So etwa vierzig Jahre

In meine Küche scheint die Sonne. Sie hat nur ein kleines Fenster und wenn sich an einem Herbsttag eine Wolke vor die Sonne schiebt, wird es sofort dunkel in meiner Küche. Eine Wolke die das wenige blasse Licht eines Herbsttages vertreibt, erinnert mich noch immer an dich. Wenn du wirklich wütend warst, wurde es immer ein wenig dunkler und ein paar Grad kälter. Ich kenne und kannte niemanden, der so kalt und abweisend wie du sein konnte. Wenn du wütend warst, dann wurde es auch im August kalt. Dann braucht es keine Wolken um neben dir zu frieren.

Für die wenigen Menschen, die dich wirklich kannten, wann deine Augen warm und meistens lag ein Lächeln darin. Für Menschen die dich nicht kannten, waren sie oft distanziert und eine Spur unterkühlt. Du warst einer der wenigen Menschen, der sich für einen Großteil der anderen tatsächlich nicht interessierte und das sah man dir an. Unhöflich warst du kaum und nie habe ich dich verletzend erlebt, nur ehrlich. Ein Ehrlich, das manchmal schwer zu akzeptieren und oft anstrengender als die Schwindeleien anderer Menschen war. Ich habe schnell gelernt, dich nur zu fragen, wenn ich wirklich eine Antwort wollte. Geht so, will man nicht hören, wenn man sich kurz vor dem Ausgehen nach der Meinung über ein neu gekauftes Kleid erkundigt. Geht gar nicht, so eine Antwort, sagte ich dann und verkniff mir die Frage an künftigen Abenden. Es war nicht schwer, weil du auch offen kundtatst, wenn dir etwas gefiel und es sich dabei oft um mich handelte. Ob wir darüber ernsthaft diskutieren wollen, war eine der wenigen Fragen, die du regelmäßig stelltest und hast mir beigebracht Sarkasmus zu ignorieren, wenn mir etwas wichtig war. Sagte ich ja, dann diskutieren wir. Wenn nötig stunden- und nächtelang. Einmal über die Sinnhaftigkeit das Standortes unserer elektrischen Zahnbürsten in den jeweiligen Bädern. An das Ergebnis kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an dein herzhaftes Lachen bei meinem Versuch nach einer Stunde noch ernsthafte Argumente zu finden. Viele Menschen interessierten dich nicht, weil du der festen Überzeugung warst, dass ein menschliches Leben nur einen bestimmten Anteil an Banalitäten erträgt. Die aber, die es taten, konnten sich deines Interesses sicher sein. Selbst wenn man dir ansah, wie unnötig und überflüssig du manche Gedankengänge empfandest. Ungelegte Eier waren dir ein Graus. Ich dagegen brüte und brütete mit Hingabe über ihnen. Augenverdrehend, aber ausdauernd, bist du neben mir gesessen.

Wenn sich jetzt im Herbst Wolken vor die Sonne vor mein Küchenfenster schieben, dann wird es dunkel und kalt. Ich vermisse dich. Vermisse dein Augenverdrehen, deinen Sarkasmus, deine Abscheu gegen Banalitäten und die stundenlangen Diskussionen mit dir. All das was nur ein winziger Teil von uns war. Mehr noch das, was wirklich Raum eingenommen hat. Dein herzhaftes Lachen, deine Spontanität, dein schlauer Kopf und die Art wie du meine Hand in deine genommen hast. Die Wärme deines Wesens und dein Talent mich irgendwann von ungelegten Eiern runter zu schubsen ohne dass ich es merkte. Ich vermisse dich. Selbst deine Wut vermisse ich. Deine verbissene Art, um das zu kämpfen, was dir wichtig war. Ich vermisse dich und es tut mir bis heute unendlich leid, dass du den letzten Kampf verloren hast. Ich mache für uns beide weiter. Noch ein bisschen. Vierzig Jahre oder so. Wenn im Herbst Wolken die Sonne verdecken, dann wird es kalt. Das ist normal. So normal, wie einen Menschen wie dich noch immer so sehr wie am ersten Tag zu vermissen. Dann wartet man, bis die Sonne wieder raus kommt. Das tut sie immer, ich weiß es, obwohl ich dich in all den vielen Nächten nicht davon überzeugen konnte. Wenn es stimmt, was in den Büchern meiner Kindheit steht, dann sehen wir uns in vierzig Jahren wieder. Dann wirst du die Augen verdrehen und mich fragen ob ich ernsthaft darüber diskutieren möchte, ob dein endgültiges Gehen Sinn gemacht hat. Und ob ich werden will. Es wird kalt werden, weil ich dich wütend mache, aber irgendwann wirst du herzhaft lachen und die Sonne kommt raus. Ich kann es aussitzen. Bis dahin vermiss ich dich. Vierzig Jahre etwa. 

21 Gedanken zu “So etwa vierzig Jahre

  1. Liebe Mitzi,
    Sie müssen nicht drauf warten. Die 40 Jahre sind schneller rum als Sie es sich vorstellen können.
    Wenn ich erinnere, was ich vor 40 Jahren gemacht und erlebt habe, ist das zwar nicht wie gestern – aber wie vorgestern. Beeilen Sie sich deshalb, viele Zeiten bis dahin für sich selbst zu nutzen. Dann wird es in 40 Jahren nicht den Anschein haben, dass heute nur vorgestern war. 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, ich fürchte (denn das Leben in den Jahren ist ja ein schönes) auch, dass es schneller gehen wird als mir lieb ist. Ich werde die Jahre nutzen. Wer weiß schon ob sich das Warten auf ein Danach lohnt. Außerdem scheint die Sonne heute. Da freu ich mich doch gleich auf jeden neuen Tag.
      Herzliche Grüße

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  2. Brrr, da wird einem kalt. Wie wütend kann Wut sein? So ein kalter Blick…
    Dann wird der Text etwas wärmer. Man freut sich auf die andere Seite, es gibt nicht nur die kalte Wut. Es gibt eine tief gefühlte Wärme.
    Und dann entdeckt man, wo die Reise hingeht. Und, logisch, es wird wieder kalt. Todeskalt.

    Ja, sie gehen. Weg, für immer weg. Und mehr als vermissen bleibt nicht. Mehr als fühlen. Mehr als Trauer. Manchmal vielleicht auch Wut auf diese Fehlkonstruktion, die man Leben heißt. In diesem unüberwindlichen Thermodynamikgesetz, in dieser fatalen Endlichkeit.
    Mancher findet Trost in den Geschichten, die man Kindern erzählt.
    Mancher findet Trost in des Lebens Fortgang.

    Schon die Alten sagten: wen die Götter lieben, den holen sie zu sich. Früh, zu früh, aber Rücksicht haben die Götter der Alten noch nie genommen, die waren einigermaßen realistisch vorgestellt.

    Eine kleine und leider wahre Geschichte, nicht zum Trost, denn woher sollte der kommen: wir haben vor nun schon etlichen Jahren (die letzten Jahre sind nur dem Gesetz der Natur folgend die Alten weggestorben, die Eltern usw., jetzt sind wir die Alten und auch mit diesem Gedanken muß man sich erst mal anfreunden) die Frau meines Schwagers beerdigt. Mit, genau, 40. Zwei noch recht kleine Kinder die inzwischen junge Erwachsene sind. Das war eine sehr traurige und natürlich auch für das bestehende Leben der Zurückgebliebenen, Hinterbliebenen einschneidende Sache, versteht sich. Auf dem Friedhof bemerkte ich ein Grab nicht weit entfernt, das sich irgendwie von den anderen Unterschied. Ich las die Jahreszahlen. Nochmal. Und schluckte: Aha, demnach Lebenszeit: 2 Jahre.

    Ja, ganz recht, uns bleibt nur das „Nutze den Tag.“ Denn Carpe diem folgert aus Panta rhei (frei übersetzt auf englisch: times are wastin‘)…

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    1. Danke, Gerlind. Kein Alter ist für die, die zurück bleiben schön. Eine Lebenszeit von 2 Jahren lässt einen nur erahnen, welche Trauer bei den Eltern zurück bleiben muss. Aber auch bei Kindern, die früh die Mutter verlieren und auch bei Erwachsenen, die – sobald das letzte Elternteil gestorben ist – in die erste Reihe vorrücken und ahnen, dass sie jetzt die Alten sind. Es hilft nichts. Trauer begleitet uns im Laufe des Lebens und wir können nur hoffen (und uns ein bisschen selbst Mühe geben, denn wenn auch längst nicht alles, manches haben wir in der Hand) dass die schönen und guten Momente überwiegen und die Zeit mit Jenen, die gingen, eine gute war.

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