Rettung naht

Obwohl heute Samstag ist, fühlt es sich nach Sonntag an. Hier bei uns haben die Sommerferien ihren Höhepunkt erreicht und gefühlt mindestens ein Drittel der Nachbarschaft ist ausgeflogen. Hätte ich ein Auto, dann würde mit das Parken in diesen Tagen gefallen. Schwungvoll, ohne groß abzubremsen, könnte ich einschlagen und hätte ohne rangieren die perfekte Parkposition. Perfekt für mich. Das heißt, ich würde 2,5 Parkplätze in Beschlag nehmen, was aber angesichts der wenigen Autos die derzeit hier parken völlig ok ist. Selbst mein Nachbar Paul, der gerade an mir vorbei geht, parkt schlampig und zuckt nur grinsend mit den Schultern. Egal, in den Sommerferien haben wir Platz. Ich überlege, mir das Auto meiner Eltern auszuleihen. Nicht weil ich es brauche, sondern nur weil ich auch einmal das Gefühl eines tiefenentspannten Parkvorgangs genießen möchte. Vielleicht morgen, heute ist ein so fauler Tag, dass ich lieber auf dem Boden sitzen bleibe und weiter die Speichen meines Fahrrades mit einem Taschentuch abwische. Nicht weil sie wirklich dreckig sind, sondern weil ich einen Vorwand brauche, um zu sehen, was genau Herr Krüger vor dem Haus treibt. Seit geraumer Zeit steht er gebückt in der Buchsbaumhecke und bewegt sich nicht. Es ist mir peinlich so neugierig zu sein, aber Herrn Krüger bekommt man so selten zu Gesicht, dass ein genauerer Blick zu verlockend ist. 

Auch Paul blieb einen Moment lang stehen und beobachtete unseren Nachbarn, der bewegungslos die Hecke anstarrte. Auch Hasso, sein Schäferhund beobachtete ihn und ich freute mich, dass das große Tier sein Herrchen nicht aus den Augen ließ. Herr Krüger gehört zu der Gattung Mensch, die für andere unsichtbar sind. Es ist wahrscheinlicher, dass eine Frau mit Gehwagen und schweren Einkaufstüten dem Hund ausweicht, als das eine junge Frau mit freien Händen, das gleiche für Herrn Krüger macht. An der Supermarktkasse stellen sich Menschen einfach vor ihn und in der Bäckerei wird er so lange ignoriert, bis er sich schüchtern räuspert. Oder wieder geht. Auch das kommt vor. Es ist gut, dass Hasso ein wenig auf ihn aufpasst. Einen Schäferhund rennt man nicht einfach um. Herrn Krüger schon. Was macht er, fragt Paul flüsternd und ich zucke mit den Schultern. Dreißig Minuten später weiß ich es und kann es Herrn Meier, der vom Einkaufen kommt, sagen. Herr Krüger säubert die Hecke. Mit einer Pinzette bewaffnet zupft er die Raupen des Buchsbaumzünslers aus den Blättern. Herr Meier zeigt ihm einen Vogel und geht ins Haus. Obwohl die Geste, selbst für den alten Meier ein wenig arg ruppig ist, verstehe ich ihn. Seit über einer Woche hängt ein Zettel am Brett im Hausflur. Die Buchsbaumhecke kommt weg. Sie hat den Kampf gegen den Buchsbaumzünsler verloren und ist zu einem traurigen Anblick geworden. Etwas neues soll hin. Etwas, das dem Zünsler nicht schmeckt. Als mein Taschentuch nur noch ein Fetzen ist, stehe ich auf und gehe zu Herrn Krüger. Wie so oft kann er mir nicht in die Augen schauen und ich merke, dass es ihm unangenehm ist, von mir angesprochen zu werden. Ich tue es trotzdem. Ganz leise versuche ich ihm zu erklären, dass die Hecke weg kommt. Dass sie am Montag schon abgeholzt wird und es dann keine Zünsler mehr geben wird. Herr Krüger sieht mich das wohl erste Mal in seinem Leben an und nickt. Ja eben, murmelt er, verharrt einen Moment und beginnt dann wieder damit, die Raupen abzutragen. Vorsichtig legt er sie in eine große Schüssel und ich verstehe. 

Herr Krüger rettet nicht den Buchsbaum, sondern den Zünsler. Ich bin mir nicht sicher wohin er ihn bringen wird. Überall in der Stadt, werden die Hecken vernichtet. Es sind zu viele Raupen und sie sind zu gefräßig. Spritzen ist schädlich und schändlich, aushungern vielleicht ein Möglichkeit. Als Herr Meier mir später erzählt, dass Herr Krüger ihm Hasso für eine Woche anvertraut hat, weil er in Urlaub fährt, bin ich mir fast sicher, dass er eine Schachtel mit Buchsbaumzünslern im Gepäck hat. Wohin er sie wohl bringt? 

Wenn Sie mich fragen, sind die Zünsler genau so von Ostasien zu uns nach Deutschland gekommen. Einer, wie Krüger, vielleicht ein Japaner, hatte Erbarmen und brachte sie in Sicherheit, als Japan mit der Rodung der Buchsbäume begann. Ganz bestimmt muss es so gewesen sein und ganz sicher rettet nun Herr Krüger den Zünsler. Ein Mann wie Herr Krüger, der fährt nicht einfach in Urlaub. Der verlässt seine Wohnung nur, wenn es um Leben und Tod geht. 

 

23 Gedanken zu “Rettung naht

  1. Herr Krüger ist eine herrliche Erweiterung des Personals deiner Geschichten aus der Nachbarschaft, liebe Mitzi. Beruhigend zu wissen, dass sich einer des Buchsbaumzünslers annimmt. In Niedersachsen hat am vergangenen Donnerstag die Schule begonnen, und alles geht wieder seinen geregelten Gang.

    Gefällt 1 Person

    1. Auch mir ist Herr Krüger ans Herz gewachsen, lieber Jules. Wir in Bayern sind ja immer die letzten was die Sommerferien angeht. Wenn bei uns die Schule wieder anfängt, dann ist bereits Herbst. Mir hat es früher immer gut gefallen, weil ich mich schon als Kind am liebsten auf etwas gefreut habe.

      Gefällt 1 Person

      1. Fast die gesamte Zeit meines Lehrerdaseins begannen die Ferien in NRW schon Ende Juni und mit wechselhaften Wetter. Zudem war das zweite Schulhalbjahr dann sehr kurz, Oft habe ich Bayern um den späten Ferienbeginn beneidet.

        Gefällt 1 Person

  2. Solcherlei Aktivitäten sind mir hier noch nicht aufgefallen – aber leerere Straßen und freie Parkplätze – das gab es während der Schulferien zu beobachten – aber hier läuft ja schon seit einiger Zeit der Schul betrieb wieder.

    Gefällt 1 Person

  3. Ich mag Herrn Krüger, wir sind uns sehr ähnlich auch wenn ich keine Raupen retten würde. Da kenne ich andere in meinem Umfeld, was sie eigentlich noch liebenswerter macht. Ich vermisse die Sommerferien jetzt schon, es war so schön still… und jetzt ist der Lärmpegel in der Nachbarschaft wieder enorm.

    Gefällt 1 Person

    1. Die Stille werde ich auch vermissen, wenn sie bei uns vorbei sind. Drei Wochen haben wir noch. Und Herrn Krüger mag ich auch – solche Menschen braucht es. Von den anderen gibt es ja schon so viele 😉

      Like

  4. Zwar gebe ich zu, dass ich mit Neotzooen und NEophyten sowie Nutzpflanzen – Schädlingen (wie Nacktschnecken, Gärtners Liebling Nr. 1) wenig Mitleid habe und Zurückhaltung übe. Sehe ich selbst an meinem Schmetterlingsflieder im Garten die namengebenden Geschöpfe sind es inzwischen fast nur noch Weißlinge, die vermutlich an meinen Kohlrabi gehen, doch kaum mehr die bunte Flatterwelt einer gesunden Landschaft. Doch andererseits ist Leben retten, Leben bewahren natürlich eine der schönsten Eigenschaften (man hat das zwischen Italien und hier an den Stammtischen und in der Politik ein klein wenig vergessen, wie es scheint) und edelsten Eigenschaften des vernunftbegabten Gleichen. Ob Herr Krüger, zu bezweifeln ist das, Buddhist ist, ein Buddhist mit Schäferhund statt Löwenhündchen? Ob er überhaupt schon gehört hat, was das ist, sein könnte?
    Aktivurlaub wird er im Kaukasusgebiet machen, wo ganze Buchsbaumwälder existieren. Die der Zünsler gerade vernichtet. Gegen den die allweisen Staatenlenker gerade begonnen haben, auf natürliche Feinde zu setzen, die sie aus China importieren, die dann vermutlich wieder keine natürlichen Feinde vor Ort haben, so wie die Agakröte in Australien oder andere dieser klugen Entscheidungen der ach so vernünftigen Menschen…

    Gefällt 1 Person

    1. Schmetterlingflieder habe ich am Wochenende auch bewunderte. Ich war ein wenig abseits der Stadt und freute mich, dass dort so viele Schmetterlinge unterwegs waren – auch verschiedene. Ob Herr Krüger ein Buddhist ist…ich kann es mir nicht vorstellen. Überhaupt kann ich mir bei ihm wenig vorstellen. Er gehört zu jenen Menschen, die mich – egal was sie tun – überraschen. Hoffentlich nicht, indem er natürliche Fressfeinde hier anschleppt. So doof sollte man nur einmal sein. Etwas das wir Menschen aber sicher nicht sind…also nur ein mal blöd.

      Like

  5. Nachdem ich einmal Himalaya – Springblumen – Marmelade kosten mußte: laßt das lieber. Wer hierzulande keine freudige Aufnahme in der Natur findet, also keine Freßfeinde, hat offensichtlich seine innere Konsistenz so geschickt chemisch angereichert, dass es einfach nicht besonders schmackhaft werden kann. Bleibt bei dem (vermutlich europäischen) Wein. Das darin enthaltene Gift ist bekannt.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar