Wir sind vier II

Vor zwölf Jahren standen wir das letzte Mal alle gemeinsam vor einem Grab. Das ist ein großes Glück, das man nur versteht, wenn man weiß wie groß und zum Teil auch alt unsere Familie ist. Zwölf Jahre in denen die Kinder erwachsen und wir um ein ganzes Stück – gleich ein ganzes Duzend an Jahren – älter wurden. Leichter ist es nicht geworden und schöner auch nicht. Obwohl…schön ist es am Ende doch. Schön, weil es einen unvermeidlichen Abschied erträglicher macht, wenn man zu viert ist. Zu viert in einer Familie bei der man anhand ihrer Größe leicht den Überblick verliert und in manchen Momenten nur schwer für sich alleine stehen kann. Dann waren und sind es meine Geschwister in deren Arme ich mich flüchten kann und die ich meinerseits an mich drücke, wenn sie es brauchen. Ich bin die Jüngste und die einzige die andere Eltern hat. Das klingt kompliziert, ist es für uns aber nie gewesen. Meine Geschwister kennen meinen Eltern, die praktischer Weise ihre Tante und ihr Onkel sind. So wie ihre Eltern mein Onkel und meine Tante sind. Irgendwann ganz früher war ich ein Einzelkind mit zwei Cousinen und einem Cousin und wenig Aussicht auf Erfolg meinen Eltern weitern Nachwuchs schmackhaft zu machen. Nach mehreren Jahren mit mir waren sie stur – die Chance auf eine weiteres Kind meiner Art hat ihnen vermutlich Angst gemacht. Außerdem hätten sie es mir nur schwer recht machen können – ich wollte nämlich auf keinen Fall jüngere Geschwister. Nein, wenn schon, dann bitte älteren mit denen man weit mehr anfangen konnte. Weil sich die Beschaffung als doch recht schwierig gestaltete, übernahm ich irgendwann einfach die, die eh schon da waren. Sie beschwerten sich nicht, wurden aber auch nicht gefragt und wenn ich mich recht erinnere, dann war es kein großes Thema – ob drei oder vier, das spielte keine Rolle mehr. Ich war die jüngste und integrierte mich, indem ich meinen großen Bruder anhimmelte, meine große Schwester bewunderte und mit der gleichalten so heftig stritt, dass wir es schafften die ganzen Sommerferien kein Wort miteinander zu sprechen. Heute passiert uns das nicht mehr, heute ist sie der Fels in meiner Brandung und wenn es mir schlecht geht, dann sitze ich bei einem von den dreien in der Küche. Bei meinem Bruder und seiner Frau als ich mich aus einer langen Beziehung strampelte. Das ist jetzt schon lange her, aber ich vergesse es ihnen nicht, dass sie mich durch den ersten Abend gebracht haben. Wir sehen uns zu selten und ich weiß nicht ob wir es schaffen klüger zu werden und uns einfach öfter spontan zu besuchen. Weit weg sind sie trotzdem nie – im Gegenteil, jeder von ihnen ist mir näher als die meisten anderen Menschen mit denen ich durch das Leben gehe.

Heute hatte ich sie alle um mich. Schön, aber kein schöner Anlass. Außer ihnen gab es nur einen Menschen, der instinktiv verstanden hatte, dass ich mich nicht zum Einzelkind eigne. Mein Onkel hat mich früh und ohne großes Aufsehen aufgenommen. Wenn ich zur Tür reinkam, rief er dröhnend „Mei Madl!“ und behauptet schon immer, dass auch ich sein Mädchen sei. Ob zwei oder drei schien keinen Unterschied mehr zu machen. Diese „Mei Madl!“ dröhnte auch über die Piazza Bra, als ich in Verona lebte und er mich mitsamt einer oberbayerischen Reisegruppe besuchte. Er schwenkte seinen Hut und kam mir mit offenen Armen entgegen. Bei jedem anderen wäre es mir peinlich gewesen, bei ihm war es nur schön. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich habe genau die Eltern die ich mir wünsche. Mit ihm aber auch den besten Onkel den man sich vorstellen kann. Einen der gespürt hat, dass ich drei große Geschwister brauche um ordentlich und sicher durchs Leben zu gehen. Die drei habe ich und geb sie nicht mehr her. Von ihm musste ich mich heute verabschieden, aber ich werd noch lange seine Stimme hören und bin mir recht sicher, dass ich ihn und seinen Hut noch in vielen Jahren mitten in Verona auf der Piazza Bra für einen kurzen Moment sehen werde. Ein Mann wie er bleibt in Erinnerung. Daheim bei uns kannte ihn jeder und dass er jahrelang in Berlin an der Bundestagswahl und an der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin teilgenommen hat ohne je aus Deining rausgekommen zu sein…das ist eine Geschichte, die ihm sicher gefallen hat. Wie er das geschafft hat? Ganz zufällig – da schaun´S

Pfiad di, Onkel. Ich lass ich dich nur sehr ungern gehen, aber am Ende hat schon alles so gepasst wie es war. Weil ich bei Todesfällen immer noch zum kleinen Kind werde, stell ich mir vor, dass er jetzt recht beschäftigt ist. Die ganzen Leut, die er da oben begrüßen muss und all das neue. Seinen Hut hat er sicher auf und irgendwann wird er ihn schwenken und mich mit „Mei Madl!“ begrüßen. Bis dahin sind wir hier unten weiter zu vier – ob es meinen großen Geschwistern nun passt oder nicht, die Kleine bleibt an ihnen kleben, egal wie alt sie wird.  

31 Gedanken zu “Wir sind vier II

  1. Mein Beileid liebe Mitzi!
    Ich habe Glück, ich kann niemanden mehr verlieren. Alle meinen Lieben sind jünger als ich. Zur nächsten Beerdigung gehe ich höchst persönlich. (oder werde gefahren 😉
    Gruß Heinrich

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  2. Liebe Mitzi, mein tiefstes Mitgefühl. Ich glaube, dein Onkel wäre sehr stolz auf “sei Madl” bei so einem
    Nachruf. Und irgendwie lebt er auch weiter – in dir, in deinen Geschichten und in deinen Geschwistern. 💛 Fühl dich fest gedrückt!

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    1. Danke, dir. Der Abschied hätte ihm sicher gefallen. Besonders, dass so viele sich verabschieden konnten. Mit Corona auch nicht selbstverständlich. Erzählend und in Gedanken bleibt er noch bei uns.
      Liebe Grüße

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  3. Fühl dich gedrückt. Es ist nie einfach wenn jemand geht. Ich finde den Spruch, wenn manchmal auch abgedroschen klingend, dennoch immer sehr schön und dich sehr passend:
    Sei nicht traurig das er gegangen ist,
    sei glücklich dass du ihn in deinem Leben hattest.
    Manchmal ein kleiner Trost, denn das ist durchaus Gold wert in so vielen Belangen.

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    1. Ich finde auch, dass dieser Spruch ein guter ist und auch viel Trost spendet. Im ersten Moment überwiegt die Traurigkeit, aber irgendwann sieht man wie schön es war, all das Gemeinsame erlebt zu haben. Liebe Grüße

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  4. Wir weinen hier alle mit; ich wische mir grade die Tränen aus den Augen. Und ich denke, er hat wohl sehr viel sehr gut und richtig gemacht, der Onkel, dass sie so zusammen sind, die vier, und einander stützen können. Da kann es ein Leichtes sein zu gehen. Ich denk mir immer – der Planet verliert nix. Es kommt alles wieder irgendwie zusammen. Und die Liebe bleibt.

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    1. Danke dir für deine lieben Worte. Der Planet verliert nix, gefällt mir. So muss man es sehen und so ist es ja auch….am Ende bleibt viel und das was geht, das kann man leider nicht festhalten. Liebe Grüße

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  5. Liebe Mitzi, darum, dass du deinen so geliebten Onkel verloen hast – darum beneide ich dich natürlich nicht. Aber um die große Familie, die hatte ich nie. Wenn Deutschland nicht so lange geteilt gewesen wäre, hätte ich den anderen Teil der Familie sicher zeitiger und besser kennen gelernt – oder auch nicht – aber so war ich ziemlich allein. Keine Geschwister, keinen Vater, Onkel, Tanten und Cousinen in Polen, nachher in Westdeutschland und wir in der DDR.
    So richtig weiß ich gar nicht, wie sich große Familien anfühlen.
    Einen ganz lieben Gruß zu dir

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    1. Liebe Clara, an manchen Tagen würde ich einen Teil meiner Sippe sofort abtreten ;). Insgesamt aber weiß ich, dass ich damit ein ziemliches Glück habe. Die Seite meines Papas ist viel kleiner – aus den gleichen Gründen wie bei dir. Nach mir kommt von dieser Seite nichts mehr nach.
      Liebe Grüße

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  6. Es ist sehr, sehr schön, nicht alleine zu sein. Und vor allem sehr, sehr schön, wenn die, die um einen sind, wirklich vertraute Wesen sind. Und das geht nun mal nicht mehr, als bei Geschwistern. Seien es Wahl- oder sonst welche. Die man schon lange, schon immer kennt.
    Und so traurig das Verlieren ist, ein Ende, der Tod, so gut tröstet (einzig, was sonst! Sonst – sind wir ganz und gar allein) diese Vertrautheit. Wenn sie ihn auch nicht nimmt, kleiner machen kann. Wir wissen es, erinnern uns aber (welcher Wahnsinn, täten wir es!) nicht ständig daran: er ist da, er ist bestimmt, er ist das Ende.
    Lassen wir uns noch Zeit damit!

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      1. Alles, alles Gute. Ich habe die letzten Jahre so viele verloren, eine Tante (z’Minga, keine große Überraschung mehr, oder?) lebt noch. Sonst ist die ältere Generation – gewesen. Und die, die ist, na, da gehöre ich jetzt selbst dazu! Was ist das Leben, philosophierte der alte Religionsrevoluzzer, und wenn es köstlich gewesen ist, es wäret siebenzig Jahr und war Müh und Plag (rein aus dem Gedächtnis, vielleicht nicht gerade exakt wiedergegeben, jedenfalls war da kein Apfelbäumchen drin – aber ich will heute noch eine Zwetschge pflanzen!).
        Nimm es dir weiterhin, wie bisher: dein Leben (warum begreifen wir diese Formulierung immer falsch rum?), so wie du es willst, gestalte es – zurück auf Anfang, alles Gute

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      2. Es hilft ja nichts, ob wir wollen oder nicht, früher oder später werden wir zur älteren Generation. Noch gibt es einige ältere, aber vermutlich werden die Einschläge der Todesfälle in nächster Zeit dich darauf einander folgen. Gerade deshalb, hast du recht. Ganz liebe Grüße

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