Spring!

Spring, höre ich dich leise flüstern und schüttle den Kopf. Noch nicht. Noch ist es hell und nur vereinzelt hört man es krachen. Spring, flüsterst du noch einmal und ich nicke. Bald. Bald springe ich. Springe wie an jedem 31.12. seit den Neunzigern, als Irgendeiner unseres Freundeskreises es für eine gute Idee hielt, den Imperativ als Motto für eine Silvesterfeier auszurufen. Wir kannten uns nicht, als wir uns das erste Mal begegneten und sprachen in dieser Nacht kein Wort miteinander. Aber wir müssen uns gesehen haben, in dieser Nacht in den Neunzigern. Auch wenn das Haus damals hoffnungslos überfüllt war, sich bestimmt fünfzig bis sechzig Teenager darin befanden, vor der einzigen Toilette oder auf der Terrasse wo die Getränke gekühlt wurden, müssen wir uns irgendwann begegnet sein. Die „Spring“ war noch Jahre später legendär und jeder damals dabei war, erinnert sich. Nicht an alle Gesichter, aber doch an den Moment als …naja, als es etwas aus dem Ruder lief. Noch heute bekomme ich an Silvester Nachrichten, die nur ein Wort enthalten „Spring!“. Damals sind wir gesprungen, nicht miteinander, aber auf den gleichen 120 qm in irgendein neues Jahr der Neunziger.

facetune_31-12-2019-13-59-15Auch in den Jahren darauf müssen wir uns begegnet sein, ohne uns wahrgenommen zu haben. Wer im gleichen Viertel aufwächst, verlässt es in den ersten Jahren nur wenig und pilgert später dorthin wo alle sind, wenn die letzten Minuten des Jahres verstreichen. Vielleicht standen wir am Friedensengel nebeneinander, kämpften in der Goldenen Kanne um einen Platz an der Bar oder legten den Kopf auf der Wittelsbacher Brücke im selben Moment in den Nacken, um das Feuerwerk über uns zu sehen. Wir kannten die selben Menschen, nur waren deine engsten Freunde für mich nur flüchtige Bekannte und meine besten Freunde kanntest du nur vom sehen. Trotzdem, warst du überzeugt, sprangen wir mehr als einmal gemeinsam. Wenn München ein Dorf ist, dann war Giesing/Harlaching unser Kindergarten.

In den folgenden Jahren trennten uns viele Kilometer. Weil wir uns nicht kannten, merkten wir es nicht. Ich feierte in Amsterdam, Los Angeles und Meribel und du in London, Kapstadt und Paris. Wir hatten Handys und auf beiden landete in all den Jahren das ein Wort, dass uns damals schon viele Sylvester begleitete. Spring! Ich einmal krank und alleine und du mit Gipsbein und deinen besten Freunden in der Notaufnahme. Zu blöd zum Springen schrieben sie dir auf den Gips, während ich den meinen die Tür nicht öffnete, als sie weit nach Mitternacht doch noch zu Besuch kommen wollten. In verschiedenen Ländern lebend, sprangen wir an diesen Abenden in Beziehungen. Du in eine, ich in eineinhalb, weil wir uns nie darauf einigen konnten, ab wann eine Affäre endet und eine Beziehung beginnt. Wir konnten uns auch an unserem ersten gemeinsamen Silvester nicht einigen. Du lehntest eine Beziehung kategorisch ab, ich stieß mit deinem Bruder auf unseren ersten Jahrestag an. Spring, sagte ich und schubste dich, weil ich viel eher als du wusste, dass wir ab jetzt immer gemeinsam in die neuen Jahren springen würden. Wir hätten zu wenig Zeit, sagtest du und ich zuckte mit den Schultern. Das Ende vor Augen, batest du mich zu verstehen und ich lachte, weil ich mir so sicher war, dass wir erst ganz am Anfang stehen würden. Der Anfang vom Ende, sagte dein Bruder und ich war dumm genug, darauf anzustoßen. Auf alles was kommt, rief ich und ihr habt die Augen verdreht, weil ich es nicht wusste, ihr aber schon ahntet. Spring, murmelten wir um Mitternacht gemeinsam und umarmten uns.

Menschen, die man einmal um Mitternacht am Jahreswechsel umarmt hat, bleiben. Sie verblassen unter dem Jahr, aber spätestens um Mitternacht tauchen sie auf. Manche real, weil München ein Dorf ist. Alle anderen als flüchtigen Schatten, Gedankenblitze und Erinnerungsfetzen. Wir springen noch immer alle gemeinsam. Um Mitternacht färbt sich der Himmel bunt und wir alle sehen ihn. Der mutigste meiner Freunde, am Meer; der Klügste mit seinen Töchtern auf dem Arm; der Beste direkt neben mir, meine Eltern auf ihrem Balkon und die Teenagern aus den Neunzigern irgendwo, aber nicht irgendwann, sondern im genau gleichen Moment wie ich und das verbindet. Spring schreibt einer und duzende antworten. Um Mitternacht springen selbst die, die nicht mehr da sind, mit uns gemeinsam. Ihr zwei wart die ersten, aber es sind mehr geworden. Ein Schluck aus dem Glas schmeckt immer bitter. Nach Alter, Krebs, Autounfällen oder Idioten, die das mit dem Springen zu wörtlich genommen haben. Einer, der Rest schmeckt nach dem neuen Jahr und all Erinnerungen der vergangenen Jahre.

Spring, sage ich leise zu dir. Und Idiot. Dann mache ich mich langsam fertig. Du bist bei mir, wenn ich um Mitternacht im Nebel stehe. Stehst neben mir, wenn ich das neue Jahr unter 500 Luftballons begrüße und nimmst mir mir Anlauf, wenn ich mit meinen Freunden kurz vor Mitternacht durch die Stadt renne, während über uns die ersten Raketen den Himmel bunt färben. Es ist ein wenig seltsam, dass ich von all meinen Freunden, mit dir am wenigsten Jahresenden erlebt habe und du mir doch noch immer am nächsten bist.

 

20 Gedanken zu “Spring!

    1. Lieber Werner,

      ich danke dir. Ich freue mich so sehr, dich persönlich kennen gelernt zu haben. Du und deine wunderbaren Segenswünsche sind mir sehr ans Herz gewachsen. ☺️

      Viele liebe Grüße und eine Umarmung
      Mitzi

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  1. was für ein wunderschöner gedanke. und es macht nie die anzahl, es macht immer nur die intensität. ach, deine texte über ihn und seinen bruder. jedes mal möchte ich lachen und heulen.

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