Authentizität – U-Bahn Gedanken.

Authentizität. Die neben mir in der S-Bahn hat das Wort zwischen den letzten zwei Bahnhöfen drei mal fehlerfrei ausgesprochen. Chapeau. Ich stocke immer. Authenzität würde mir leicht über die Lippen gehen, ist aber falsch. Es heißt AuthenTIzität wie ich jetzt zum vieren Mal höre und eigentlich auch weiß. Es ist mir ein Rätsel warum ich an diesem Wort ein ums andere Mal stocke. Sie, die Frau um die vierzig, neben mir, nicht. Da ist es schon wieder. Das fünfte mal innerhalb von drei, nicht besonders weit auseinander liegenden, Haltestellen. Authentisch, sage ich meistens, wenn ich es denn sagen will und vermeide so, das Stocken bei der Authentizität. Es reicht ja, den Satz im Kopf ein bisschen umzuformulieren, um auf Nummer sicher zu gehen. Sich bei einem so gewichtigen Wort zu verhaspeln ist nämlich unangebracht, seit jeder authentisch sein möchte oder es zumindest sein sollte. 

Authentizität ist das neue „so bin ich eben“ und die Frau neben mir ist so eine. So eine, die bis vor einem Jahr noch jedem erklärte, dass sie so eben sei. Es ist unheimlich praktisch, wenn es schick ist, so zu sein, wie man eben ist. Kommt man permanent eine gute halbe Stunde zu spät, dann kann man seine im Regen wartenden Freunde bei der Ankunft anstrahlen und ihnen erklären dass man so eben sei. Ein bisschen chaotisch oder schöner ausgedrückt, so sehr im Moment lebend, dass feste Uhrzeiten ein viel zu starres Konzept für so einen wunderbaren Freigeist, wie den eigenen sind. Wer kann einem da schon 30 Minuten Warten übel nehmen? Ich. Ich nehme es meinen Freunden übel, wenn sie mich regelmäßig im Regen stehen lassen um ihrem ICH noch etwas Raum zu geben. Mein ICH mag das gar nicht. So bin ich eben, klingt nach einem sinnlos heraufbeschworenen Streit besser, als zugeben zu müssen, dass man sich gerade wie die Axt im Walde verhalten hat und vielleicht einfach besser den Mund gehalten hätte, als auf sein Recht und seine Meinung zu bestehen. Eine eigene Meinung ist fein, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie zu haben und vertreten zu dürfen ist ein großartiges Gut. Elementar und wichtig. Ab und an darf man sie aber auch für sich behalten. Gerne dann, wenn man überhaupt nicht gefragt wurde und sie nur raushaut, um auch etwas gesagt zu haben. Ist dann ja auch egal, ob man mit seiner ungefragten Meinung einen anderen verletzt. So ist man eben. Ehrlich zum Beispiel, wie die neben mir. Die erklärt ihrem Mann gerade, was er in den letzten 365 Tagen alles falsch gemacht hat. Das S-Bahn Abteil hört interessiert zu. Es ist ja schön erfrischend, wenn eine so ehrlich ist. So authentisch und offen. Oder, wie der alte Mann neben mir zu seiner Frau sagt, ihren Kerl vor versammelter Mannschaft zur Sau macht. Nicht ohne zu betonen, dass sie ja nur ehrlich ist. So ist sie eben, da muss er durch. 

Deshalb verschiebt sie auch das Abendessen, dass bei ihr oder ihnen geplant war, kurzerhand zu den eigentlich eingeladenen Freunden. Dass sie an der Reihe wären, ist egal. Es ist ihr einfach zu anstrengend zu kochen und schöner ist es Gast zu sein. Ganz authentisch teilt sie das ihrer Freundin telefonisch mit. Mit ihr nicht mehr. Sie wird künftig niemanden bekochen. Das Einkaufen, das Vorbereiten, das Abspülen. Mit ihr nicht mehr. In der Zeit kann sie ein gutes Buch lesen. Aber doch, ja sicher, sie selbst kommt gern vorbei. Andere mögen so was ja. Hausarbeit und so. Vielleicht mögen andere es auch, dass sie mehr auf ihr Handy starrt, als in die Augen von dem, der mit ihr spricht. Oder dass sie ihrem Gesprächspartner permanent ins Wort fällt und mit überdeutlicher Mimik das Desinteresse an manchen Themen deutlich macht. Es ist schön, mit einem authentischen Menschen zu sprechen. So klar wird einem sonst schließlich nicht bewusst, wenn man sein Gegenüber langweilt. Sie erklärt noch ein paar Mal wie gut ihr das in den letzten Tagen gelesene Buch getan hat. Endlich habe sie den Mut, ganz sie selbst zu sein. Das S-Bahn Abteil denkt sich seinen Teil. Nur einer sagt etwas. Der ältere Mann ganz in ihrer Nähe, sieht seine Frau an und raunt ihr leise zu, dass er sich längst hätte scheiden lassen, wenn sie – seine Frau – immer so wäre, wie sie eigentlich ist. Sie schmunzelt, stupst ihn an und nickt. 

Ich steige aus und bin ganz ich selbst. Im Umgang mit Anderen dann aber doch nur zu…sagen wir 75 %. Plusminus 10 % vielleicht. Mit diesen 15% kann man auch mal die Klappe halten oder etwas tun worauf man überhaupt keine Lust hat Mit 15 % Kompromissbereitschaft und kleinen Notschwindeleien, geht man gut durchs Leben. Die machen einen nicht zum meinungslosen Ja-Sager, sondern unterscheiden den ewig nörgelnden Idioten vom reizvollen Querdenker und den eigenständigen sich selbst gernhabenden Menschen vom berechnenden Egoisten. Und sie halten mich davon ab, der Frau das zu sagen, was ich gerade denke. Die übrigen 75 % haben mich dazu verleitet, diesen Artikel zu schreiben. So bin ich eben. 

 

 

 

17 Gedanken zu “Authentizität – U-Bahn Gedanken.

  1. Wer Autent.. äh Authentizität richtig schreiben und sagen kann, erwirbt zu 100 % das Recht, ganz so zu sein, wie man meint, dass es bequem wäre. Aber Recht haben und Recht bekommen waren schon immer zwei verschiedene Sachen.

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  2. „So bin ich eben“ und den größten Schwachsinn mit der „eigenen MEINUNG“ zu begründen, begegnet mir immer häufiger. Entweder wird das neuerdings an Schulen und Unis gelehrt, ist Teil einer mir nicht geläufigen Erziehung oder gar die Folge einer immer größer werdenden Dummheit der Menschen.
    Das klingt von mir sicher überheblich – so bin ich eben. 😉

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  3. du bist wunderbar so wie du bist – bitte bleib so. ich freu mich über deine 75 % sehr, denn was würde ich sonst mit ähnlichem genuss lesen?
    diese 15 % helfen uns halt allen, das leben für ein miteinander erträglich zu machen. aber wir sollten dem auch wirklich nicht mehr als maximal 25 % einräumen. das ist dann nämlich die kehrseite der medaille.

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    1. Damit hast du natürlich recht. Wie meistens, liegt die Kunst darin, einen Mittelweg zu finden. Wenn wir uns nur noch verbiegen, ist auch niemandem geholfen. Ach, es ist schon ganz schön kompliziert das Leben. Zum Glück aber auch schön. 🙂

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  4. Liebe Mitzi,
    danke für Deine Erlebnisse beim Zuhören auf dem Arbeitsweg, Betrachtungen und Reflexionen wie diesmal und übers ganze Jahr.
    Was hilft ehrliche Gefühlsäußerung und Meinung, wenn sie gerade auch in der Öffentlichkeit völlig unhöflich daherkommt?
    Bevor ich nun meine Auffassung zur Begriffsgeschichte der „Authentizität“ darlege, mag ich Dir lieber wünschen, dass Dich die Münchner Verkehrsgesellschaft zu diesem Kommunikations-Thema zu Wort kommen lässt und einlädt.
    Frohe Feiertage und fränkisch „audenddische“ Grüße
    Bernd

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  5. Als ich als Vierzehnjähriger mal die WG meines älteren Bruders besuchte, waren alle begeistert von einer Mitbewohnerin, die die Fähigkeit hatte, Ihre „Emotionität“ … nee, quatsch, „Emotionalität“ authentisch auszuleben – sie schrie viel rum und sagte jedem ungefragt, was sie von ihm hielt, und das waren meist keine positiven Urteile. Seitdem sollte ich eigentlich Bescheid wissen, aber ich gebe zu, auch ich bin schon auf solche Leute (Frauen meist, leider) reingefallen. Man lernt halt immer dazu, auch von Idioten. Oder durch kluge Blogeinträge.:-)

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    1. Warum sollte es dir anders gehen, als mir? Ich kann mit ganz klaren Blick darüber schreiben, und finde mich selbst auch wieder in Gesellschaft von genau solchen Menschen ohne zu verstehen dass sie mir eigentlich gar nicht gut tun. 😉
      Liebe Grüße und einen guten Rutsch

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  6. Ich hasse laute Telefonate in der S-Bahn sowieso, aber so ein persönliches, in dem eine Frau ihren Partner zur S..chnecke macht, ist ja jenseits von Gut und Böse.
    Das Schamgefühl hat sich in den letzten Jahren sehr zurück entwickelt.
    Beste Grüße von mir

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    1. Ich habe das Gefühl, dass die Leute am Telefon überhaupt nicht registrieren, dass sie ihre Emotionen gerade öffentlich breit treten. Oder es ist so, wie du schreibst, dass sich das Schamgefühl zurück entwickelt hat. Beides keine schöne Entwicklung. Liebe Grüße

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  7. Ich glaube, ein Wort wie Höflichkeit ist viel leichter auszusprechen. So wenig es schön ist, sich immer und total zu verstellen, so wenig ist eine plumpe und schamlose Pseudoehrlichkeit erfreulich und erhöht auch meist nur unnötig die Lautstärke. Da frag ich mich, ob ab einem gewissen Punkt ausgelebte Authentizität nicht schon eine besondere Form von Autismus darstellt – der Mensch kann oder will die anderen in ihren Befindlichkeiten gar nicht wahrnehmen oder respektieren, sondern nur seine ausleben.
    Wie gesagt, man kann’s in jede Richtung übertreiben. Aber der Dame und überhaupt jedem Lauttelefonierer in öffentlichen Verkehrsmitteln täte vielleicht mal ein längerer Aufenthalt in Japan gut oder auch nur ein Kurs bei Herrn Knigge.

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    1. Du sagst es. Nicht total verstellen, aber halt auch nicht auf Biegen und Brechen ehrlich sein und damit andere vor den Kopf stoßen. Irgendwas mitten drin, dann wären wir auf dem richtigen Weg.
      Ich fürchte das mit dem Telefonieren werden wir nicht mehr in den Griff bekommen. An sich ist es ja nicht schlimm, nur die Lautstärke….

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