30 Tage

Vor genau einem Moment saß ich lachend auf der Rückbank im Auto des mutigsten meiner Freunde. Den ganzen Tag über lachten wir und hatten so viele schöne Stunden auf den Schultern liegen, dass uns Wind und Kälte des Februartages nur wenig anhaben konnten. Er, der sonst nur einmal im Jahr die alte Heimat besucht, war gekommen, weil ich ihn darum gebeten hatte. Ein Joker den ich nur dann ziehe, wenn mir etwas wirklich wichtig ist. Heute, einen Monat später klingt es banal, dass mir gerade diese eine Lesung so wichtig war, dass ich ihn bat zu kommen. Und heute, einen Monat später, bin ich froh, dass diese Banalität dafür sorgte, jetzt einen Vorrat an Lachen und belanglosem Geplauder zu haben. Spätestens seit ganz Italien zur "zona rossa" erklärt wurde, sind unser Telefonate ein wenig ernster geworden. Reflektierter und weniger belanglos. Lachend, ja, aber auch nachdenklich und mit den Tagen immer besorgter. Alles was ich von ihm höre, erwartet mich im Moment ziemlich genau acht Tage später selbst.

Langsam wird es gruselig, sagte er an einem Donnerstag und obwohl ich ziemlich genau wusste, was er meinte, spürte ich es erst am darauf folgenden Freitag selbst. Da fand ich es das erste Mal auch hier bei mir in München gruselig. Das heißt, es war alles ok, aber so langsam…naja, gruselig eben. Dank der Wahlen in Bayern, haben sich die acht Tage etwas verschoben. Aber gestern und heute – die Restaurants schließen eher, Veranstaltungen sind komplett abgesagt und wenn Speiselokale öffnen, dann bitte Abstand zwischen den Menschen. Identisch hörte ich das vor kurzem noch von ihm. Surreal beschrieb er es nach den ersten Tagen komplett zu Hause in den eigenen vier Wänden und surreal fühlte es sich auch bei mir an, als an einem Sonntagabend die Firma Homeoffice verordnete und darum bat am nächsten Morgen nicht ins Büro zu kommen. Surreal auch der Gang in den Supermarkt. Jedesmal wenn ich sehe, dass das Klopapier alle ist kaufe ich Tulpen. Ich lasse es jetzt, mir gehen die Vasen und Kannen aus. Kommt eh wieder. Irgendwann haben alle ihre 50 Rollen gebunkert, dann bekomme ich die zwei die ich brauche. Es ist nichts so schlimm, dass man es nicht aushalten könnte und doch geht es an die Substanz. Weder bin ich alleine – ich habe meine Nachbarin, die längst meine Freundin ist; noch werde ich zu schnell in den eigenen vier Wänden einen Lagerkoller bekommen. Ich bekomme mein Gehalt und ich habe einen sonnigen Balkon, der mich Isolation eine Weile gut aushalten lässt. Ich komme zu Dingen, zu denen ich sonst keine Zeit habe und ich habe reichlich Muse wieder mehr zu schreiben. Meine Schränke gehören geputzt und auch wenn ich kein Klopapier mehr habe, die Supermärkte sind voll. All das ist nicht wirklich schlimm.

Schlimm ist das Gefühl, überhaupt keine Kontrolle über die nächsten Wochen und Monate zu haben. Nie zuvor hätte ich mich erdreistet meinen Eltern vorzuschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben – schon heute möchte ich haarklein wissen, wo sie hingehen oder besser nicht hingehen. Ich habe den Tag noch nie mit einer WhatsApp an meinen engsten Freund in Italien begonnen – heute ist es mir völlig egal ob ich ihn wecke, ich möchte das „buongiorno“ lesen, nein ich muss es lesen um zu wissen, dass er wach ist und dort im Zentrum des Corona-Wahnsinns ebenfalls den Tag beginnt. Es ist alles auszuhalten, weil es Sinn macht. Aber schlimm ist die Geschwindigkeit mit der sich der Alltag urplötzlich gewandelt hat. Vor nur einem Monat standen er und ich am Ufer des Starnberger Sees und überlegten ob ich besser mit dem Nachtzug oder doch dem am frühen Morgen zu ihm nach Ligurien fahren soll. Heute trennen uns drei geschlossenen Landesgrenzen und wir begreifen nur langsam, dass sich das alles in nur wenigen Tagen ereignet hat. Ausgangssperren, Shutdown und geschlossene Grenzen, das ist für unsere Generation völlig neu und sorgt für einen Kloß in Hals und Magen.

Andrá tutto bene, schreiben die Italiener auf Laken und Leinwände und hängen es vor die Fenster. Ich bekomme seit neustem Lieder via WhatsApp aus Italien geschickt. Auch eine Art zu sagen, dass alles gut wird.

Das wird es. Nur heute ist mir nicht nach flapsigen Balkongeplauder. Heute frage ich mich wie zum Henker sich die Welt in nur 30 Tagen komplett auf den Kopf stellen konnte.

22 Gedanken zu “30 Tage

  1. Wie fragil alles ist, hatten wir erfolgreich verdrängt. Vieles, was uns selbstverständlich erschien, erweist sich jetzt eben nicht als selbstverständlich. Die rasante Veränderung des Alltags versuche ich zu dokumentieren. Schon alleine, dass man sich später erinnern kann, wie es mal gewesen ist.

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    1. Es geht mir ähnlich, lieber Jules. Auch wenn ich hier nur Teile davon veröffentliche. Mir sind besonders die E-Mail zwischen München und Italien wertvoll. Sie dokumentieren in meinem Fall am besten wie schnell und unerwartet alles gekommen ist.

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  2. so viel zum heulen wie in den letzten 2 wochen war mir auch schon lange nicht mehr. und gleichzeitig zum lachen. es passiert soviel schönes zwischen den menschen, weil wir alle spüren, dass das diesmal ein anderes kaliber ist. es passiert auch viel unschönes, aber das blende ich jetzt einfach aus. wir wissen auf einmal, dass das einzig wichtige im leben freiheit und gesundheit ist. schon komisch. In meinem Kopf gehen auch so viele Gedanken dazu herum. Besonders, seit diesem „Meme“ – your grandparents were sent to war, you are sent to sit on the couch, you will make it… denn im Grunde stimmt das natürlich, aber es ist so viel mehr als das. Das Ungewisse, Angst um Menschen, die man liebt und eben, dieses Gefühl, dass man nicht mehr selbst entscheiden kann was man tut und was man nicht tut – das ist zumindest bei mir ein starker Faktor.

    Ich drück uns die Daumen, dass die Maßnahmen helfen, schlimmstes zu verhindern und dass wir alle gut durchkommen – und danach etwas draus gelernt haben ❤

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    1. Ich kann jedes Wort von dir verstehen. Mir geht es ganz ähnlich oder eher genauso. Das Meme kenn ich. Trotzdem ist es eben so, dass keiner von uns eine solche Situation gewohnt ist und wir wahrscheinlich noch etwas brauchen um diese schnellen Veränderungen zu begreifen. Und trotzdem mag ich es. Sitzen, Klappe halten, durchhalten – das erinnert mich an meine Oma. Die war auch immer so strikt und hat jammern verboten. Verstanden hat sie es trotzdem und einen dann einfach in den Arm genommen. Die würde mir jetzt auch gut tun – die Oma.
      Viele liebe Grüße ins Nachbarland.

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      1. das stimmt. das sind zeiten, in denen man omas ganz besonders gut brauchen könnte. aber sie sind nicht mehr da, also müssen wir das, was sie uns mitgegeben haben, in gedanken uns selbst geben. etwas, wozu der mensch zum glück in der lage ist.
        ich glaub auch, dass diese sehr ungewöhnliche situation viele als bedrohung wahrnehmen. wie schnell der staat entscheiden kann, persönliche rechte zu beschneiden… in diesem fall durch eine situation, die wir alle verstehen können. aber wer weiß… es lässt auf jeden platz für viele gedankenspiele und ängste…

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      2. Ja, das geht mir auch so. Die Gedanken kommen unweigerlich auf. Und selbst wenn ich es für richtig halte, dann fragt man sich manchmal ob da nicht unter Umständen Tür und Tor für andere Situationen geöffnet werden.
        Die Lautsprecher Durchsagen gestern in München fühlten sich einfach nur falsch an. Der Inhalt richtig, aber es hatte zu viel von „wir sind im Krieg“

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      3. ich tu mir auch schwer das abzuschätzen. prinzipiell kann ich es schon verstehen, nachdem grade an diesem tag wirklich viele menschen unterwegs waren und man fast hätte glauben können, die ausgangsbeschränkung wäre nicht existent. aber so insgesamt…

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  3. Wenn man es positiv sehen will, dann ist es doch erstaunlich wie schnell die Menschen auf solche rasanten Umstellungen reagieren können. Das stimmt mich zuversichtlich.
    Interessant ist auch Tulpen als Klopapierersatz zu kaufen. 🙂

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    1. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mensch kann, wenn er muss. Leider erschrecken mich auch viele Verhaltensweisen die ich sehe. Aber mit denen will ich mich nicht beschäftigen und lieber auf das Schöne schauen. Deine positive Sichtweise kommt mir da entgegen 🙂

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