Zensierte Ehrlichkeit

Schreiben ist zweifellos eine wunderbare Sache. Nur sollte man mit einem möglicherweise vorhandenen Talent nicht allzu offen hausieren gehen. Glauben Sie mir, das wird anstrengend. Schreib du, ist seit einigen Jahren einer der meist gesagten Sätze meines Freundeskreises. Nicht etwa, schreib was schönes, sondern der Imperativ: Schreib! Beschränkt es sich bei meinem Freund meist auf Beileids- oder Glückwunschkarten und Einkaufszettel, schöpft der Rest aus dem Vollen. Durfte ich mich bis vor kurzem noch finanziell an Geburtstagsgeschenken beteiligen, bin ich jetzt für den persönlichen Touch der wenig kreativen Geschenke verantwortlich. A zieht ins Ausland? Der bekommt einen Gutschein und Mitzi schreibt was über Australien. Irgendwas lustiges, bitten sie. B lässt sich scheiden und man legt im Freundeskreis zusammen, damit sie sich bei einem Wellness Wochenende vor dem anstehenden Gerichtstermin noch einmal erholen kann. Jeder steuert unkompliziert und ohne Aufwand einen Schein bei und ich muss die aufmunternde Worte für die beigelegte Karte finden. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich würde aufmunternde Worte finden, wenn ich das wollte. Und es wäre ein leichtes eine DIN A4 Seite amüsantes Geplänkel über eine vierköpfige Münchner Familie in Australien zu schreiben. Will ich aber nicht. Wenn ich schreibe, bin ich ehrlich. Viel ehrlicher als im Gespräch und wie man weiß ist reduzierte Ehrlichkeit eines der Geheimnisse guter Beziehungen und stabiler Freundschaften. Und doch, werde ich noch immer gebeten, etwas lustiges, spritziges oder tröstendes zu schreiben. Mittlerweile allerdings steckt man meine geschriebenen Worten nicht mehr in den Umschlag ohne sie vorher zu kontrollieren, zu korrigieren und gegebenenfalls auch zu zensieren. Weiterlesen