Ich weiß genau, was sie denkt. Ich weiß es, ohne hellseherische Fähigkeiten zu haben und weiß es sogar, ohne mich umzudrehen, um ihr ins Gesicht zu schauen. Ein Gesicht, das sehr wahrscheinlich auch gar nicht mehr in meinem Blickfeld ist, weil sie längst sich zurückgezogen hat, um nicht mit mir in Verbindung gebracht zu werden. Mittlerweile versteht sie genug italienisch, um zu begreifen, dass ich mich gerade so derart zum Affen mache, dass es besser ist, sich das Drama nicht live mitanzusehen. Es bleibt ihr also erspart mitanzusehen, wie ich leise fluchend, barfuß auf Zehnspitzen über eine mit piksenden Kletten übersäte Wiese tapse, die Arme aus Gründen des Gleichgewichts seitlich weit von mir strecke und in den Händen zwei leere Colaflaschen halte. Mir wiederum bleibt nicht erspart, zu erkennen, dass ich noch immer im Nachthemd bin und das fröhliche Winken vom Balkon am anderen Ende des Gartens mir gilt. Ich winke zurück und lege die letzten Meter mit dem Gefühl zurück, dass sich so in etwa Cersei aus Game of Thrones bei ihrem Bußgang gefühlt haben muss. Es hätte mich nicht gewundert, wenn weitere Nachbarn auf den Balkonen erschienen wären, mit massiven Glocken monoton geläutet und dabei bei jedem meiner Schritte „Schande“ gerufen hätten.
WeiterlesenEine Schande
