Zurück geblättert

Ich gehe ihm auf die Nerven. Obwohl er nichts sagt, merke ich es. Er atmet zu regelmäßig um entspannt zu sein – penetrant gleichmäßig und kontrolliert. Acht Mal atmet er langsam und tief ein und wieder aus. Dann eine kleine Pause. Danach der neunte Atemzug mit einem tieferen Einatmen und einem viel längeren Ausatmen. Dieser neunte Atemzug macht mich wahnsinnig. Mitzuzählen macht es nicht besser. Den ersten, der neunten Atemzüge empfand ich als übertrieben, den fünften als überflüssig und störend. Der achtzehnte, der neunten Atemzüge aber, der ist eine Frechheit. Ich sage nichts, atme nur selbst ein und aus. Einmal nur, aber das etwas zu tief und eine Spur zu laut. Zu laut für einen Nachmittag an dem  sich die Luft zum Schneiden dick anfühlt und wir beide ahnen, dass ein falsches Wort reicht, um uns verbal in die Luft zu jagen. In seinem Fall reicht ein Atemzug – meiner.

Man kann ein Notebook zuklappen, um es zu schießen und man kann ein Notebook so zuklappen, dass nach seinem Schließen unzählige Fragezeichen aufsteigen und in der Luft hängen bleiben. Dünnes Eis, sagt er und verwandelt eines der Fragezeichen in ein Ausrufezeichen. Dünnes Eis, Mimi, wiederholt er und mir fällt auf, dass er mich nur dann „Mimi“ nennt, wenn er vergisst, dass ihm große Emotionalität eigentlich nicht liegt oder er so angefressen ist, dass das Kosewort die deutlich unfreundlichere Bezeichnung, die ihm auf der Zunge liegt, überdecken muss.

Eine halbe Stunde später steht er vor dem Fenster in meiner Küche und ist nur noch nicht gegangen, weil wir uns gut genug kennen um zu wissen, dass „gehen“ manchmal das dümmste ist, was man machen kann. Es gab eine Zeit, in der wäre er gegangen. Eine Zeit in der er schnell verschwand, wochenlang nicht erreichbar war und sich dann mit einer knappen Nachricht zurück meldete. Damals war er so unnahbar, wie er heute noch manchmal wirkt. Sein Rücken vor dem Fenster ist es noch immer. Die Hand, die meine nimmt, wenn ich mich daran lehne, nicht mehr. Damals war sein Rücken eine abweisende Wand, gegen die ich rannte und die oft unüberwindbar erschien. Heute weiß ich, dass es diese Wand ein wunderbar ruhiger Fels in der Brandung ist, der einem ohne das man darum bitten müsste, vom oft eisigen Wind des ganz normalen Lebens abschirmt. Ich mag es wenn er mir den Rücken zudreht, weil ich weiß dass er sich dadurch weder entfernt noch eine Aussage trifft. Es ist seine Art vor dem Fenster zu stehen, wenn er nachdenkt. Heute über Dinge, die er vor vielen Jahren sagte. Gesagt haben soll, wie er betont, weil er sich nicht mehr erinnert. Kann ich es lesen, fragt er und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Nein, auf keinen Fall – meine Tagebücher gehören zu den wenigen Dingen, die ich unter keinen Umständen teile. Sollte mir je etwas passieren – es gibt eine Person die den Schlüssel zu meiner Wohnung hat und als erstes alle diese Bücher verschwinden lassen wird. Neun Zehntel davon habe ich in Momenten überschwänglicher, an Hysterie grenzender Freunde oder im Zustand tiefster Traurigkeit und Sentimentalität geschrieben. Kluge Gedanken wird man darin nicht finden, nur Emotionen und die wirken, aneinander gereiht so schnell wechselnd, dass ich mich Jahre später selbst nicht verstehe. Leicht fällt es mir aber, mich lesend zu erinnern wie ich mich fühlte. Mehr noch. Lese ich alte Zeilen, spüre ich eins zu eins diese ungefilterten Emotionen wieder. Das ist anstrengend und ich blättere nur selten zurück. Tat es, als ich das Buch über meine Zeit in Italien schrieb und durchlebte das komplette Wechselbad der damaligen Gefühle erneut. Einsamkeit, Unsicherheit und Zweifel. Aber auch Abenteuerlust, unbändige Freude und grenzenlos scheinendes Glück. Jetzt also wieder. Wieder etwas das ich schreiben möchte und deshalb zurück blätterte. Zurück, auch zu ihm, der jetzt am Fenster steht und sich nicht mehr erinnert. 

Es ist kompliziert mit nur zwei Händen, gut drei Viertel einer handgeschriebenen Seite abzudecken, aber nur so lasse ich ihn Auszüge lesen. Schwierig auch, seine neugierigen Finger von den Seiten zu verscheuchen und gleichzeitig seine Mimik zu beobachten. Heute ist sie mir vertraut, am Tag als ich eine der Seiten schrieb nicht. Ob er das wirklich gesagt hat, fragt er und ich zucke mit den Schultern. Etwas arg direkt, fügt er an, nimmt es aber nicht zurück. Warum auch, er gehört zu den Menschen, die meinen was sie sagen, selten unüberlegt sprechen, aber oft von anderen eine Rationalität erwarten, die für sie selbstverständlich ist. Ok, ja, er zieht die Stirn in Falten, das hätte er sich sparen können. Und das, ja er lacht laut auf und versucht eine weitere Zeile zu lesen, das war wirklich hart. Aber hier, er schiebt meine Hand zur Seite, hier war ich es, die ihn völlig vor dem Kopf gestoßen hatte. Erst drei Stunden in einer Winternacht auf dem Balkon neben ihm unter einem Berg von Decken sitzen, das perfekte, kaum zu übertreffende Date zu verbringen und dann…. Er muss mich nicht weiter erinnern. Auch wenn ich damals nicht viel in mein Tagebuch geschrieben habe, erinnere ich mich. Etwas, das ich mir hätte sparen können. Wir atmen wieder normal – beide. Wenn ich das nächste Mal zurück blättere, dann an einem Wochenende an dem ich alleine bin. Dann werde ich den Anfang noch einmal lesen. Über den größten und härtesten Korb, den ich mir in meinem Leben bisher geholt habe. Dann wird mir wieder die Luft wegbleiben, weil ich spüren werde wie weh es damals tat. Aber auch über die stärksten Herzklopfen die ich je hatte. 

Einer meiner ersten Blogartikel (der zweite glaube ich) handelt von unserem ersten Date. Ganz ehrlich, Sie hätten nach so einem Tag dem ganzen doch keine Chance gegeben, oder? Tomatensaft und Minzbonbons Oder hier…das tut doch alleine beim Lesen weh….2X=0

Und das sind die rationalen Versionen…..

21 Gedanken zu “Zurück geblättert

    1. Ja. Aber ich halte meist nicht viel vom zurück blättern und vom „Vorhalten“ noch weniger. Nur an Tagen an denen ich etwas anderes suche und darüber stolpere, da bin ich für einen kurzen Moment überrascht wie gut ich mich an das Gefühlschaos der Anfangstage erinnern kann. Missen möchte ich es aber auch nicht. ;).

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  1. Wie immer habe ich deins gerne gelesen, liebe Mitzi. Nun frage ich mich, ob Dr. X mit dem Tomatensaft der Selbe ist, der ab und an mit einer Flasche Wein vor deiner Tür steht.
    Wie auch immer noch, es klingt nicht alles nach einem leichten Schritt.
    Meine Tagebücher darf auch Niemand lesen und sollen am besten mit mir zusammen verbrannt werden.
    Liebe Grüße
    Ulli

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    1. Ja, liebe Ulli – das möchte ich auch. Die Dinger mit mir gemeinsam verheizen.
      Die Personen in meinen Erzählungen sind aus Gründen der Rücksicht gegenüber meiner Nachbarn und meiner Freunde nie ganz eindeutig zuzuordnen. Aber die Vorlage für diese beiden Personen ist die gleiche….ein holpriger Anfang, aber ein sehr schöner Status quo.
      Liebe Grüße
      Mitzi

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  2. war das die sache mit dem einschlafen? ich werde auch nochmal bei dir zurückblättern 🙂 manchmal gehört das eben auch dazu. wichtig ist nur, dass man darüber reden kann und dass keine böse absicht dahinter stand, denke ich.

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    1. Es gehört dazu und Tagebücher sind immer einseitig. Würde er eines schreiben, stünde da wahrscheinlich „anhängliche Klette, die nicht kapiert, wenn man deutlich nein sagt“ ;). Manchmal kommt der richtige Zeitpunkt einfach später.

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  3. Habe nun alle drei Mr X -Texte gelesen und bin so voll im Bilde, dass ich mich glatt erdreiste, Beziehungstipps zu geben: manche Männer taugen für perfekte Momente und zum Aufn-Sockel-stellen, zu mehr nicht. Dies klingt nach so einem. Wenn kurze perfekte Momente und In-den-Himmel-heben genug sind; (ist ja auch nicht schlecht), dann ist alles gut. Wenn frau sich in einer Beziehung aufgehoben fühlen und erwidert lieben will, würde ich sagen „Finger weg“.
    Ausser es geht um den Herzschmerz. Der ist fürchterlich, aber man kann ganz wunderbar drin suhlen. Und so beschrieben, ist er großartig.
    Vielleicht behälst´ihn doch 🙂 ?
    Alles Liebe

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    1. Ja, mit dieser Einschätzung hast du gar nicht unrecht. Damals hätte es nicht geschadet, wenn ich das selbst auch ein wenig mehr so gesehen hätte. Manchmal – auch wenn es lange braucht – ändern sich die Dinge und aus dem Finger weg wird ein „kann man riskieren“ und ein „Halleluja, jetzt passst es“ ;). Ich glaub ich behalten ihn….er passt schon sehr, sehr gut zu mir.
      Liebe Grüße

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      1. Cool! Dann gefällt mir die Geschichte umso besser. Das ist toll. Da sieht man´s wieder – man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Manchmal wird tatsächlich am Ende alles gut:).
        Ich wünsche alles Liebe, vor allem dies – viel Liebe.

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      2. Vielen lieben Dank, das wünsche ich dir in allen Bereichen auch. Und auch wenn ich selbst dir recht gebe, und finde das man die Hoffnung nie aufgeben sollte, manchmal gerade in Beziehungen, ist dieses hoffen aber auch genau das Flasche. Ach, es ist schon kompliziert 😂😊

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  4. was mich auch schon gewundert hast, ist, dass man über Beziehungen am Ende immer erst so richtig dann hinweg ist, wenn sich etwas Neues anbahnt. Das kenne ich und finde es seltsam. Ich würde gerne unabhängig darüber hinwegkommen 🙂

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  5. Wen sich in einem deiner Tagebücher ein Zitat findet, mit dem sich ein Konflikt ausräumen ließe, dann kopiere doch einfach und schwärze den Rest. Aber ich glaube nicht, dass der Nachweis einer weit zurückliegenden Aussage helfen könnte, liebe Mitzi. Meistens gibt es doch einen aktuellen Grund für ein Zerwürfnis.

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    1. Da hast du natürlich recht, lieber Jules. Es wäre auch albern anhand von subjektiven Belegen etwas klarstellen zu wollen. Ich hatte aus ganz anderen Gründen die alten Bücher zur Hand genommen und bin über jene Zeit gestolpert, die mich Jahre später emotional so mitgenommen haben, dass ich versuchte meinem Freund zu erklären warum ich an diesem Tag nicht besonders gut gelaunt war. Ich rechne es ihm sehr hoch an, dass er, der sich wirklich kaum noch erinnerte, sich mit so langen zurückliegenden Gefühlschaos auseinandergesetzt hat. Unnötig zu erwähnen, dass ich recht froh bin, dass er selbst kein Tagebuch führt und ein, was mich betrifft, sehr gutmütiges und lückenloses Gedächtnis hat 😉

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  6. Erinnerungen… sind so viel wert. Können so viel Halt geben. Können so viel kaputt machen Sind, wie alles an uns, janusgesichtig. Aufgeschrieben verlieren sie die Milde des Vergessens. Drum machen wir’s ja, bei vielem wollen wir das Vergessen nicht zulassen, obwohl es manchmal vielleicht besser wäre.
    Aber er war ja da. Und, bei aller Anspannung, war das Gespräch möglich und, hm, anscheinend doch gut?

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    1. Beides sehr richtig. Aufschreiben um nicht zu vergessen, was nicht vergessen werden soll. Und Aufschreiben, obwohl das hochholen und vergessen besser und heilsamer wären. In diesem Fall war es ok – schließlich saßen wir an dem Abend gemeinsam am Tisch und das wir das tun, hätte wohl keiner vor so vielen Jahren gedacht.

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