Nicht ganz rund

Den Weg findest du noch, fragt mich mein Kollege und ich verziehe müde schmunzelnd das Gesicht über einen Witz, den ich in den letzten Tagen öfter gehört habe. Ein bisschen zu oft. Es sprach sich wohl rum, dass mein Kollege und ich das perfekte Pandemie Gespann sind. Der eine arbeitet gerne im Büro, die andere lieber zu Hause. Wir müssen uns nicht abstimmen, müssen Freitagnachmittag nicht diskutieren und können unsere Abwesenheiten im Firmenkalender gleich für ein halbes Jahr im Voraus eintragen. Ein perfektes Duo. Ich überlasse ihm unser gemeinsames Büro, er schickt mir das, was per Post kommt, nach Hause. In Zeiten wie diesen, die wohl beste Kombination. Der Witz ist dennoch etwas platt, da ich im letzten Jahr natürlich auch im Büro war. Zwischen der ersten und zweiten Welle war ich regelmäßig vor Ort. Die Corona-Verschnaufpause fiel ja dankenswerter Weise in den Sommer und nahe meines Büros gibt es die beste Eisdiele im Münchner Umland. Das Mangoeis ist himmlisch – eine Kugel pro Woche war ein Muss. Anders formuliert – einmal pro Woche fuhr ich ins Büro. Manchmal sogar zweimal. Pistazie ist nämlich fast genauso lecker. Als die Infektionszahlen im Herbst dann wieder stiegen (und die Eisdiele schließen musste) war ich allerdings tatsächlich fast ausschließlich im Homeoffice und sparte mir das morgendlich Gruppenkuscheln in den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln. Mein Kollege kann trotzdem beruhigt in den Urlaub gehen – eine Wiedereingliederung in den Büroalltag und eine Wegbeschreibung zum Schreibtisch wird nicht nötig sein. Das zumindest, dachte ich noch letzten Montag. Um es vorweg zu nehmen – den Weg zum Büro habe ich problemlos gefunden. Seltsam wurde es erst danach.

Die erste halbe Stunde habe ich mit dem Lesen von Weihnachtskarten verbracht. Die waren in diesem seltsamen und schweren Jahr viel persönlicher, emotionaler und individueller als in den Vorjahren. Mein Kollege hatte sie mir in die Tastatur gesteckt und obwohl mein Platz im März damit seltsam dekoriert wirkte, nahm ich mir vor, mich bei ihm für das ansprechende Arrangement bei Gelegenheit zu bedanken. Vorzugsweise nicht an dem Tag, an dem ich ihn fragen werde, wie er es geschafft hat unsere einzige Büropflanze in den jetzigen Verwesungszustand zu versetzen. Die Weihnachtspost rührt mich und die schönsten beantworte ich sofort – handgeschrieben und per Fax. Das haben sie verdient und werden sie sicher zu schätzen wissen. Mehr als eine Kollegin die sich im Technikraum vor dem Fax stehend erkundigt, welcher Vollidiot im März noch ein gutes, neues Jahr wünscht und diese dilettantischen Christbäume unter das Firmenlogo gemalt hat. Sorryyyy…im Pandemiejahr ticken die Uhren eben anders und meine Bäumchen würde ich als charmant unperfekt bezeichnen. Die Dame von unserem Großhändler übrigens auch – die hat sich gleich telefonisch bedankt und erkundigt ob ich krank bin. Die Zeitform hat mich irritieret, aber ich denke lieber nicht darüber nach. Auch nicht über das, was die Kollegen denken, die mich Mittags geduldig vor einer Glastüre stehen sahen und mich darüber aufklärten, dass die Kantine bereits seit zweiten Januar geschlossen ist. Ich halte mich mit zwei Schokoladen Weihnachtsmännern und einer Handvoll Pralinen über Wasser – die lagen in meiner Schreibtischschublade. Laut Post it handelt es sich dabei um meinen Anteil der Abteilungs-Adventskalender. Danke fürs Aufheben, schreibe ich in die Firmen Whats App Gruppe und man rät mir dringend davon ab, die unverpackten Bestandteile noch zu essen. Zu spät schreibe ich und durchwühle weiter meine Schubladen. Diesmal aber nicht auf Futtersuche – irgendwo darin muss sich ein Zettel befinden auf dem ich den Code für den Drucker notiert habe. Vor Jahren, denn eigentlich weiß ich ihn auswendig, aber nach all den Monaten…..Er lautet 0000 – ich habe die Werkseinstellung anscheinend nie geändert. Das ist zwar doof, aber fast schon wieder clever ist es, sich selbst eine Notiz zu hinterlassen, dass man eine Änderung für absolut überflüssig gehalten hat. Teile meiner Kollegen würden das sicher anders sehen, aber ich hoffe, dass sie (außer um Schokolade hineinzulegen) die Finger von meinen Schubladen lassen. Noch wichtiger aber – von meine Schränken. Vor Corona konnte ich mir sicher sein, dass man mich fragt, wenn man Unterlagen sucht. Seitdem zwei Drittel der Belegschaft aber im Homeoffice sind, kann das Suchen von Ordnern und Akten durchaus dazu führen, dass einzelne Kollegen mit dem Handy am Ohr von Zimmer zu Zimmer und von Schrank zu Schrank rennen und entnervt für sich oder andere etwas suchen, von dem der Inhaber schwören könnte, dass es sich (eigentlich) nur an genau einem Platz befinden kann. Meine Ordner habe ich im Griff. Kollegen bitten, darin etwas zu suchen möchte ich dennoch nur ungerne. Ich müsste ihnen erklären, dass die fünf Paar relativ hoher Schuhe darin durchaus als Arbeitsmaterial zu werten sind. Ich bin 1,61 m und wir haben verdammt hohe Schränke in unseren Büros. Weil ich nicht zwanzig Minuten von der S-Bahn auf hohen Hacken durch die Pampa laufen will, muss ich die Dinger also zwangsweise im Schrank verstauen. Und ja…fünf Paar sind das Minimum, wenn sie zu jedem Outfit passen sollen. Ein Paar davon verfluche ich heute übrigens. Seit ich so viel zu Hause bin und abends nicht mehr ausgehe, bin ich das Laufen auf Absätzen nicht mehr gewohnt. Meine Zehen fragen mich seit zehn Uhr morgens, ob ich noch ganz rund laufe und was ich ihnen nach all den Monaten in Kuschelsocken hier gerade antue.

Ähnliches – ob ich noch ganz rund laufe – denkt sich vermutlich auch der mutigste meiner Freunde. Der rief mich an, als ich wieder daheim war und ich begrüßte ihn atemlos und nach dem achten Klingeln mit den Worten „Hab das Handy nicht aus der Tasche bekommen!“ und erklärte, dass ich mir gerade ein Hörspiel anhören würde (auf einer App auf dem Handy) und mir dieses in einer kleinen Tasche um den Hals gehängt habe, weil ich mich nicht traue, das Telefon in die Hosentasche zu stecken, denn sollte ich es darin vergessen und auf die Toilette gehen, dann könnte es ja rausfallen und ins Klo fallen. Hört man ja immer wieder. Er, der mutigste meiner Freunde sagte nicht viel dazu und das wenige, will ich hier nicht wieder geben. Im Moment laufe ich wirklich nicht ganz rund, aber das ist nach zwölf Monaten zwischen Muse und Wahnsinn wahrscheinlich auch normal. Am Montag bin ich wieder im Büro. Ich brauche etwas aus dem Archiv. Vorsichtshalber erkundige ich mich aber noch, ob es sich noch im Keller befindet oder bereits vor Monaten ausgelagert wurde. Sicher ist sicher.

33 Gedanken zu “Nicht ganz rund

  1. Na ja, Deine Feder oder wohl besser Deine Finger und die Tastatur laufen jedenfalls immer noch ziemlich rund. Ich bin fast versucht, Dir das Kompliment anzuhängen, das bisher nur bei einem unserer gemeinsamen WordPress-Freunde zum Einsatz kam: loriotmässig,
    oder einfach ein Lesegenuss für Stunden des Abhängens 🙂

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  2. 😂 Zu viel Muße treibt in den Wahnsinn, würde ich sagen. Uns geht der Kontakt zur „echten“ Welt verloren, da können wir noch so upgedated und connected sein. Ich bin auch gespannt, wie lange wir für den mentalen Weg zurück brauchen, wenn wir ihn dann gehen dürfen.
    Ich war seit einem Jahr nicht mehr zum Arbeiten im Büro, nur dreimal zu Meetings. Beim ersten Mal wurde mir beim obligatorischen Fiebermessen zunächst der Einlass verwehrt, ich hatte 38,0 Grad. Nach etwa 30 Minuten war es auf 37,3 gesunken und ich durfte rein. Ich hatte kein krankheitsbedingtes Fieber, ich war nur so aufgeregt. Wahnsinn, oder? Moral: Cool bleiben, alles im grünen Bereich! LG aus Italien 😀

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    1. Das mit dem Fiebermessen kenne ich – in Verona (gefühlte 38 Grad) schlug das Thermometer vor dem Kiehls Laden aus :). Nach einem halben Liter Wasser im Schatten war wieder alles normal.
      Und ja….Muse war immer willkommen, aber jetzt brauche ich im Moment keine mehr ;).
      Grüße aus München (eigentlich wäre ich heute in Arenzano, Ligurien….den Flug hatte optimistisch im Oktober gebucht)

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      1. Auch so ein Déjà-vu zum Vorjahr, dass alle sagen: Eigentlich wären wir jetzt in … Zum Glück haben wir uns das nicht vorstellen können, dass es so lange dauert. Wir selbst haben gar nichts mehr gebucht, wenn es dann geht, setzen wir uns ins Auto und fahren los. Ich hoffe, du hast einen Gutschein für den Flug und wirst den bald einlösen!

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      2. Eigentlich hätte ich auch gar nichts mehr gebucht, weil mir das alles zu unsicher war und fahre normalerweise auch recht spontan runter. Diesen Flug hatte ich an dem Tag gebucht, als ich mit Freunden noch am Meer saß, damit mir der Abschied leichter fällt. Jetzt kann ich ihn zum Glück immer wieder verschieben und lasse ihn mir extra nicht erstatten, weil es ein schönes Gefühl ist mit ihm dann irgendwann spontan für ein Wochenende runter zu fliegen. Etwas das ich sonst eh nicht mache und meistens verlängere Zeit mit dem Zug fahre. Mal sehen wann er zum Einsatz kommt. Liebe Grüße

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  3. Warum sollen, warum wollen wir eigentlich immerzu rund laufen? Sind wir Maschinen? Ich sehe etwas Rundlaufendes vor mir, nämlich die Zahnräder in Chaplins Modern Times. Nein, das ist nicht erstrebenswert. Natürlich freue ich mich, wenn mein Fahrrad rund läuft. Oder eben irgend eine Maschine mit Rädchen drin oder dran. Aber ich will kein Rädchen sein. Rädchenhaltige Maschinen haben viel zu schnell eine Schraube locker. Und dann eben ein Rad ab.
    Aber ja, die Betriebe wünschen sich das. Obwohl wir doch nicht auf Bürostühlen durch die Gänge rollen sollen, mit diesen Rennen fahren sollen? Die laufen nicht rund genug vermute ich mal als Grund.
    Auch die Welt läuft nicht rund. Längst wissen wir, die gute alte Erde eiert. Na ja, das ist ja auch i.O., nach ein paar Jahrmilliärdchen. Merke: was Qualität hat, was einige Zeit hebt und auch einige Resllienz mitbringt läuft nicht kugelgelagert, widerstandslos, aalglatt durch sein Leben.

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    1. Ein schöner Vergleich, die eiernde Erde. Was bei ihr völlig normal ist, das sollten auch wir bei uns akzeptieren. Wer will schon ein fest fixiertes Rädchen sein? Wir müssen ja nicht gleich ganz aus der Spur laufen, aber ein bisschen sperrig darf sein.
      Liebe Grüße

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      1. Ja, das in der Spur laufen ist was für die U-Bahn. Und andere eisenaffine Fortbewegungsmittel zwischen und in großen Städten. Mit ihr kam das in-der-Spur-laufen erst so recht in Mode, ebenso wie die fixe Idee mit der fixen, festgelegten Zeit. Davor ging man (nicht immer netter) freier mit den Ausreißern um, ging zur Kräuterhexe (zu Heilzwecken oder um sie zu verbrennen, je nach Laune), ließ den Irren weissagen, den Drogensüchtigen als Schamanan praktizieren… gut, die Auswahl ist jetzt ein bißchen subjektiv geworden, egal. Die so übersichtliche Welt der Metallzeit geht ja gerade wieder aus den Fugen und verunsichert die Menschen, die, wie ich, nicht elektronikkompatibel sind. Aber freischwebend und freier Fall sind ja das Selbe (bis auf die Landung), insofern – von der eiernden Erde irgendwo im All auch Grüße nach Minga zruck.

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  4. Ich persönlich hab keinerlei Motivation mehr, rund zu laufen und es stets allen und jedem Recht zu machen, was ich lange genug getan habe. Nein, meine gesamte Anatomie beinhaltet an keiner Stelle Rädchen oder auch nur kleine Schräubchen, dennoch sitzen bei mit etliche nicht vorhandene Schrauben locker.

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  5. Liebe Mitzi, ich bedaure es ja äußerst selten, dass ich nicht mehr arbeiten darf, muss oder will – aber beim Lesen deiner humorigen Büroalltagsgeschichten überkam mich doch so ein gewisses Wehmutsgefühl, denn durch meine Büroferne muss ich nicht nur alle meine Schuhe zu Haus im Regal unterbringen – nein, ich muss mir keine (unveränderten) Zugangscodes merken, ich stehe nicht sinnlos lange vor verschlossenen Kühlschranktüren und und und … und überhaupt.
    Sich über „Ewigkeiten“ in einem viel zu engen Radius zu bewegen – bei wem würde das keine Folgen hinterlassen???
    Gruß zu dir

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  6. So aufregend kann ein Bürotag sein. Ich fand das sehr beeindruckend. Und eine mögliche Fortsetzung „Suche nach dem Archiv“ klingt spannend. 🙂
    Aber ja – so langsam merkt man, dass dies Coronajahr schon etwas mit einem gemacht hat, mit einem selbst und allem drumrum auch.

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    1. Mittlerweile habe ich festgestellt, dass sich das Archiv noch am alten Platz befindet 😉
      Anfangs dachte ich auch, dass die paar Monate nicht grundlegend etwas ändern werden. Heute bin ich mir sehr sicher, dass sich einiges geändert hat. Nicht nur zum schlechten, aber wir werden alle ein wenig Zeit brauchen, wenn das Ganze vorbei ist. Liebe Grüße

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    1. Ich war die letzte Woche noch mal und diese Woche auch noch mal einen Tag. Es ist schon irgendwie komisch. Auf der einen Seite vertraut und alles geht seinen gewohnten Gang, und dann eben wie du schreibst… Normal wie es vor einem Jahr gewesen ist, dabei überhaupt nicht mehr normal weil es zu etwas besonderem geworden ist. Bei uns ist es gut, dass wir wirklich jeden Tag eine kurze Videoschalte haben und man sich so wenigstens nicht fremd wird und noch genauso auf dem Laufenden ist. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass dieses alte Büro so wie es früher war, in dieser Form nicht mehr zurückkommen wird. Allein schon deshalb weil künftig Home-Office öfter möglich sein wird. Das ist auf der einen Seite sehr schön, auf der anderen Seite aber auch befremdlich, weil ich mir schon jetzt nicht mehr vorstellen kann mit meinem kompletten Team in einem Raum auf einen Geburtstag anzustoßen.

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      1. ja es ist schon seltsam.. ich frage mich, welche spuren diese pandemie in uns allen hinterlassen wird, am ende… in den kindern, den jugendlichen, den erwachsenen… was wird sich verändern, was wird wieder so werden als hätte es corona nie gegeben, was nicht? und wie werden wir in ein paar jahrzehnten darauf zurückschauen..,

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