Anna

Wer ist Anna, höre ich dich leise fragen und lächle überrascht. Deine Stimme ist selten geworden und in den letzten zwei Jahren hörte ich sie kaum noch. Das sei normal sagen meine Freunde und ich glaube sie sind froh, dass dein Präsenz endlich schwächer wurde. Mir hast du gefehlt. Dass du nie ganz verschwunden warst, erzählte ich ihnen nicht, weil es immer ein wenig seltsam anmutet, wenn Menschen die ihr Leben zurück gelassen haben, ab und an noch neben einem stehen. Seltsam ist es auch, dich hier zu hören und ich frage mich, in welcher Tasche ich dich wohl bis ans Meer mitgeschleppt habe. Wer ist sie, wiederholst du deine Frage und ich zucke mit den Schultern, während wir beide die Bilder Annas betrachten.

Ob es Anna war, die vor vielen Jahren die kleine, zarte Zuckerdose aus Silber in die Wohnung am Meer brachte, frage ich dich und du nickst. Es war eine Frau, da bist du dir sicher. Das Döschen ist alt und es fällt uns schwer zu glauben, dass sie nicht von einer Frau – eben Anna – ausgesucht und gekauft wurde. Anna ist schön. In jungen Jahren war sie hübsch. Ein hübsches, junges Ding mit zarten Brüsten und langen, dunkelbraun gewellten Haaren. Schön war sie noch nicht, finden wir. Schön wurde sie erst später, in ihren Dreißigern. Du sagst, dass es immer immer ein paar Jahrzehnte an Leben braucht, bevor eine Mensch wirklich schön sein kann und ich gebe dir recht. Augen zum Beispiel….Schönheit braucht schöne Augen und Augen werden erst wirklich schön, wenn sie Erfahrungen und Erlebtes ausdrücken können. Von Anna kenne wir nur drei Bilder, die in roten Rahmen im Flur hängen und ne doch sind wir sicher, dass sie gutes Leben führte.

Drei mal Anna, drei verschiedene Frauen – nur die Augen verraten, dass es sich um immer die selbe Frau handelt. Anna entblößt, unschuldig und jung. Anna stolz, unnahbar und sehr attraktiv und Anna, wild, energisch und ein wenig hart. Uns beiden ist die dritte Anna die liebst. Ich nehm dich an der Hand und führe dich durch die Wohnung, in der noch vieles an den Vorbesitzer erinnert. Es ist ein großes Glück die Wohnung in all ihren Facetten kennenlernen zu dürfen. Das erste Mal betrat ich sie zur Besichtigung und sagte dem, der mir mit am liebsten ist, dass sie wunderschön und perfekt ist. Zwischen all den alten Möbeln sah man sofort, dass dies ein guter Ort ist. Einer an dem die Träume gut und die Tage voll Leben sein werden. Jetzt ist vieles was den Vorbesitzern gehörte nicht mehr hier. Sie sind nicht gekommen um zu holen was ihnen gehörte – die eine bereits verstorben, der andere zu alt. Unmöglich alles zu bewahren. Es wäre auch nicht gut, denn neues Leben in Räumen, kann sich nur entfalten, wenn das alte zurück weicht. Und doch wird vieles bleiben. Warum das alte und doch noch schöne entsorgen, wenn sich darin der Charme vergangener Jahrzehnte auf feine Art erhalten hat? Warum neue Töpfe kaufen, wenn die alten glänzen und leise flüsternd, von unzähligen Speisen erzählen. Die silberne Zuckerdose summt, erzähle ich dir und schreibe es einem anderen auf. Jeden Morgen steht sie bei mir auf dem Tisch und ihr leises Summern vermischt sich mit dem Rauschen des Meeres. Vielleicht ist es eine Melodie, die vor vielen Jahren Anna summte, wenn sie im Sommer aus der Stadt ans Meer zurückkehrte. Ein Stück von Anna wird hier bleiben – auch wenn die Wände frisch gestrichen sind. Das ist gut, weil Anna hier glücklich war. So wie ich es jetzt bin. Anna war mit ihrem Mann hier, ich – Jahrzehnte später – besuche meinen besten Freund. Er hätte dir gefallen, Anna. Er gefällt allen Frauen und ich weiß warum. Auf deine Sachen wird er gut achtgeben. So wie du – irgendwann, als die Wohnung noch die deine war. Ob du es seltsam gefunden hättest, dass ich hier in deiner Wohnung einen Abend mit einem verbringe, der schon so lange nicht mehr bei mir ist? Ich glaube nicht. Zurück in München werde ich dein Lied vom Meer summen und so wie ein Teil von dir immer dort in den Räumen am Meer bleiben wird, schleppe ich einen anderen für wahrscheinlich immer mit mir herum. Das ist in Ordnung, denn eigentlich gefällt es mir sehr gut, dass geliebtes und gelebtes Lieben nie so ganz verschwindet. Wie hartnäckig es sich einnisten kann, sehe ich an Anna und höre einen leise murmeln, dass er doch schon längst nicht mehr hier sei. Darüber können wir nur schmunzeln, nicht wahr, Anna?

13 Gedanken zu “Anna

  1. Hups, gleich so ziemlich am Anfang einmal gestolpert: Schönheit der Augen braucht Lebenserfahrung. Nichts gegen die Augen des gereiften Menschen, auch des Alten, voll von gelebtem Leben. Aber sind nicht auch, anders freilich, ganz anders, auf völlig andere Art, die Augen des Kindes, die voll Frage und Erwartung in die Welt blicken, schön? Das müssen wir mal ausdiskutieren, gerne mit Anna, gerne mit allen Altersweisen (auch denen aus meiner „Viva la vita“)!
    Die Schönheit der Ahnungslosigkeit, der Naivität. Des Urvertrauens, der haltlosen Hingbe an das Sein. Dem nicht mehr ganz so Jungen schon etwas fremd geworden…

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    1. Ich kann dir nicht widersprechen – die Augen eines Kindes sind wunderbar und gerade weil ihnen die Erfahrung fehlt etwas ganz besonderes. Im Falle von Anna dachten wir an das Funkeln von Augen und die ganz spezielle Tiefe, deren Schönheit uns bei den anderen Bildern so gefallen hat. Die Schönheit die uns vorschwebte, verlangt nach einem gewissen Alter. Schönheit allgemein aber…die ist wohl überall zu finden. Wie dein Beispiel auch zeigt 🙂

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      1. Ach ja, da wollte ich auch alles andere als widersprechen: die tiefe Schönheit, die Schönheit der Tiefe, der unendliche Brunnen, sichtbar in den Augen, eines gelebten Lebens…
        (Aber die Kinder! Vergeßt nicht die Kinder! Denkt denn niemand an die Kinder! – nun, wir würden gut daran tun: ihnen gehört die Welt. Die Zukunft.)

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  2. Liebe Mitzi,
    ich stimme ihm auch zu, wenn er sagt, dass es immer ein paar Jahrzehnte an Leben braucht, bevor ein Mensch wirklich schön sein kann. Ob es Augen oder auch noch andere Merkmale sind, ist sicher Ansichtssache. Aber eine Einschränkung möchte ich machen. Das gilt (fast) nur für Frauen. Ich müsste sehr sehr lange grübeln, bis mir ein Mann einfällt, auf den das zutrifft. Frauen fallen mir gleich unzählige ein, nicht nur Schauspielerinnen oder andere Berühmtheiten, die sich NICHT durch „Schönheits-OPs“ verunstaltet haben, sondern auch im Familien- und Freundeskreis.
    Bei den Männern sieht das ziemlich mau aus – nicht nur mein Blick in den Spiegel bestätigt das! 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, ich bin mir sehr sicher, dass ihre Augen mit den Jahren interessanter und dadurch auch schöner geworden sind. Das muss so sein, denn Sie sind (und das kann man auch auf einem Blog im Laufe der Jahre lesend verfolgt beurteilen) einfach wunderbar. Unbedingt bei Frauen – das sehe ich auch so – jene, die nicht durch OPs entstellt sind. Bei Männern fallen mir noch Clooney und Conery ein – die sind doch erst ab 50 attraktiv geworden, finden Sie nicht?
      Herzliche Grüße

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      1. Liebe Mitzi,
        zunächst herzlichen Dank für das sehr freundliche Kompliment, das wir jetzt nicht überprüfen können, ob ich es zu Recht eingeheimst habe. 😉
        Wir sind uns einig, was z.B. Clooney und Conery angeht, und es gibt sicher noch weitere Beispiele. Vielleicht sehe ich auch nur deshalb mehr schöne Frauen als schöne Männer, weil ich diesbezüglich nicht ganz „neutral“ bin. 😉
        Gruß Heinrich

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  3. „…weil es immer ein wenig seltsam anmutet, wenn Menschen die ihr Leben zurück gelassen haben, ab und an noch neben einem stehen.“ ach, das finde ich gar nicht. ich denke, dass das durchaus öfter passiert als man glaubt, es ist nur vielen unangenehm und deswegen wird es nach außen hin als seltsam dargestellt. dass er bei dir ist, bedeutet ja, dass er seine spuren hinterlassene hat, ein bisschen ein teil von dir geworden ist – und ist das nicht irgendwie alles, was im leben zählt?

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  4. Mitzi, wenn ich das so bei dir lese von dem, der eigentlich nicht mehr da ist, aber uneigentlich eben doch. Ich für mich stelle aber fest, dass nach 25 Jahren Abwesenheit die „Anwesenheit“ doch deutlich nachgelassen hat – aber ganz weg ist er nicht.
    Lieben Gruß zu dir!

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    1. Wahrscheinlich ist es gut, dass diese Menschen uns nicht mehr ganz so nahe sind. Sonst wäre es doch recht schwer das eigene Leben weiter zu führen. Genauso stelle ich es mir aber gut und richtig vor, wenn sie auch nach einem viertel Jahrhundert immer noch ein bisschen bei uns sind.

      Liebe Grüße

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  5. Für den Fall dass jemand mal so einen Text über mich und meine Ab/Anwesenheit schreiben möchte, wenn ich nicht mehr da bin, dann stehe ich jetzt schon für Fragen zur Verfügung.
    Die erste Antwort lautet: ICH bin Anna. 😉

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