Deaktiviertes Sprachzentrum

So bequem habe ich es sonst nicht, sage ich und lasse mich genüsslich seufzend auf den dicken Teppich fallen. Im Schneidersitz am Boden lümmelnd eine Lesung zu halten, durfte ich bis jetzt noch nie. Um ehrlich zu sein, vielleicht hätte man mich gelassen, aber es wäre mir selbst ein wenig komisch vorgekommen, zwischen Stühlen so weit unten zu sitzen. Gestern nicht, gestern passte es und der Teppich war wirklich ausgesprochen schön, warm und weich. Ich mochte es. Außerdem hatten alle frische Socken an. Auch das ist mir normalerweise egal, wenn ich lese, weil die Zuhörer ihre Schuhe bisher immer angelassen haben. Zwei gestern nicht. Zwei saßen dicht bei mir und legten die Füße auf einen Hocker. Ein ausgesprochen gemütliches Ambiente. Gut, man kann darüber diskutieren ob es einem aus dem Takt bringt, wenn die sich kurz necken, wer seine Füße wo auf dem Hocker platziert, aber das war mir eigentlich egal. Dass einer der Füße im Glas Wasser der Autorin landete, war grenzwertig, aber das hab ich vergessen und weil die Socken frisch zu sein schienen, hat es mir auch nicht geschadet. Zielsicher habe ich mir den am weitesten von einer Lampe entfernten Platz gesucht – aber wie ich schon sagte, ich hatte den gemütlichsten überhaupt und konnte all die lieben Gesichter sehen und das war mir am allerwichtigsten. 

Meistens weiß ich noch, was ich am Vortag gelesen habe – heute ehrlich gesagt nicht mehr. Es mag an dem wunderbaren Mittagessen gelegen haben oder vielleicht auch an den fantastischen Stück Kuchen und der Torte. Die machten mich glücklich, aber ich stellte fest, dass ein Magen nur eine begrenzte Aufnahmekapazität hat und es irgendeine Verbindung zwischen Verdauungstrakt und Sprachzentrum geben muss. Arbeitet der eine, streikt das andere. Es ist vielleicht ganz gut, dass ich mich nicht so ganz genau erinnere, weil ich eine meiner eigenen eisernen Regeln missachtete und doch am Wein genippt hatte, bevor ich begann. Um ehrlich zu sein, waren es neben dem Prosecco zur Begrüßung vom Wein dann doch ein Glas (oder zwei – der Auftraggeber hat großzügig während des Essens nachgeschenkt und ich habe nicht mitgezählt). Und der Kaffee (also die insgesamt vier Tassen) den ich zum Ausgleich getrunken hatte, machte mich ein bisschen hibbelig. Ich glaube deshalb saß ich – aus Gründen der besseren Bodenhaftung – auch auf dem Teppich. Eine Sache weiß ich aber noch, ich hab das mit dem Auto, das ich gegen die kleine Mauer der Einfahrt auf Elba gefahren habe, gelesen. Da bin ich mir sicher, denn das waren die einzigen Seiten, die nicht mit Bleistift, Kugelschreiber und einem farbigen Textmarker übersät waren. Normal habe ich nur wenige Anmerkungen auf den Seiten, die ich lesen werde. Nur das nötigste. „Atmen“ steht manchmal da, weil ich das ab und an vergesse. Oder „nicht lesen“, wobei ich mir da meist nicht sicher bin, was ich mir selbst damit sagen wollte und es dann doch lieber lese, weil ich ja einen Absatz nicht einfach weglassen kann. Im Lesen fällt mir übrigens meistens wieder ein, warum ich genau das weglassen sollte. Gestern wollte ich es perfekt machen und habe mit Bleistift alles überflüssige gestrichen und mit kräftigen Klammern und Pfeilen schöne Spannungsbögen auf die Seiten gemalt, falls mir die in der Aufregung entfallen sollten. Mit dem Kugelschreiber versuchte ich dann einiges wieder rückgängig zu machen und ermahnte mich daran zu denken, dass einer der Gäste – der mit dem Fuß in meinem Wasserglas – bei der Entstehung meiner Erzählung anwesend war und es vielleicht besser wäre, manches nicht noch extra zu erwähnen. Das mit dem Auto und der Mauer zum Beispiel. Es gehörte ihm – das Auto und – die Mauer zu seiner Einfahrt. Weil ich dann vor lauter Geschmiere kaum noch etwas lesen konnte, habe ich im Zug 30 Minuten vorher versucht mit einem Textmarker wenigstens ein bisschen Klarheit zu schaffen. Hat nicht ganz so geklappt. Nur das mit dem Auto und dem Autofahren in Italien, das konnte ich noch entziffern und habe es am Stück gelesen. 

So versaut und verhunzt habe ich es noch nie. Und nur weil ich am Freitag eine wirklich schöne Lesung hatte und sich manche Gäste überschnitten haben, schäme ich mich nicht in Grund und Boden, sondern nur bis unter den Teppichrand. Andererseits kommt es wahrscheinlich auch selten vor, das der Protagonist eines Buches anwesend ist, schallend lacht, die Augen verdreht und erklärend und ergänzend gleich selbst zu erzählen beginnt. 

Sie ahnen, dass ich gestern privat gelesen habe. Die Familie des mutigsten meiner Freunde ist mindestens so unerschrocken wie er – sonst wären sie sicher nicht so geduldig sitzen geblieben. Vielleicht erinnerten sie sich auch, dass ihr Bruder, Sohn, Schwager und Enkel in Kombination mit mir noch genauso albern, unausstehlich und unmöglich ist wie vor zwanzig Jahren. Sie alle bekommen von mir Freikarten auf Lebenszeit und haben etwas gut. Denn eigentlich kann ich es.

 

23 Gedanken zu “Deaktiviertes Sprachzentrum

  1. Liebe Mitzi,
    jetzt haben Sie aber den Organisatoren Ihrer nächsten öffentlichen Lesung eine Aufgabe beschert.
    Die überlegen nun fieberhaft, welchen Teppich sie für die Bühne besorgen. 😉
    Gruß Heinrich

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  2. Große Bewunderung, liebe Mitzi!
    In der Schule, im Deutschunterricht mussten wir laut vorlesen und zwar so lang, bis der Leser einen Fehler machte. Dann kam der nächste an die Reihe. Spätestens beim vierten oder fünften Satz war Schluss bei mir…

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  3. Es ist immer dasselbe. Ein wenig Wein erweitert, in passende Stimmung gekippt, den Horizont, das Bewußtsein, auch den WOrtschatz. Ziemlich bald aber hemmt er zumindest die eloquente Lautäußerung. Und dann ist’s eh zu viel und der WOrtschatz reduziert sich ganz schnell.
    Deshalb mag ich – oder soll ich sagen mochte – ein Glas beim Schreiben ganz gerne, weniger beim Sprechen, wenn es denn Vortragen, Vorlesen sein soll.
    Auch sitzen mag ich, wenn ich zur Rede ansetzen soll, nicht so gerne. Stehen ist – für die Atmung schon! – besser.
    Aber das eigentliche Probleme ist ein anderes. Ich trau mich ja doch nicht und lasse lieber lesen.

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    1. Ich lasse den Wein lieber beim Schreiben auch weg. Ab und an ein Gläschen ist schön aber in meinem Fall kontraproduktiv wenn ich mich konzentrieren muss.
      Trauen…hätt ich mich auch nicht. Ich wurde sanft geschubst und merkte erst dann, dass es großen Spaß macht.
      Liebe Grüße

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      1. Auch da habe ich meinen vertrauten Redekasperl (seine eigene Formulierung) der jederzeit einspringt. Der zur Not auch von den Kanzeln predigt oder vor versammeltem Fachpublikum einen Spontanvortrag hält (schauder)…

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      2. Mit Weinbergen kann München tatsächlich nicht dienen. Wie du schreibst, ortsansässig sind eher Brauereien. Aber deutscher Wein darf es gerne sein. Italienischer auch…..da bin ich flexibel.

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