Frau Obst wird alt

Es geht ihr nicht gut. Das warme Wetter macht ihr zu schaffen und wenn man sie sieht, dann schleicht sie nur langsam durch das Treppenhaus. Sie ist alt geworden, unsere Nachbarin. In diesen Tagen könnte man es auf das Wetter schieben. Wer die 80 erreicht hat, den schlauchten die Temperaturen von weit über 30 Grad die momentan in der Stadt herrschen. Es wundert einen nicht, wenn ältere Nachbarn ein wenig ruhiger, langsamer und stiller unterwegs sind und sich während der Sonnenstunden gar blicken lassen. In anderen Jahren hätten wir unsere Witze gemacht. Hätten uns beglückwünscht dass die Hitze und die Sonne unsere Nachbarin Frau Obst endlich einmal zum verstummen bringt. Kaum einer hätte ihr schimpfen vermisst und ein jeder wäre über die Ruhe froh gewesen. In diesem Jahr nicht.

Es geht ihr nicht gut. Unsere Nachbarin Frau Obst ist alt geworden und wer sie kennt, der sieht, dass sie sich auf den letzten Teil ihres Weges gemacht hat. Noch immer hat sie den grantigen Blick, wenn ihr die Mülltrennung der Bewohner nicht passt oder die Zeitungen nicht ordentlich genug in die Briefkastenschlitze gesteckt wurden. Aber sie sagt nichts mehr. Ihr fehlt die Energie zum lauten Schimpfen und man sieht, wie sie nur noch unwillig im vorbeigehen ein paar der Zeitungen ordentlich in die Kästen stopft. Schon lange hat sie nicht mehr über den Balkon zu mir herüber geschrien, wenn ihr mein Radio zu laut oder meine wuchernden Blumen zu frech erschienen. Seit einiger Zeit schüttelt sie nur noch unwillig den Kopf und klopft schwach gegen die Wand die mein Wohnzimmer von dem ihren trennt.

Es geht ihr nicht gut und wir merken es alle. Und nur weil sie immer die war, die schimpfte, tobte und brüllte, traute sich lange keiner sie anzusprechen. Es braucht eine Zeit, bis man merkt, dass der Mensch den man kannte langsam verblasst und ein anderer zum Vorschein kommt. Die alte Frau die jetzt neben mir wohnt, ist eine Frau ich gerade erst kennen lerne. Es ist eine Frau von der ich nie geglaubt hätte, dass sie mich dankbar anlächelt, wenn ich ihr anbiete den Müll nach unten zu bringen oder ihr ungefragt eine Tüte mit Einkäufen vor die Türe stelle. Noch herrscht sie mich regelmäßig an, dass sie schließlich kein Pflegefall sei und sehr wohl selbst einkaufen gehen könne. Sie tut es mit der altbekannten Stimme und dem missmutigen Blick. Und doch streicht sie mir für den Bruchteil 1 Sekunde über den Unterarm und murmelt ein leises Danke. Es wäre ja doch extrem war, erklärt sie, und sie hätte nur ungerne die kühle Wohnung verlassen. Ich sage nichts, außer einem „gern geschehen“, weil noch sehr viel von der starken unbeugsamen Frau in ihr ist. Einer Frau, der es schwer fällt sich zu bedanken und die es nicht über das Herz bringt zuzugeben, dass sie nun tatsächlich alt geworden ist.

Wir werden sie begleiten sage ich zu Herrn Meyer. Sie gehört zu uns und in all den Jahren habe ich nicht gesehen dass sie jemals Besuch gekommen hat. Immer dachte ich, dass ein solch garstiger alter Besen sicher alle Familie und Freunde längst vergrault hat. Es hat mich nicht gewundert. Gestern, habe ich es zum ersten Mal bedauert. Niemand sollte die letzten Meter seines Weges alleine gehen müssen. Irgend jemand, ganz egal wer, sollte einem begleiten. Und wenn es nur ein Nachbar ist, der weiß, dass neben an eine wohnt, der es nicht mehr gut geht. Vielleicht werden es jetzt wir, die die neben ihr wohnen, sein, die über den Balkon zu ihr rufen und brüllen. Nicht unbedingt, weil ihre Fenster nicht geputzt sind wie sie es bei uns getan hat, sondern um sie zu bitten ein kurzes Lebenszeichen zu geben, damit wir uns nicht sorgen. Das ist kein großer Aufwand. Das ist eine Selbstverständlichkeiten, egal ob man jemanden mag oder nicht. 

Ich komme aus München Giesing. Ein Arbeiterviertel. Wir motzen, schimpfen und granteln. Aber wir lassen nur selten jemanden aus unserer Mitte alleine. 

54 Gedanken zu “Frau Obst wird alt

  1. Meist steckt hinter dem granteln ein viel zu weiches Herz, das schon zu oft verletzt wurde und nur noch alle von sich weggrantelt. Doch irgendwann fällt auch diese Mauer. Wunderbar, liebevoll geschrieben.

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  2. Liebe Mitzi,
    auch ich werde alt.
    Ich habe keine Ahnung, ob irgendwann mal eine Nachbarin über mich etwas in Ihrem Blog schreibt?
    Wenn ja, wird sie schreiben: Er war immer freundlich hat nie gegrantelt.
    Zwei Dinge möchte ich dazu sagen.
    Erstens wird das nicht entscheiden, ob ich meinen letzten Weg alleine gehe.
    Ich kenne viele freundliche Menschen, die SEHR einsam sind.
    Und zweitens hat das Freundlichsein auch seinen Preis – nicht nur für mich – sondern auch für die, die darunter leiden, dass ich für Grantler und Meckerer Verständnis aufbringe und die „Ursachen“ in deren Vergangenheit suche und erkläre und es immer „erdulde“.
    Den Grantlern sei gesagt:“Ihr seid ganz schön egoistisch, dass Ihr Eure Umwelt leiden lasst, um Euch selbst besser zu fühlen, alles so haben zu wollen, wie es Euch passt!
    Frau Obst kann mehr als glücklich sein, eine Mitzi mit viel Kraft und Herz als Nachbarin zu haben, die auch noch so gute Ohren hat, ein ganz leises Danke zu hören. 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Sie haben Recht, lieber Heinrich. Ob wir am Ende alleine sind oder nicht, hängt nicht davon ab ob wir freundlich oder grantig sind. Am Ende gehört wahrscheinlich auch eine Portion Glück dazu.
      Ich mag sie ja irgendwie…die grimmigen und grantigen. Die lieben und netten auch. Fast alle und doch wünsche ich auch denen, die ich nicht mag, dass sie ein anderer mag.
      Einsamkeit ist Grausam und eines der wenigen Dinge, vor denen ich mich fürchte.
      Aber das war ja gar nicht das Thema.
      Herzliche Grüße

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  3. Auch meine böse Nachbarin, die öfter zu mir in den dritten Stock gestürmt kam, um mich zu beschimpfen, wird älter und freundlicher. Nur neulich, als mir beim Blumengießen die Kanne ins Wackeln geriet und ein Schnapsglas Wasser auf ihren Balkon tropfte, war sie für kurze Zeit wieder die Alte. (Ich kann noch nicht versprechen, dass ich sie begleiten werde. Die Beschimpfungen, die sie mir an den Kopf geworfen hat, waren zu schlimm. Aber man weiß ja nie.)

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    1. Man muss sie ja nicht einmal vergessen, die Beschimpfungen. Kann man vielleicht auch gar nicht. Ich glaube es reicht heute schon, wenn man einfach weiß, dass da unten einer wohnt und man sich fragt warum man länger nichts von ihm gehört hat. Dann kann man ein Schnapsglas Wasser runter kippen. Wenn geschimpft wird, ist noch alles in Ordnung ;).

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  4. Für diesen Text möchte ich dich „knutschen“ – denn so lange ist es bei mir ja auch nicht mehr hin. Aber ich überlege sehr, wer deine Rolle hier in diesem Haus übernehmen könnte – auch nur ansatzweise.
    Drück dich!

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      1. Ach, bei so einer netten Truppe kümmert man sich doch um alle gerne, egal wie alt oder jung man ist 🙂
        Herzlichen Glückwunsch nachträglich!

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      2. Das musst du Mitzie dann schon selber fragen. Aber sind denn die 38, die ich von dir noch in der Erinnerung habe, schon wieder fast drei Jahre her? Da bin ich ja auch drei Jahre älter geworden, so ein Mist oder so eine Freude.

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  5. Alt werden ist nicht einfach und dabei zuzusehen auch nicht. Vielleicht erleichtert es sogar die eigene Angst vor Alter, Tod und Einsamkeit wenn man jemand anderen mehr oder weniger intensiv begleitet ….

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  6. Wow, danke, sehr schön und berührend schreibst du hier und du scheinst wahrzunehmen, was viele mit raschem Blick übersehen. Mit euch als Nachbarn kann eure Nachbarin wohl doch ganz zufrieden sein!🙂 Lg, Sarah

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  7. Ja, wenn die grantelnden, ihre Nachbarn in den Wahnsinn treibenden alten Hexen alt und still werden, lässt sich leichter Frieden mit ihnen schliessen. So ist das wohl. Der Blick in die Nachbarschaft gefällt.

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  8. Wir haben so einen grantigen Herrn Obst unter uns wohnen, der uns bei unserem Einzug vor zwölf Jahren das Leben schwer machte. Er betrachtete uns regelrecht als Feinde. NIcht, weil wir etwas getan haben, was ihn stört, sondern, weil wir über ihm wohnen. Er hat bereits vor uns drei Familien zum Auszug bewegen können, zuletzt ein ruhiges solides Ärztepaar, das ihm und seiner Art (Typ Blockwart) nicht gewachsen war.
    Wir hatten reichlich Gründe, ihm nichts Gutes zu wünschen.
    In den letzten Jahren wurde er (mittlerweile 83) immer milder, er lächelt, freut sich über Unterhaltungen im Treppenhaus, ist verzückt, wenn er unsere kleinen Enkelkinder sieht, und seitdem ich ihm einmal mit Farbe aushalf, und ein anderes Mal seinem betagten Wagen Starthilfe gab, ist der alte Herr richtig milde und angenehm. Als neulich sein Fernseher streikte und ich ihm mit einer Antenne aushalf, schenkte er mir eine Flasche Bier zum Dank.
    Nun wünsche ich ihm und uns, dass er noch lange unter uns wohnen bleibt.

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    1. Es ist erstaunlich, wie aus einem schrecklichen Ekel ein Mensch wird, der einem ans Herz wächst und den man nicht unbedingt als Freund, aber als Nachbarn recht gerne hat. Wahrscheinlich ist die berühmte Altersmilde nicht nur ein Gerücht. Ich finde die Vorstellung dass man sich auch im hohen Alter noch einmal ändern kann eigentlich sehr schön. Einen solchen Menschen gibt man doch gerne eine zweite Chance. Warum sie in früheren Jahren so unangenehme Zeitgenossen waren, wenn man in den meisten fällen wahrscheinlich nie erfahren. Ich bin sicher, dass einige nicht nur aus Bosheit zu dem geworden sind was sie waren. Liebe Grüße

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