Laut gedacht

Nette Frau. Sehr nette Frau, denke ich und merke am Blick eines mir nahe stehenden Menschen, dass ich es wohl doch nicht gedacht, sondern laut gesagt habe. Sei’s drum die Frau, die mir in der U-Bahn gegenüber sitzt, scheint wirklich eine sehr nette Frau zu sein. Dann weiß sie eben jetzt – ob es sie interessiert oder nicht – dass ich sie für eine nette Frau halte. Der, der neben mir sitzt, weiß mit jedem Monat, der vergeht ja auch einiges von mir, das er nicht wissen wollte. Zum Beispiel, dass seine Freundin mit jedem neuen Lebensjahr etwas verschrobener wird. Ein Kennzeichen: sie spricht manches laut aus, dass sie sich lieber nur gedacht hätte.

Hier in der U-Bahn nicht. Es ist zwar seltsam, aber nicht schlimm, einer fremden Person zu sagen, dass man sie für eine nette Frau hält. Im besten Fall stimmt die Vermutung und es es handelt sich um eine Frau, die nett ist. Trotzdem mutet es in unserer Gesellschaft immer etwas seltsam an über eine wildfremde Frau, die einem in der U-Bahn gegenüber sitzt, ein Urteil zu fällen. In der dritten Person und nicht in der persönlichen Ansprache. Sei’s drum, nun ahnt auch sie, die Frau, dass ich etwas verschroben bin. Ich hoffe, Sie können sich damit abfinden. Mein Freund… der, der ab und zu mit einer Flasche Wein vor der Tür steht, tut sich damit etwas schwer. Dabei gewöhne ich ihn schon seit einiger Zeit, Schritt für Schritt daran.

Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, dass ich immer öfter Dinge laut ausspreche, die ich früher nur gedacht habe. Da ich es selbst meistens nicht merke, könnte es gut sein, dass ich es mir schon vor einer ganzen Weile angewöhnt habe. Vielleicht begann es zeitgleich mit der Aufmerksamkeit, mit der ich kleine Schönheiten des Alltag zu würdigen begann. Ich glaube auch das hat etwas mit dem Alter zu tun. Manchmal, viel öfter als früher, bleibe ich bei dem Weg zur Arbeit an einem Garten stehen, schaue hinein und denke (oder sage) wie schön das doch ist. Der blühende Busch. Der kleine angelegte Weiher. Die dreifarbige Katze. Eben all die Kleinigkeiten, die einem ins Auge springen, wenn man sich etwas mehr Zeit nimmt hinzusehen. Mein Freund registriert diese Kleinigkeiten und Schönheiten durchaus auch. Aber er ist eher der stille Genießer. Er sagt nichts. Weder, wenn er etwas schönes sieht, noch wenn ich etwas schönes kommentiere. Im Gegensatz zu mir wird er mit den Jahren noch stiller. Nicht grundsätzlich, aber in Bezug auf das Kommentieren von offensichtlichen Dingen. Tatsachen muss man nicht erwähnen, sagt er. Oder besser denkt er. Das betrifft übrigens auch die Tatsache, dass es schön mit mir ist. Also für ihn. Ich glaube, dass er es so empfindet. Nicht zuletzt weil er immer noch so regelmäßig und so ausdauernd mit einer Flasche Wein vor meiner Tür steht. Gesagt hat er mir das allerdings noch nie. Oder allenfalls sehr selten. Er findet meinen Hinweise, dass der Fliederbusch vor seinem Haus besonders schön blüht, also völlig überflüssig. Mir zuliebe ringt er sich bei solchen Anmerkungen ein Nicken ab, aber seinen Blick sagt mir, dass dieser Fliederbusch natürlich schön ist, weil Flieder an sich wunderschön ist. Ich denke sie können sich in etwa vorstellen, wie seine Reaktion ist.

Meistens ignoriert meine Angewohnt, ihn auf das in seinen Augen offensichtliche hinzuweisen und geht über den einen oder anderen laut ausgeprochenen Gedanken einfach hiweg. Das ignorieren fällt ihm etwas schwerer, wenn ich Dinge kommentiere, die man sich wirklich besser nur denken sollte. Dinge, die kein positives Feedback sind. Leider rutscht mir auch da ab und an etwas heraus. In der Schlange im Supermarkt zum Beispiel murmelte ich vor kurzem, dass mir das da, auf dem Band vor mir, wirklich nicht schmecken würde. Das ist die Wahrheit, interessiert vermutlich aber die Person, die es gerade fürs Wochenende einkauft reichlich wenig. Oder ich sitze in der U-Bahn schau eine Person kurz an, sage dann laut und klar „nein“, stehe auf und steige mit meinem Freund aus. In solchen Momenten blickt mich dann ganz entsetzt an und will wissen, was mir der Mann eben getan hat. Nichts. Unsere Blicke kreuzten sich zufällig, als mir durch den Kopf schoss, dass ich einer Freundin für morgen absagen muss. Vormittags in den Englischen Garten? Nein, schaff ich zeitlich nicht. Solche Momente sind meinem Freund unglaublich peinlich. Dann schaut er mich genauso an, wie mich mein Vater vor fast 40 Jahren angeschaut hat. Fassungslos, ohne jedes Verständnis, mit einer Spur Fremdschämen.

Ich erinnere mich an den Blick meines Vaters zum Beispiel, wenn ich als Kind auf einer völlig ebenen Strecke der Länge nach auf die Schnauze gefallen bin. Damit wir uns nicht falsch verstehen. Mein Vater ist ein wahnsinnig empathisch Mensch und er wäre sofort aufgesprungen, hätte ich mir wehgetan. Ich bin als Kind, aber ständig hingefallen. Vorzugsweise dann, wenn wir in den Bergen waren und ich überhaupt keine Lust hatte, irgendeinen bescheuerten Berg hoch oder runter zu rennen. An solchen Tagen stolperte ich regelmäßig über meine eigenen Beine und tat mir dabei auf wundersame Weise nie weh. Ich fiel, lachte, und mein Vater fragte sich, wie er zu so einem Trampel von Tochter gekommen ist. Und dann hat er mich genauso angesehen, wie mein Freund heute manchmal. Man muss sich also keine Sorgen machen. Ich kenne diese Blicke und weiß, dass der, der sie mir sendet, trotzdem eine große und tiefe Zuneigung zu mir empfindet. Überflüssig sind diese Blicke natürlich trotzdem.

So überflüssig, wie das Kommentieren von irgendwelchen Dingen, die kein Mensch kapiert, sagt mein Freund und meint damit sicher nicht den Fliederbusch. Er hat recht allerdings führte mein Hinweis, dass mir wohl gerade eine sehr nette Frau gegenüber sitzt zu einem ganz wunderbaren Gespräch. Davon erzähle ich Ihnen aber ein anderes mal.

11 Gedanken zu “Laut gedacht

  1. Liebe Mitzi, fällt wohl mein Kommentar, dass deine Reflexion übers Lautdenken und Stillschweigen wieder einmal ein herzallerliebstes Stückchen Prosa ist, in die Kategorie „zu offensichtlich“? Wäre mein Empfinden, dass dein Blogeintrag auf seine Art so hübsch und erfreulich wie ein blühender Fliederbusch ist, etwa keiner Erwähnung wert?

    Da ich ich bin, finde ich natürlich, dass dies sehr wohl erwähnt werden sollte. Klar, ich wäre als wildfremde Person in der U-Bahn auch bass erstaunt über einen plötzlichen und für mich kontextlosen Kommentar meines Gegenübers – besonders über ein lautes Nein würde ich mich doch sehr wundern. Aber so von dir erzählt finde ich das eine ganz charmante Marotte. Auch wenn ich das dezente und hoffentlich flüchtige Unbehagen des Herrn mit der Weinflasche nachvollziehen kann. Aber wie du selbst feststellst, wird er sicher deine Gesellschaft schön genug finden, um das auszuhalten. Ebenso wie frisch verfugte Badezimmer und ähnlich mitzitypische Aktionen. 🙂

    Vor vielen Jahren hat ein Freund die Theorie aufgestellt, dass mit zunehmendem Alter Männer ihre Redezeit auf ein Drittel reduzieren und Frauen die ihre um ein Dreifaches erhöhen. Forschungsobjekte waren seine Eltern, und ich muss sagen, bei meinen hat die Theorie auch gestimmt. Und ich werde künftig an dich denken, wenn ich Zutatenlisten murmelnd durch den Supermarkt ziehe, weil ich angesichts spontaner Eingebungen nicht mehr stumm einkaufen kann, was auf dem Zettel steht. Das heisst, so richtig an dich denken werde ich wohl erst, wenn ich irgendwann, vielleicht, bei den Rosinen stehe und laut „Gurke!“ rufe – dann habe auch ich den Mitzimodus freigeschaltet.

    Bin jetzt gespannt auf die Erzählung vom netten Gespräch und falls du sie noch planst, die Geschichte vom Rauswurf aus dem Bus.

    Ein schönes Wochenende aus der sommerlich heissen Schweiz!

    Eva

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    1. Liebe Eva, überhaupt nicht zu offensichtlich ;). Dafür ist meine Antwort auf deinen Kommentar irgendwo im Nirvana gelandet. Oder…was ich nicht ausschließen möchte…ich habe getippt, aber nicht auf senden gedrückt.
      Die Theorie der Redezeit scheint Hand und Fuß zu haben. Den Eindruck habe ich auch und stelle ihn in meinem Umfeld auch fest. Ich hoffe in meinem Fall, dass ich das Maximum bereits erreicht habe. Zumindest was das laute Denken angeht.
      Bitte, bitte, bitte lass mich wissen wenn du jemals laut nach Gemüse rufst, wenn du vor den Backzutaten stehst. Ich werde dir dann versichern, dass das völlig normal ist. Für uns. Für alle anderen……naja.

      Liebe Grüße

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      1. Sollte es jemals so weit kommen, bist du natürlich die Erste, die es erfährt. Also die erste ausserhalb der Regalreihen… 😄

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  2. Vielleicht nicht mit so einem allumfassenden Urteil wie „nett“ probiere ich es schon ab und an in der U-Bahn, und ernte damit Begeisterung. Ich suche mir ein bestimmtes ausgefallenes Kleidungsstück in einer mir sehr genehmen Farbe und lobe es einfach – vor allem, wenn die Schuhe dann genau dazu passen. – Die Frau freut sich immer. Bei Männern habe ich so etwas noch nicht entdecken können und ich würde mir auch Kommentare verkneifen – Frau weiß ja nie!

    Was ich mir allerdings nicht traue, bei vollkommen verkitschten Gärten meinen Unmut auszudrücken – es würde ja eh nichts helfen.

    Vielleicht ist dein Freund ein heimlicher Abkomme deines Vaters – aber nein, dann wärt ihr ja Halbgeschwister, das geht auch nicht.

    Gruß zu dir

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    1. Die Halbgeschwister können wir aussließen 😉
      Ich finde es toll, dsas du fremden Menschen etwas nettes sagst. Das tut man viel zu selten. Mich würde es freuen!

      Wahrscheinlich sollte man es nur machen, wenn man auch etwas nettes zu sagen hat. Auch wenn manche Gärten einen fast herausfordern 😉

      Liebe Grüße

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  3. Schon lange hege ich die Idee, dass Denken einst ein lauter Vorgang war und sich erst später ins Lautlose verzogen hat. Vielleicht scheinen da die archaischen Wurzeln in dir auf, liebe Mitzi. Zumindest zeigt sich in deinem hübschen Text der Wert des lauten Denkens: Es wird ausformuliert und huscht einem nicht spurlos durch den Kopf.
    Vor Jahren sah ich einen jungen Mann, der vor einer Sparkasse gestikulierend Kreise drehte und heftig sprach. Was für ein armer Kerl, habe ich gedacht. In Wahrheit hat er telefoniert. In letzter Zeit müssen wir uns ja alle daran gewohnen, dass Leute laut sprechend herumlaufen und keine Selbstgespräche führen, sondern telefonieren..
    Du kannst also ruhig laut denken. Fasse nur gelegentlich an dein Ohr. Die Leute vermuten dann, du telefonierst. 😉

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    1. Lieber Jules, ein interessanter Gedanke, dass sich das Denken erst im Laufe der Zeit zu etwas leise entwickelt hat.
      Und ja, du hast so recht. Mit den Kopfhörern fallen Selbstgespräche mittlerweile kaum noch auf und auch ich ertappe mich öfter dabei, dass ich überzeugt bin, dass jemand mit sich selbst spricht und dabei telefoniert er nur.
      Wobei ich diese Selbstgespräche manchmal auch sehr charmant finde.

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  4. Hm. Ich überlege noch. Es heißt ganz allgemein, dass Männer es mit dem Aussprechen des Selbstverständlcihen oder dem, was eigentlich selbstredend sein wollte, also gefälligst für sich sprechen soll, nicht so haben. Ob das immer stimmt? Schwierig zu sagen bei ca. acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Überflüssiges Zeug können sie sehr gut sagen. Es sind doch meist Männer, die sich unschöne Sachen an den Kopf werfen und kurz darauf Handgranaten, oder? Und wenn da eine Frau unbedingt mitmischen will wie etwa die Dame, die den Spitznamen Eurofighter bekam oder gar Frau Baerbock, von der man es früher tatsächlich nicht erwartet hätte, dann kommt vielen Sprachlosen wortreich die Galle hoch.
    Also lassen wir ihn seinen Fliederbusch und den Wein mit dir still genießen, das ist ja zumindest was Schönes und nicht dieses andere.
    Was den Herrn Papa angeht habe ich etwas Mitleid mit ihm bekommen. Was sagt man zu so einem Kind? „Tapferes Mädchen, weint gar nicht?“ – Ich vermute, er hat das Spiel sehr wohl durchschaut, wußte aber nicht, was sagen oder tun. Kleiner Tipp: Nach dem Hinfallen nicht lachen. Sondern weinen. Wenn nicht damals, so heute. Für irgend etwas müssen Mediziner auch gut sein!

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    1. Wenn man den Kreis ein wenig weiter zieht und wie du die Männer allgemein bedenkt, dann mag meine Theorie nicht mehr haltbar sein. Überhaupt ist sie natürlich oberflächlich und ein Klischee bedienend. Eine amüsante Erzählung, in der man sich wieder findet. Eine Erzählung über Handgranaten werfenende Männer wäre weit weniger schön, wahrscheinlich aber auch realer.
      Und ja, ich lasse ihn sehr gerne die schönen Dinge in Stille genießen. Die ist ja auch schön und wenn ich mich von ihr anstecken lasse, dann merke ich, dass ich eigentlich noch viel mehr genießen kann, wenn ich die Klappe halte.
      Vielleicht versuche ich es auch einfach damit, nicht mehr über meine eigenen Füße zu fallen. Mit zunehmenden Alter scheint das die beste Lösung zu sein. 😉

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      1. Wobei ich zugeben muß, dass es mir ähnlich geht. Oftmals kommentiere ich die Dinge (und Personen). Immer schon – doch ertappe ich mich dabei dass ich es auch noch sage. Was ja auch eine Möglichkeit ist, über die eigenen Füße zu stolpern. Also gut: Zunge.
        Und oftmals wäre es schöner gewesen, hielte ich meine vorlaute und oftmals etwas spöttische Klappe. Ich bestehe aber darauf, dass ich das auch kann – wenn ich hinaus schaue, und da muß kein Fliederbusch stehen, kein Hollerbusch und kein Buschwindröschen, Hauptsache, es ist etwas grün.

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      2. Das ist doch mit das wichtigste…auch mal die Klappe halten können.
        Ich denke, das kann ich auch. Mein Freund würde jetzt zu einer Antwort ansetzen, aber letztendlich schaffe ich es auch ohne Anstrengung ruhig zu sein. Zum Glück. Manche Momente bracuhen keine Worte. Ein Fliederbusch auch nicht, aber du weißt schon was ich meine.

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