Ich würd´s ja nicht machen, gebe ich dem Nachbarsjungen auf den Weg und er ist gerade noch klein genug, um sich nicht sicher sein zu können, ob ich ihn auf den Arm nehme oder meine geflüsterte Warnung ernst meine. Todernst, gestehe ich mir selbst ein und winke der kleinen Reisegruppe durch das Küchenfenster. Nein auf die Bocca della Veritá in Rom kann ich getrost verzichten und würde meine Hand nicht für viel Geld zwischen die kalten Lippen aus Marmor stecken. Wie bescheuert muss man sein, so etwas zu tun? Kein halbwegs vernünftiger Mensch macht so etwas. Jedenfalls keiner der schon einmal einen Stephen King Roman gelesen (ES….da war es zwar ein Abfluss am Boden, aber letztendlich auch etwas vermeintlich harmloses) oder gesehen hat. Völlig idiotisch. Noch idiotischer, das mitten in der Nacht und ziemlich betrunken im deutlich unscheinbareren Pendant in Verona zu machen. Den Schreck, wenn unsensible Freunde einen im richtigen, falschen Moment dann einen Schubs geben…. unangenehm. Sehr, sehr unangenehm. Auch die vor Schreck gebrüllten Flüche, die etwas derber als vorgesehen waren….unangenehm. Dem etwas älteren Nachbarsmädchen schreibe ich vorsichtshalber noch eine WhatsApp und bitte inständig darum, die Finger NICHT in irgendwelche Münder zu stecken, bevor ich mich zurück auf das Sofa begebe und der Reisetasche im Flur einen Tritt verpasse. Wer will schon nach Rom, wenn er in München aktiver Teilnehmer einer hübschen Pandemie sein kann?
Ich! Ganz klar ich! Die Reise war seit fast einem Jahr geplant. Gebucht, reserviert und auf meine Lieblingsnachbarin, die beiden Kinder und mich abgestimmt. Kolosseum, Forum Romanum, die Katakomben, der Tiber und die Pyramide vor der ich das letzte Mal vor über zwanzig Jahren stand. Selten hatte ich mich so sehr auf einen Urlaub gefreut wie auf diesen. Nach Italien fahre ich oft. In Rom war ich bisher erst einmal und das nur für einen Tag. Mit diesen drei Menschen, mit denen ich seit Jahren Tür an Tür wohne, wäre es zudem etwas ganz besonderes gewesen. Wäre – weil ich mich (ungefragt) vier Tage vorher gegen die ewige Stadt und für Corona entschieden habe. „Merda“ antworte ich dem Nachbarsmädchen, als es mich per SMS fragt was scheiße auf italienisch heißt und frage mich ein paar Sekunden zu spät ob es klug ist alle Fragen einer Zwölfjährigen zu beantworten. Ihre Mutter hat dazu eine klare Meinung und schreibt ein paar Minuten später. Ich solle mich, solange ich Fieber habe, doch etwas zurück halten und nicht ganz so großzügig mit Schimpfworten und Horrorfilmszenarien um mich werfen. Dazu ein Küsschensmily und der Hinweis, dass man mich bereits vermissen würde. Das glaube ich ihnen sogar. Bestimmt nicht, weil jetzt einer fehlt der italienisch spricht – das braucht man in Rom nicht unbedingt und die drei eh nicht, die könnte man im Urwald aussetzen und sie würden überleben. Eher, weil wir uns wirklich mögen und sicher Spaß gehabt hätten. Sie werden mich mit Fotos versorgen. Das ist schön und ich vermisse sie ebenfalls schon jetzt. Ehrlich gesagt vor allem meine Nachbarin, die mir am ersten Tag der verordneten Isolation eine Tüte mit Lebensmitteln vor die Tür gestellt hat, die in etwa meinen eigenen Einkäufen entsprochen hat. Jetzt sind sie weg und die anderen Nachbarn übernehmen. Wer sich auf die Liebenswürdigkeit anderer verlassen muss, sollte das ohne Vorurteile tun. Ich schlaf jetzt erst mal. So ganz ohne ist diese blöde Seuche nicht. Sie ist ich-schlaf-den-Mist-weg-und-denk-nicht-an-Rom mäßig.
Ein paar Tage später, verfluche ich den noch immer positiven Test, fühle mich aber schon wieder gut. Auf dem Display meines Handys neue Bilder aus Rom. Nicht mitten drin, aber doch dabei. Das Kolosseum, Eis und Pizza, der Tiber, lachende Gesichter und (was für ein Glück) eine Kordel vor dem (oder der?) Bocca della Veritá. Die Gliedmaßen meiner Lieblingsnachbarn sind sicher. Nicht mitten drin, aber doch dabei. Das trifft auf Rom und irgendwie auch auf Corona zu. Ich schicke Fotos aus meiner Küche zurück. Weniger spektakulär, aber zumindest amüsant. Meine Nachbarin ruft kurz darauf an und ich höre, dass sie sich das Lachen nur schwer verkneifen kann. Gut versorgt, fragt sie und ich bin nicht sicher ob sie mich oder den Hund auf meinen Beinen meint. Hasso, der Schäferhund meines Nachbarn Herrn Krüger, schleckt über meine Hand. Doch, ja, ich bin sehr gut versorgt. Herr Krüger schickt mir den Hund zur Gesellschaft, Herr Meier stellt täglich eine andere Sorte Bier vor die Tür und von Paul bekomme ich Eis, Fastfood und ab und zu einen Apfel oder anderes Obst, das seine Freundin eigentlich ihm in die Küche gestellt hat. Perfekt versorgt werde ich von Frau Iwanow. Ihr Mann stellt mir täglich eine Tupperschüssel mit unglaublich gutem Essen vor die Tür. Als Dankeschön, darf er dann auch gleich Herrn Meiers Bier mitnehmen.
Beim Foto der Katakomben bin ich dann doch kurz traurig. Rom…. Paul hat mir einen Strauß Tulpen vor die Tür gestellt. Passt wieder. Rom geht so schnell nicht unter, aber Blumen von Paul, das ist wirklich etwas besonderes.
Schöne Ostern – am Sonntag darf ich wieder raus. Hasso freut sich schon.