Danke, schreibe ich den Gruppenchat mit meinen Kollegen und radiere ein paar Minuten später die kleinen Kreuze rund um Pfingsten aus dem Kalender. Mittlerweile reicht eine WhatsApp ans Team um den Urlaub zu verschieben – es ist das fünfte Mal und lange Erklärungen sind nicht mehr nötig. Auch beim Vermieter des kleinen Appartements in Ligurien reicht ein Smiley und ein knappes „mi dispiace“ – es tut mir leid. Ihm auch, das sehe ich an der ebenso kurzen Antwort. Vielleicht Ende Juni, Anfang Juli. Da setze ich jetzt die Bleistiftkreuze im Kalender und wenn es dann nicht klappt, macht das Schieben keinen Sinn mehr, weil dann bereits der nächste für diese Jahr geplante Besuch des mutigsten meiner Freunde in Italien anstehen würde. Überhaupt macht das Planen keinen Sinn. Meine Lesungen wurden bereits so oft verschoben, dass ich längst den Überblick verloren habe und vermutlich mindestens eine gründlich gegen die Wand fahren werde, weil ich die Kalendereinträge vor lauter Pfeilen, Fragezeichen und Radiergummischlieren nicht mehr lesen kann. Irgendwann werde ich wieder lesen, ein Jahr Pause ist nicht schlimm. Ein wenig schon, den gerade begann es gut zu laufen, aber meine Existenz hängt nicht davon ab. Schlimm ist das Fehlen eines solchen Abends an sich. Losgelöst von der Lesung selbst – egal ob ich oder andere gelesen haben – das Drumherum, das fehlt. Am meisten das im Münchner Valentinhaus. Da hilft irgendwann auch kein gemeinsam eingelesener Adventskalender und kein kleines Treffen mit einem Ensemblemitglied mehr. Beides wirklich schöne und tolle Dinge, aber es bleiben Teile von einem großen Ganzen, das sich komplett zerschlagen hat.
Das Publikum im Valentinhaus war immer ein ganz besonderes. Wahrscheinlich, weil man es kennt. Zum einen die Freunde und Bekannten die man selbst mitbringt, zum anderen die, die selbst regelmäßig lesen oder so gut wie immer zu den Veranstaltungen kommen und dann noch die, die im Viertel wohnen und einem längst ans Herz gewachsen sind. Die meisten nicht mehr jung, manche in einem Alter von dem man sich selbst wünscht, später noch geistig so wach und körperlich fit zu sein. Menschen bei denen man erleichtert ist, sie nach der Sommerpause noch zu sehen. Wegen ihnen ist die Coronapause zunehmen schwerer zu ertragen. Wir, die wir zwischen dreißig und fünfzig sind, können abwarten. Irgendwann wird es schon wieder gehen. Wir reden uns die erzwungene Ruhe schön, murmeln etwas davon, dass es ja irgendwie auch etwas gutes hat und versuchen das ganze mit schwarzem Humor rumzubringen. Bei manchen aus dem Publikum sieht es anders aus. Einer meiner liebsten Gäste im Valentinhaus ist eine ganz wunderbare ältere Dame, die – so glaube ich – mittlerweile um die neunzig ist. Ob ich sie noch sehen werde, wenn wir wieder so können wie wir wollen? Ich hoffe es, aber realistisch betrachtet, sinkt die Chance mit jedem Corona-Monat. Seit Weihnachten schreiben wir uns Karten. Das ist schön, aber am Ende nur ein fader Ersatz – für sie, die wunderbare alte Dame. Ich kann mich beschäftigen. Ich kann abwarten. Aber bei ihr, bei ihr ist alles weggebrochen, was geistig und körperlich fit hält. Kulturelle Veranstaltungen, die sie mit ihren Bekannten besuchte sind geschlossen. Der Verein organisiert seit über einem Jahr gar nichts mehr und die Busfahrten und Tagesausflüge die sie noch immer regelmäßig unternommen hat, die gibt es nicht mehr. Und auch die Lesungen im Valentinhaus, die sie fast ausnahmslos besucht hat, finden nicht mehr statt. Sie schrieb mir, dass es sie es vermisst, sich danach noch ein Stündchen mit uns zu unterhalten. Auch wir vermissen es, denn sie hatte immer etwas interessantes zu erzählen. Das Zusammentreffen von vielen Menschen unterschiedlichem Alter und Lebensumständen war es, das diese Abend zu etwas besonderem gemacht hat. Bei allem Verständnis für das was wir gerade versuchen zu bekämpfen – für Menschen wie sie, wird es eng. Da rinnt die Zeit und das fühlt sich nicht gut an.
Auch nicht für Herrn Mu, der alleine an der Bushaltestelle hockt und die Masken verflucht, die ihn davon abhalten Gespräche zu führen. Wie schlecht er hört, weiß er erst, seit er die Münder der anderen nicht mehr sieht. Ihm ist es jetzt egal und er wird still. Seit Anfang des Jahres schaut er nur noch und lüpft den Hut, wenn er ein bekanntes Gesicht sieht. Das ist nicht gut. Bei ihm zu Hause ist es still. Er braucht das Leben draußen und ich verstehe, dass es ihm und einigen anderen alten Menschen zunehmend egal wird, dass sie ihren neuen Platz – eine Bank im Park, mit vier Haushalten bevölkern. Diese vier treffen ihre eigene Entscheidung, damit sie nicht eingehen. Nicht erlaubt, aber verständlich. Letztendlich, da es immer die selben sind, wird die Bank zum Haushalt und ist damit nur einer, sagt mein Nachbar Herr Meier, der sonst nicht mehr viel sagt. Herr Meier erklärt, er bleibt daheim, bis er wieder so kann wie er will. Wäre er keine 80, dann könnte man den Satz abnicken. So aber, rennt ihm die Zeit davon und das weiß er selbst am besten. Weder die Kneipe im Haus kann er besuchen, noch sich Trauergesellschaften am Friedhof anschließen. Auch für Herrn Meier wird es langsam eng.
Eine Nachbarin verteilt Kuchen. Mir versüßt sie damit den trüben und verregneten Nachmittag. Herrn Meier höre ich im Treppenhaus leise, Scheiß Kuchen murmeln. Ich kann es ihm nicht verdenken.