Die Zeit heilt alle Wunden. Finde ich einen Kalender, der diesen Spruch bereithält, werfe ich ihn weg. Egal ob er mir gehört oder nicht – Lügen darf man nicht verbreiten. Die Zeit mag vielleicht ein aufgeschlagenes Knie heilen, gegen die nicht sichtbaren Wunden aber ist sie machtlos. Die Zeit ist ein falscher Freund. Da ist eine Wunde, ein Loch im Garten des Lebens, und mit der Zeit wächst Unkraut und auch schöne Blumen über seinen Rand. Und die Zeit, der miese Freund, gaukelt einem vor, dass man nun so langsam vergessen und wieder durchatmen könne. Aber schon ein kleiner, falscher Schritt reicht, und man fällt in ein Loch das noch genauso tief und genau so scharfkantig ist wie am ersten Tag. Tut mir leid, sagt die Zeit, ich dachte ein paar schöne Blümchen, etwas Löwenzahn und feine Gänseblümchen würden es hübscher machen. Die Zeit ist ein Idiot.
Ein Loch im Herzen kann man nicht reparieren, sagte ich vor langer Zeit zu einem, dessen Alltag ihm täglich das Gegenteil beweist. Obwohl er sich mit kaputten Herzen und anderen maroden Organen auskennt, widersprach er mir nicht. Er sagte nur, dass man mit mit einem Loch im Herzen leben kann. Freilich, man muss auf so ein ramponiertes Herz ein wenig besser aufpassen, ab und zu ruckelt es ganz gewaltig und das Atmen fällt womöglich manchmal schwer, aber doch, ja, es sei durchaus möglich mit einem Loch im Herzen zu leben. Und zu lachen, ergänzte er damals und öffnete die erste von vielen noch folgenden Flaschen Wein. Rot, trocken und kräftig, genau das richtige für eine ramponiertes Herz, erklärte er mir ernst mit einem Schmunzeln in den Augen. Nicht oft findet man Menschen, die sich mit Löchern im Herzen auskennen. Noch seltener sind jene, die gar nicht erst versuchen sie zu reparieren, weil sie wissen dass man etwas so filigranes nicht einfach flicken kann. Eine so seltene Spezies Mensch, muss man unbedingt näher kennen lernen. Ob er es mit mir und meinem kaputten Herzen wirklich aushalten könne, fragte ich ihn bei ersten Schluck Wein. Er zuckte mit den Schultern. Was sagt man auch, wenn man immer wieder zu spüren bekommt, dass einer der längst nicht mehr da ist, noch immer irgendwo im Herzen seines Gegenübers hockt und sich verbissen festklammert.
Sehr viel später bei einer anderen Flasche Wein und als viel Unkraut, viele Gänseblümchen und schöne Blumen um die Ränder einer Wunde gewachsen waren, war er es der mich fragte ob ich mit so einem Kopf wie dem seinen zurecht kommen würde. Er sei ein wenig kaputt. Innen, nicht außen, man würde es nicht sehen aber vielleicht würde man es merken. Oh ja, antwortete ich, man würde es sehr deutlich merken. Sein Kopf sei sehr in Mitleidenschaft gezogen und nun wirklich kein perfekter Kopf mehr. Äußerlich schon, da gäbe es nichts zu beanstanden, aber das was sich darin abspielte, dem würden ein paar hübsche Blümchen nicht schaden. Dort an den Rändern, waren ein wenig zu viele Dinge die er nicht loslassen konnte und zu viele Gedanken, die er mit nach Hause schleppte und die ihn nicht schlafen ließen. Manchmal sei er ein wenig arg zynisch und sein Sarkasmus würde an manchen Tagen schwer zu ertragen sein. Aber das wäre ok. Ein trockener, kräftiger Rotwein würde dagegen ganz wunderbar helfen. Ob wir so auf Dauer nicht ein Alkoholproblem bekommen würden, fragt er mich mit einem Schmunzeln und ich schüttle den Kopf. Nein, das sei nicht zu befürchten. Mein Herz und sein Kopf die lief nicht ganz rund, die stolperten, die drehten sich im Kreis und bekämpften sich mit unfairen Mitteln. Aber die Gegenstücke, mein Kopf und sein Herz, die seien schließlich gänzlich unversehrt und würden sich mit aller Macht dagegen stemmen. Die bekommen das hin, sage ich bei einem Glas Wasser. Die sind so blöd zu glauben, dass sie es schaffen den Mist aus Kopf, Herz und von den Schultern zu vertreiben. Und solange sie daran glauben, trinken wir den Wein, weil er schmeckt und nicht weil er hilft.
Über dem Kopierer im Büro hängt ein Abreißkalender. Irgendwer erneuert ihn immer wieder, egal wie oft ich ihn schon heimlich weggeworfen habe. Heute, Mark Twain: „Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin.“ Er darf bleiben. Muss es sogar, den Wahrheiten, sollte man unbedingt vor Augen geführt bekommen.
Haha, „egal, ob er mir gehört oder nicht“…
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😇
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Prost! 🍷
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🥂
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Vielleicht sollten wir besser sagen: die Zeit bildet Narben. Die Narben, die über den Wunden wachsen, braucht man, damit das Blut nicht immer weiter fließt. Aber die Wunden darunter gehen nicht weg. (Ich mag manche von meinen Narben, weil sie an der Geschichte meines Lebens mitgeschrieben haben.)
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Ein guter Vergleich. Ja, so könnte man es gut und treffend beschrieben.
Ich mag die meinen auch. Oder zumindest habe ich mich mit ihnen versöhnt.
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wie wahr, das mit der Zeit und den Wunden…….
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Wir kennen es ja alle. Liebe Grüße
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Diese Kalenderweisheiten gibt es vermutlich, weil es Menschen gibt, die belogen werden wollen.
Ab und zu sind aber auch ein paar gute Sprüche dabei – oder sagen wir mal, welche die mir gefallen. 😉
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Mir auch 🙂 Ehrlich gesagt gar nicht so wenige. Aber der zitierte Spruch…der ist zu oft gedruckt worden.
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Für die Balance ist es gut, wenn manche Menschen da und andere dort ihre Narben und Löcher tragen ……
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Sehr schön geschrieben. Das denke ich auch.
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Die Zeit ist stoisch. Sie ist und geht vorbei, heilt nix, ist völlig gleichgültig …
Schön geschrieben liebe Mitzi!
Herzliche Grüße zur Nacht vom Lu
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Danke, lieber Lu.
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🌟🌾🌟
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danke liebe mitzi für diesen wunderschönen gänsehauttext, in dem ich mich mal wieder ganz auf diese besondere art wiederfinde, die nur du mit deinen geschichten vermagst.
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😘
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Vielleicht interessiert dich, was ich einmal auf die Frage „Was tut die Zeit, wenn sie nicht heilt“ geschrieben habe?. Hier der Link: https://achim-spengler.com/2016/02/08/was-tut-die-zeit-wenn-sie-nicht-heilt/
Starker und berührender Text, den du uns da vorsetzt.
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Danke, Achim. Und vielen dank für den Link. Ich habe den schönen Beitrag gerade gerade gelesen und werde es sicher noch einmal mit größerem Bildschirm und ganz in Ruhe machen. Herzliche Grüße
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Oh, das passt aber, punktgenauer Treffer! 🙈
Seht schön!
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Danke, dir. 🙈🙂
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Der Spruch ist vielleicht nicht wahr, liebe Mitzi, hilft aber bei aktuellen Verwundungen, wie die Mutter dem gestürzten Kind auf seine Wunde pustet, beides tröstet.
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Eine Mutter, die dem gestützten Kind auf die Wunde pustet, vermittelt: Ich bin da. Ich sehe dich und ich höre dir zu und nehme Anteil.
Ein Spruch ist ein Spruch, mehr nicht. Ob er mich trösten würde, zweifel ich mal stark an. Er würde mir nur die Hilflosigkeit der Person zeigen, die nichts anderes zu sagen weiß.
Vielleicht wäre lediglich das Gefühl von „die Anderen wissen auch nicht weiter“ tröstlich. Aber ich nehm lieber die pustende Mutter – solange sie nicht von mir erwartet, dass dann auch schnell „alles wieder gut“ ist.
Ach herrje, wo hat mich das denn nun hingeführt? Es sollte nur ein kurzer – so ist das ja gar nicht-Kommentar werde, und nun? Entweder löschen oder abschicken.
Abschicken.
Schönen Gruß!
Hummel
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Der Spruch fällt ja auch nicht vom Himmel und springt einem nicht von einem Kalender ins Gesicht, sondern wird im Idealfall von einem mitfühlenden Menschen gesprochen. Leider ist „Die Zeit heilt alle Wunden“ inzwischen zu abgedroschen.
Schönen Gruß!
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Schönen Gruß auch an dich, lieber Jules.
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Ich bin sehr froh, dasaß ihn abgeschickt hast, liebe Hummel. Danke!!!
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Das stimmt, lieber Jules.
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Die Zeit heilt alle Wunden aber oft bleiben Narben zurück.
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Meistens. Und die heilen unterschiedlich schnell.
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Die Sprüche selbst sind meist nicht unwahr. Es kräht weiter der Hahn auf dem Mist ohne Einfluß auf das Wetter. Aber wir sind es, die zu selbstbezogen sind. Erinnert sich noch jemand an den Herzschmerz der Großmutter? Der Urgroßmutter? Nein, und die hübschen Blümchen wachsen, hoffentlich. Allerdings auf ihrem Grab. Dass das Leben gnadenlos austeilt bzw. seine Helfershelfer, die Kieselsteine am Weg die das so entgegenkommende Knie aufschlagen und die härteren Brocken, die lieben Mitmenschen, das ist unbestreitbar. Dass uns dann nur ein anderer Mitmensch mit Pflaster und Zuwendung trösten kann, auch das ist so. Und sollte bis dahin wenn möglich nicht zu viel Zeit verstreichen lassen, insbesondere bei pulsierend blutenden Wunden. Unsere Faschingsgeneigten Rheinländer sind überzeugt, dass alles vorüber-, alles vorbeigeht. Dürfte stimmen. Irgendwann. Irgendwie. Zeit – wir sind es gewohnt, Sekunden und Minuten zu zählen. In der Zeit, in der der Spruch entstand, gab es vermutlich noch nicht einmal eine Kirchturmuhr. Zeit, das waren mindestens Tage gerechnet von Sonnenauf – bis Untergang. Und Jahreszeiten. Und Lebenszeiten, Jahre, Zeitläufe… und die Erinnerung, irgendwann: da war doch mal… und, wie wir heute wissen, auch die Erinnerung verändert sich, verzerrt und verformt allmählich, aber gewaltig. Nicht immer zum Besseren, das nicht.
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Noch auf dem Heimweg und daher kürzer als es der Kommentar verdient…
Danke dir für die wahren und schöne Kommentare.
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Da gebe ich dir absolut recht, Zeit heilt nicht definitiv nicht alle Wunden. Aber zumindest in meinem Fall (ich spreche nicht für alle) macht sie den Umgang mit der Wunde leichter. Ich lerne auf mich zu achten, vermeide triggernde Situationen und sollte es dann doch mal zum Eklat kommen dann nehme ich mir Zeit für mich selbst. Leben kann mitunter einfach ein wahres Arschloch sein.
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Ein blödes Arschloch, ja. Und ich denke das kann man auch ruhig so sehen, solange es – das Leben – manchmal auch etwas ganz tolles und schönes ist. Zeit hilft, das sehe ich auch so. Manches wird nie ganz gut und heilt nie ganz aus, aber mit Narben kann man Leben oder man lernt damit zu leben. So wie du es eben beschreibst. Liebe Grüße
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Hallo liebe Mitzi,
ich hatte dir den Spruch schon einmal per Instagram zukommen lassen. Aber da ich gerade ein wenig in deinen alten Texten schmöker, möchte ich ihn an dieser Stelle wiederholen.
„Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie rückt das Unheilbare aus dem Mittelpunkt.“
Ganz liebe Grüße Kati
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Danke Kati. Der Spruch ist wirklich schön und wahr.
Ehrlicher als “Die Zeit heilt alle Wunden”.
Ganz liebe Grüße zurück
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