Giesinger Sturschädel mit Weitblick

Ein echter Münchner, so sagt man, erkennt schnell aus welchem Stadtteil sein Gegenüber kommt. Ich bezweifle, dass ich eine Haidhausenerin von einer Lehelbewohnerin auseinander halten könnte, einen echten Giesinger aber, den erkenne ich. Spätestens dann, wenn ich weiß, dass er eigentlich etwas will und trotzdem stur und ausdauernd behauptet, genau das nicht zu wollen. Einen solchen, oft an Dummheit grenzenden Starrsinn haben nur die Giesinger. Und zwar alle. Dann kommen zwei die eigentlich das gleiche wollen, nicht zusammen, nur weil der eine dem anderen beweisen will, dass seine Argumente besser sind. Im Fall von Herrn Mu und mir geht es um eine kleine Steigung vor der Stadt, von der Herr Mu behauptet, es sei ein „Bergerl“, fast schon ein Berg und ich darauf bestehe, dass es wenn überhaupt, nur ein kleiner Hügel sei. Seit über einer halben Stunde sitzen wir an der Bushaltestelle und versuchen einander die jeweils eigene Meinung aufzuzwängen. Anfangs schmunzelnd, dann lachend, nach einer Viertelstunde ungeduldig und jetzt kurz vor einem handfesten Streit stehend. Das riskieren wir sorglos, denn Giesinger streiten gerne, schnell und ohne sich Sorgen um das künftige Verhältnis zum Mitmenschen zu machen. Das können sie, weil der Giesinger zu seinem großen Glück nicht nachtragend ist. Gesten gestritten, heut schon wieder vergessen. Selten bleibt etwas hängen. Nur Herr Mu und ich bewegen uns auf dünnem Eis. Wenn der alte Mann die Ludwigshöhe weiter als Berg bezeichnet, dann kann ich ihn nicht mehr ernst nehmen. Es ist nämlich kein Berg. Wie der Name schon sagt, ist es eine Höhe. Eine Anhöhe, von der ich überzeugt bin, dass er da rauf muss. Und zwar schnell, weil jetzt der Raps blüht, das Gras gemäht wird und er genau die Luft von da oben in der Nase braucht, so blas wie er ist. Des is koa Berg. Ned amoi a Bergerl. Des ist nix und des da´schnauft der leicht! Selten war ich froher meine Nachbarin Frau Obst plötzlich neben uns zu sehen. Jetzt versucht auch sie, Herrn Meier davon zu überzeugen, dass die Ludwigshöhe kein Berg ist und der Atem von Herrn Mu leicht für den kurzen Aufstieg reichen wird. Weil zwei gegen einen unfair sind, gehe ich einkaufen und überlasse Herrn Mu seinem Schicksal. Morgen wird er im Bus Nr. 271 sitzen und Richtung Ludwigshöhe fahren. Und wenn er es nur tut, um mir und Frau Obst zu beweisen, dass er mit seinem Berg recht hat.

Im Treppenhaus treffe ich wenig später meinen Nachbarn Herrn Meier in Ausgehmontur, was bei ihm bedeutet, dass er ein Lodensakko trägt und einen feschen Hut auf dem Kopf hat. Während wir auf den Aufzug warten schaut er mich wortlos an und stupst mich dann mit dem Ellbogen leicht an. Da Wendelstein…du spinnst ja…murmelt er und schüttelt den Kopf bevor er zu lachen beginnt. Auch ich muss grinsen, weil er Recht hat. Von der Ludwigshöhe aus, sieht man den Wendelstein nicht. Nicht bei Föhn und schon gar nicht beim heutigen Wetter. Behauptet habe ich es gestern trotzdem. Solange bis Herr Meier sich selbst überzeugen wollte und heute erst mit der Tram und dann mit dem Bus nach Kleindingharting fuhr und die wenigen, aber steilen Meter zur Ludwigshöhe hinauf ging. Auf der Bank dort oben sah er nicht den Wendelstein, aber etwas anderes. Weite. Blauweißen Himmel, saftige Wiesen und frühsommerliche Felder. So schön unser München ist, im letzten halben Jahr ist es etwas eng geworden. Dem Blick fehlte die Weite und seit ich am Samstag selbst dort oben stand, versuche ich die, die ich jeden Tag treffe, auch dort rauf zu schicken. Gerade die sturen Dickschädel meiner Lieblingsnachbarn. Unser Viertel ist schön, aber weit schauen, das kann man halt nicht und ab und zu ist genau das wichtig – die Weite. Ob es ihm gefallen hat, frage ich und er nickt. Er kennt die Stelle ja selbst, hatte sie nur vergessen und erst heute wieder entdeckt. Sogar ein Bier hat er in Grünwald bekommen, weil die Biergärten langsam wieder öffnen. Herr Meier strahlt. Erst als er unseren gemeinsamen Nachbarn Paul beim Absperren seines Rades entdeckt, verzieht er das Gesicht und steigt schnell in den Lift. Die Ludwigshöhe sei ein schöner Platz sagt er noch. Nur zu viele Giesinger würden sich da rumtreiben. Auch der, er deutet auf Paul und ich springe schnell zu ihm in den Lift. Es freut mich, dass auch Paul auf der Ludwigshöhe war, möchte aber nur ungerne die gestern begonnene Diskussion mit ihm weiter führen. Paul hatte Recht, aber das gebe ich erst morgen zu. Ich komme aus Untergiesing und bin daher noch etwas sturer als der Rest. 

Stur bin ich übrigens auch, falls Sie mir erzählen, dass Sie jemals einen schöneren Wolkenhimmel als diesen hier gesehen haben. Dann behaupte ich einfach das kann nicht stimmen. Etwa 24 Stunden lang. Dann gebe ich zu, dass Wolken eigentlich überall wunderschön sind. Einen schönen 1. Juni. Es riecht nach Sommer…bei Ihnen auch?

21 Gedanken zu “Giesinger Sturschädel mit Weitblick

  1. Ich glaube, die Ludwigshöhe ist das, was ich brauche, denn mir fehlt die Weite in München ja sowieso. Überhaupt steht einem ja in Bayern überall ein Berg, Hügel o.ä. vor der Nase. Danke für den Tipp!
    Abgesehen davon sind mir bisher nur nette Giesinger*innen begegnet. (Aber das Schlachthofviertel, da bin ich ganz lokalpatriotisch, ist mir das liebste Viertel in München, auch wenn es nicht besonders hübsch ist. Bin ich ja auch nicht.)

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    1. Kann ich verstehen. Vor vielen Jahren habe ich dort gearbeitet und das Viertel besser kennen gelernt – ich mag es noch immer. Hübsch auf den zweiten Blick. Wie Giesing ;).
      Falls du zur Ludwigshöhe fährst einen schönen Tag. Der Biergarten am Deiniger Weiher dürfte auch schon wieder auf haben, ist mir aber fast immer zu überlaufen.

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  2. Liebe Mitzi,
    das Problem kenne ich nur zu gut. Schon bei See, Meer und Teichen aller Art geht es los.
    Hügel, Höhen und Berge machen da keine Ausnahme. Was bei Ihnen in München die Ludwigshöhe ist, ist hier in Hannover der KronsBERG. Ein lächerlicher Huckel in der Landschaft.
    [zitat]Ursprünglich hatte der „Berg“ eine Höhe von 106 m ü. NN. Durch den künstlich aufgeschütteten, zwölf Meter hohen Aussichtshügel am ursprünglichen Gipfel beträgt die Höhe 118 m ü. NN[/zitat]
    Damit er den Namen „Berg“ rechtfertigt, denn 118 m sind für Norddeutschland eine schwindelerregende Höhe! 😉

    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, es kommt wohl immer auf die restlichen Anhöhen an. Inmitten eines flachen Landes, können sich 118 Meter durchaus sehen lassen ;). Ist er das, auf dem Bild, der Kronsberg? Das ist ja eine mächtig breite Straße, die da rauf führt. Und weil ich es gerade sehe….Schafe haben wir eindeutig zu wenig rund um München. Die mag ich sehr :).
      Herzliche Grüße

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  3. In meiner Kindheit und Jugend war das Höchste, auf das man steigen konnte, der Deich. Aber mehr brauchte es auch nicht, um eine frei kilometerweite Sicht in alle Himmelsrichtungen zu haben. Das fehlt mir manchmal.

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    1. Ja, bei den Deichen oben im Norden, da ist der Blick schneller weit und es braucht keine Höhe. Bei mir hier, kommt immer irgendwann ein Berg – aber das macht nichts. Ich finde beides schön. Eingerahmt von Bergen oder ganz weit alles frei.

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  4. Gut, dass du den Alten aus deiner Nachbarschaft Beine machst, liebe Mitzi. Wer nur an der Bushaltestelle herumsitzt, verlernt irgendwann das Gehen. Außerdem gehören Bushaltestellen zu den Nichtorten. Dafür kannst du etwas Besseres anbieten, wie deine Fotos zeigen.

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    1. …verlernt irgendwann zu gehen. Das ist ein schöner und sehr richtiger Satz, lieber Jules. Langsam kommt wieder Leben in die Stadt und ich denke auch in die Leiber der alter Herrn ;).

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  5. Ich habe ein gewisses Verständnis für die Sichtweise von Herrn Mu. Deine Höhe kann so tief nicht sein, denn bei uns war der Raps schon im April gelb:
    Two weeks later
    Aber Du hast Recht, alles ist relativ. Beim Viertagemarsch in Nijmegen war der Aufstieg am 3. Tag nach Berg en Dal (91 m. ü. Meer) schon eine vertable Bergwanderung 😉

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  6. Freile, z Minga hots koan Berg net, no nia ghabt, an Nockherberg vielleicht no. Seng duat mas, doat, hinta Rosenheim.
    War etwas, das mich in meiner Münchner Zeit sehr gestört hat, dieses Leben in der Ebene. Da haben die Gletscher damals ganze Arbeit geleistet. Hier, wenn ich ins Tal will, habe ich erst mal eine 18% Steigung – und bis vor kurzem kam ich da mit dem Fahrrad noch hoch (ich müßt es doch mal wieder probieren). Das macht die Landschaft doch gleich viel reizvoller, abwechslungsreicher, die Wege beschwerlicher, das Rasenmähen fluchbeladener…

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    1. Als Radfahrer der in Obergiesing wohnt kann ich die Ebene Münchens nicht ganz nachempfinden ;). Aber es stimmt natürlich…die Berg, die san erst weida hint´n. Hut ab, wenn du Steigungen mit dem Rad erklimmst. Ich schaff den Nockerberg (aber auch nur mit Anlauf und gerade mal so).

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      1. Bis vor Kurzem hätte ich mir nur ganz lässig auf die Schulter geklopft… seit (s. 181) gewissen Problemen schaff ich’s kaum mehr und bin vorzugsweise unter die Stromer gegangen… darf man oberhalb 60, oder? Nein, das alte Mountainbike (so heißen die Radl heut halt) ist schon noch in Betrieb, aber fast nur auf Ultrakurzstrecken.
        Damals in München fuhr ich mit so einem Pseudo-Rennradl rum. Und (in die Brennpunktschule hab ich das nicht genommen) mit einem uralten Dreigang…

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