne wüsste ob sie zusammen geblieben sind. Oder noch befreundet und überhaupt, wie geht es ihnen wohl? Ich hoffe gut. Ich hoffe es sehr. Dieser eine Abend war einer der lustigsten in Mailand. Eines der Fotos von diesem Abend hängt noch heute an meiner Wand. Wusstest du, du Mutigster, dass du heute vor 19 Jahren einen dunkelblauen Pullover anhattest? Ich schon. Wichtiger aber, wie geht es dir heute? Lacht wenigstens die Sonne?
22.03.2002
11:00 Uhr – Mel!!!!!! & 17:00 Uhr – Verona Schlüssel holen
23.03.2002
17:30 – Micha Piazza Bra
Hierfür hätte ich nicht in den Kalender schauen müssen. Seit „Nix mit Amore“ kann ich mich an das Datum wieder erinnern. Nach jahrelangem Pendeln bin ich heute vor 18 Jahren das erste Mal in Italien in meiner ersten eigenen Wohnung aufgewacht. Nach der chaotischsten Nacht meines Lebens. Und dem größten Zufall, Schicksal oder was auch immer, weil der mutigste meiner Freunde fast zeitgleich – nach dem einzigen, richtigen Streit den wir in all den Jahren hatten – und unabhängig von mir ebenfalls nach Verona zog. Mein Verona Jahrestag und diesmal frage ich mich, wie es ihnen geht. Dem Posaune spielenden Nachbarn, der unter mir lebte. Dem lauten Kind, das heute keines mehr ist, und der alten Frau von oben. Ich kann mich an ihre Namen nicht erinnern, aber ich wünsche mir, dass es ihnen gut geht. Dass sie nicht zu jenen gehören, die gesundheitlich betroffen sind und das sie die Zeit gut überstehen. Allen, die mir damals, in den ersten Tagen halfen, wünsche ich es.
22.03.2003
10:00 Uhr Roza, Stefano
15: 00 Uhr Leo, Raffa Mercato
23.03.2003
20:00 Uhr Francesca
2003, da war ich schon lange angekommen und lebte meinen wunderschönen italienischen Alltag. Den gibt es dort gar nicht mehr und hier bei mir ändert er sich mit jedem Tag mehr. Und wieder die Frage, wie es ihnen in Italien wohl gehen mag. Von zweien weiß ich es bereits. Es geht, weil es gehen muss. Die Dritte weinte am Telefon, weil es bei ihr eben nicht mehr geht. Nach einer halben Stunde lachte sie wieder. Ganz leise und tapfer und erkundigte sich nach mir. Alles gut, sagte ich. Seltsam, aber alles gut.
23.03.2020
Kontaktverbot, Ausgangsbeschränkung und geschlossene Grenzen. Andrá tutto bene. Alles wird gut.
„Andrá tutto bene“, come si spera.
Herzlichst, Ulli
LikeGefällt 1 Person
Es wird schon werden.
Herzliche Grüße zu dir, liebe Ulli
LikeGefällt 1 Person
Liebe Mitzi,
unsere Freundin heißt Andra, und die ist wirklich tutto bene.
Sie wird sich freuen, das hier zu lesen! 😉
Was die Wucht angeht, die mich durch meine Jahrzehnte schleudern, reicht das bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurück.
Aber gefühlt war das ja auch erst neulich. Schon erstaunlich, wie schnell die Jahrzehnte dahin rasen und wie riesig die Differenz zwischen dem Denken und Fühlen im Kopf ist und der Beschaffenheit der Jahresringe im Körper. 😉
Gruß Heinrich
LikeGefällt 1 Person
Lieber Heinrich, das Rasen der Jahrzehnte ist unheimlich. Ob man sich je daran gewöhnt? Ich glaube nicht. Meine Eltern sprechen gerne von „Rentner“ und ich ahne, dass sie sich denen so gar nicht zugehörig fühlen. Eigentlich aber auch schön. Wir bleiben Jung im Kopf und nur manchmal merken wir wie sehr die Zeit fliegt 🙂
Herzliche Grüße.
P.S. Jahresringe im Körper…das gefällt mir!
LikeLike
Oft habe ich in den letzten Tage an dich gedacht und wie es dir wohl geht, die du dein halbes (oder gar ganzes?) Herz in Italien hast
LikeGefällt 1 Person
…zu früh auf Senden gedrückt…
Pass gut auf dich auf, liebe Mitzi!
Liebe Grüße, Veronika
LikeLike
Liebe Veronika, ich schreib viel zu selten unter deine Texte, aber ich lese sehr viele.
Mir geht es gut, aber ja…ich mache schon sehr viele Gedanken um Freunde und Bekannte. Das Italien Herz weint bei den Berichten.
Liebe Grüße
LikeGefällt 1 Person
Liebe Mitzi,
alles Liebe dir. Es wird wieder werden. Irgendwie. 🌷
Liebe Grüße, Veronika
LikeGefällt 1 Person
„Bella ciao“
LikeGefällt 1 Person
🙂
LikeLike
Gänsehaut, von oben bis unten.. ich hab auch solche Kalender. 2000 war auch für mich ein besonderes jahr, der 22.3.2003 ist auch in meinem gedächtnis hängen geblieben, war aber… nicht so super. trotzdem, vieles erinnernswertes, so viel glück, verrücktes lachen und menschen im leben… wenn es außen ruhig wird, wird es innen laut. ich hab das letzten sommer mal beschrieben, obwohl es um was ganz anderes ging. jetzt stimmt es irgendwie grade wieder… sehr.
LikeGefällt 1 Person
Das ist mein Satz des Tages: Wenn es außen ruhig wird, wird es innen laut. Der ist stark und ich weiß was du meinst. Im Moment kann es sehr laut werden.
LikeGefällt 1 Person
ja, der kommt auch bei mir… immer wieder… ❤
LikeGefällt 1 Person
❤
LikeLike