Teppich Klang

Obwohl das Jahr noch nicht zu Ende ist, bin ich mir sicher, dass die schlimmsten zwölf Stunden von 2019 bereits hinter mir liegen. Sie waren etwas ganz besonderes und völlig unerwartetes. Nur leider nicht im positiven Sinn. Mittlerweile spielt es auch keine Rolle mehr. Sie sind vorbei und ich kann beruhigt in die letzten fünf Wochen des Jahres gehen. Schlimmer als diese zwölf Stunden wird heuer nichts mehr. Auf seine Art ein schöner Gedanke. So schön und beruhigend, wie das eine Lied, das ich in den zwölf Stunden hörte. Es war das einzige, das die widerliche und zähe Stille durchbrach. Beim ersten Mal gefiel es mir nicht, beim dritten Mal hatte ich mich daran gewöhnt und nach sieben Stunden, in denen immer wieder die gleiche Playlist ablief, wartete ich schon darauf. Wenn man stundenlang sonst nichts zu tun hat, dann kann man auch 85 Minuten auf ein Lied warten. 

Auf dem seltsam aus der Zeit gefallenen Flokati meines Nachbarn Pauls sitzend, wartete ich auch auf das Lied. Nicht 85 Minuten, aber doch eine gute halbe Stunde. Als es endlich kam, schnalzte ich triumphierend mit der Zunge – da, Finn Kliemann, Seattle! Auch mein Nachbar Paul schnalzte mit der Zunge. Weniger triumphierend, als erleichtert. Ob mir, die ich Spotify neu entdeckt habe, klar sei, dass man einen Titel auch suchen könne, will er wissen und hebt die Hand. Ich schiebe sie zur Seite, bevor sie das iPad erreichen kann.  Natürlich ist mir klar, dass man nach einem Musiktitel suchen kann. Aber das ist so schrecklich banal und würde den ganzen Zauber dieser feinen App zerstören. Ich schnappe mir mein iPad und verlasse den Flokati, bevor Paul mir mit weiteren technischen und logischen Argumenten den Nachmittag verdirbt. Eine Stunde später lümmle ich auf dem Sisalteppich eines guten Freundes und wir warten. Ich gespannt und fasziniert, er ein wenig ungeduldig. Diesmal dauert es richtig lange. Aber irgendwann kommt es – Tricky Ponderosa. Wir schnalzen gleichzeitig mit der Zunge und rollen uns auf den Rücken. Mit geschlossenen Augen lassen wir uns metertief in den Teppich sinken und sind nicht mehr um die vierzig sondern Anfang zwanzig. 3 Minuten und 20 Sekunden lang sitzen wir, auf dem Teppich liegen, im alten Opel seiner Eltern und hören das Lied zu Ende bevor wir uns in irgendeinem Club die Nacht um die Ohren schlagen. Schön, sagen wir gleichzeitig und kommen schnell zurück, weil seinen Töchtern der Sinn nicht nach Tricky sondern einem Stück Kuchen steht. 

Auf meinem Filzkugelteppich auf dem Bauch liegend höre ich Musik. Viel zu lange habe ich es nicht mehr gemacht. Nicht mehr so richtig. Also Musik hören. Nur hören und sonst nichts tun. Das ist schön und erinnert mich an die Abende, als es normal war. Als noch nicht alles immer und überall verfügbar war. Mein Neffe, der neben mir liegt, grinst. Ich habe jetzt also das Alter um solche Sätze zu sagen, fragt er und ich nicke. Hilft ja nichts und jetzt soll er den Mund halten und zuhören. Längst hat er mir erklärt, dass all die zufällig abgespielten Titel einem ganz banalen Algorithmus, basierend auf meinen Vorlieben, folgen. Mag sein. Für einen Technik Idioten wie mich, ist es dennoch faszinieren. Klar, ich habe ab und an auf das Herz gedrückt, mit dem man Lieblingstitel markiert. Aber nicht oft und doch kommen jetzt all die Lieder, die ich vor Jahren, vor Jahrzehnten hörte. Ich entdecke neues, das ich noch nie gehört habe und sehr mag. Und dann wieder etwas, das mich mit solcher Wucht an Menschen, Situationen und ganze Lebensabschnitte erinnert, dass ich vergesse an der richtigen S-Bahnstation auszusteigen und mir die Zwiebeln in der Pfanne anbrennen. 

Wie liegen weiter auf dem Boden und ich bin froh, dass sich wenigstens die Körperhaltung beim Musikhören in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert hat. Und auch, dass man sich früher oder später Dinge erzählt, für die es sonst zu laut und zu hektisch ist. Er erzählt und während er erzählt kommt ein Lied, das kein Algorithmus kennen kann. Ich nehme seine Hand und er sieht mich erstaunt an, weil er längst kein Kind mehr ist. Er muss durch, weil ich bei diesem Lied eine Hand brauche. Das kluge, längst erwachsene Kind grinst über meine Sentimentalität, bleibt aber still. So still wie es damals oft war, als ich das Lied hörte. Mit ihm in den Ohren fuhr ich über den Brenner. Saß in einem Auto als Elba verregnet und hässlich war und stand in Mailand auf einem Balkon und fühlte mich ziemlich alleine. Io vagabondo von Nomandi ist ein ganz besonderes Lied und ich habe es lange nicht gehört. Viel zu lange. Ich drücke das Herz und ahne, was für Vorschläge in den nächsten Wochen folgen werden. Warum nicht, im Frühjahr fahre ich wieder über den Brenner, Spotify scheint es gewusst zu haben. Mit etwas Geduld könnte man ein ganzes Leben mit verschiedenen Liedern zusammen stellen und all jene die einen begleitet haben, würden ohne eine Erklärung wissen, was man erzählen möchte. Manchmal kann Technik schön sein.

Abends steht Paul vor meiner Tür. Ohne Begrüßung schiebt er mich zur Seite und lässt sich auf den Teppich im Wohnzimmer fallen. Er wischt über sein Handy und lächelt ein wenig verlegen. Da, sagt er, das sei sein letztes Jahr gewesen. Nach einer Stunde und dem Hören einer halben automatisch erstellen Playlist glaube ich zu wissen, dass es nicht ganz so gut gelaufen ist. 

24 Gedanken zu “Teppich Klang

    1. Dein Faden stimmt schon, liebe Clara. Ich hab darüber nicht geschrieben, weil ich mich daran halten möchte, dass ich nur über Menschen schreibe zu denen ich etwas Gutes zu sagen habe. Das gehört nicht dazu und damit auch nicht auf dem Blog. Es waren einfach schrecklich blöde 12 Stunden. Liebe Grüße

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  1. Du könntest deinen Musikgenuss verbessern, wenn deine Nachbarn Alexa haben. Du stellst dich mit dem Mikrofon auf die Straße und bittest Alexa dein Lieblingslied zu spielen. Dann könntest du dich auf deinen Teppich mitten auf die Straße legen.

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    1. Alexa finde ich ehrlich gesagt ein bisschen unheimlich. Es wäre zwar eine schöne Vorstellung mit dem Teppich auf der Straße zu liegen und die Nachbarschaft zu erfreuen, aber in der Wohnung möchte ich das Ding dann doch lieber nicht haben.

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      1. Hörner. Nicht gerade schmächtig aber absolut cooler Klang kombiniert mit einem Yamaha Surroundlautsprechersystem. Die Ausgangslage waren zwei Canton Mittel- und Hochtönerlautsprecher aus einem Auto. Ein wichtiges Detail war, dass sie eine Metallgitterabdeckung auf der Membran haben. Meine ersten Lautsprecher hatten eine Abdeckung aus Stoff. Meine Kinder hatten diese eingedrückt und der Klang war danach katastrophal, wie du dir denken kannst. Ein Freund hat mir dann eine gute Anleitung gegeben Lautsprecher selbst zu bauen. Und das Holz war Abfallholz aus dem Baumarkt.

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  2. Darf man fragen (und auf Antwort hoffen), was die 12 Stunden zu den schrecklichen gekürt hat? Wenn nicht, alles gut, fühl Dich gedrückt, die nächsten 20 Jahre werden (rein astrologisch gesehen) wesentlich besser 😘

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    1. Natürlich darf man fragen. Und normalerweise würde ich die Antwort auch schreiben, aber da mein Blog ja öffentlich ist lass ich es diesmal lieber. Ich möchte mich daran halten, über die Menschen in meinem Umfeld nur dann zu schreiben, wenn ich etwas Gutes über sie zu sagen habe. In diesem Fall fällt mir das im Moment schwer und deshalb lass ich es einfach so stehen. Vielen Dank für das drücken, das ist immer schön. Aber 12 Stunden verderben mir das Jahr nicht. Trotzdem ist es gut zu wissen, dass astrologisch gesehen, die nächsten 20 Jahre in trockenen Tüchern sind. Ganz liebe Grüße und eine Umarmung zurück.

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    1. In diesem Fall, liebe Jules, mag sich ein jeder zwölf schreckliche Stunden vorstellen. Eigentlich spielt es keine Rolle was passiert ist und da mein Blog ja öffentlich ist möchte ich das in diesem Fall lieber nicht breit treten. Völlig unspektakulär, wie das Leben so spielt, und Schwamm drüber. Ich hoffe du weißt was ich meine und bin mir sicher, dass du weißt warum es manchmal besser ist nicht alles zu schreiben wenn ein Blog öffentlich ist. Liebe Grüße

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  3. der zauber dieser app ist ein besonderer, einer, den ich im digitalen zeitalter schon fast nicht mehr geglaubt habe zu finden. musik ist einfach pure magie. und von dir mal wieder gänsehautworte. so schön.

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    1. Ich freue mich, dass es dir ähnlich geht. Ich konnte in letzter Zeit ja bei deiner Entdeckungsreise teilhaben und konnte es dir so gut nachfühlen. Übrigens habe ich mir auch ganz viele Dinge von ihr angehört. Wirklich wunderschön.

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      1. ❤ das finde ich echt schön. An ihrer Stimme scheinen sich ja recht die Geister zu scheiden, umso mehr freue ich mich dass du zu denen gehörst die sie mögen ❤ und dass ich sie Anfang November dann auch noch tatsächlich persönlich treffen durfte hat meiner Begeisterung noch das letzte Quäntchen zur Manie verpasst 😉

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