Ein Witz von Tasche

Ob man uns sehen könnte, will sie wissen und das letzte Lachen im alten Jahr ist laut, derb und ansteckend. Das einzig passende Lachen, wenn zwei erwachsene Frauen hinter einem Busch stehen und einzuschätzen versuchen, wie viel Deckung die dürren Äste wohl geben können und ob man uns sieht. Ja, nein und jetzt Ruhe, die letzte zwanzig Sekunden haben begonnen. Es gibt wenige Menschen, mit denen ich sie in einer Seitenstraße stehend, herunter zählen möchte. Sie gehört dazu. Einer bei dem es völlig egal ist wo man die letzten Sekunden des Jahres verbringt, solange man nur nebeneinander steht. Wir standen schon im Nebel, an einer ausgestorbenen Kreuzung und rannten lachend und atemlos zu einer Verabredung. An alle letzten Sekunden erinnere ich mich gerne. Die hinter dem Busch stehend passen gut dazu. Wir haben die Wunderkerzen zu Hause vergessen. Es macht nichts, weil das Feuerwerk in diesem Jahr besonders schön ist. Spring, höre ich dich leise an meinem Ohr und schließe die Augen um dich besser zu sehen. Der Moment ist zu kurz und du viel zu flüchtig. Erst später, so viel später, bist du wieder bei mir. 

Ob ich gesprungen bin, willst du wissen, und kennst die Antwort. Natürlich bin ich gesprungen. Mit Anlauf, mit Trotz und mit geschlossenen Augen, weil man ein neues Jahr nur blind, unwissend und voller Zuversicht begrüßen sollte. Was das mit dem Busch sollte, willst du wissen und ich zucke müde mit den Schultern. Ich weiß es nicht mehr. Wir wollten warten, weil wir zu spät waren. Oder zu früh. Und weil…ich weiß es nicht mehr, weiß nur, dass es ein guter Ort war, um ins neue Jahr zu springen. Von den vielen Menschen muss ich dir nicht erzählen. Irgendwo zwischen ihnen, warst du. Ich sah dich nicht, aber ich spürte dich, weil du noch immer bei mir, an mir oder neben mir bist, wenn ich mit geschlossenen Augen springe. Zwischen  3, 2, 1 und Happy new year bist du es, der mir noch immer zuflüstern, dass ich jetzt springen muss, dass es weiter geht und alles gut werden wird. Wer uns kennt, weiß wie makaber gerade diese Aufforderung gerade von dir ist und wie wichtig es mir noch immer ist, es von dir zu hören. Später hätte ich dich nicht mehr gehört. Der flüchtige Rest von dir wäre zu leise gewesen um das Stimmengewirr der Bar zu übertönen. Es muss eine Bar gewesen sein und wirkte doch wie ein Wohnzimmer in das man zwei Duzend Menschen mehr, als es fassen kann, gepresst hat, auf das sie nicht frieren, ihre Begleitungen aus den Augen verlieren und sich mit Menschen unterhalten müssen die sie noch nie gesehen haben. Mein Schal ist weg, sage ich dir und sehe dich schmunzeln. Noch nie habe ich eine Silvesternacht verbracht, in der ich nichts verloren habe. In einem Jahr sogar dich und in einem anderen mich. In dieser aus der Zeit gefallenen Nacht ist es ok, etwas zu verlieren, weil man dafür meist etwas anderes findet. Was ich gestern gefunden habe, höre ich dich fragen und schiebe dir müde einen Bierdeckel über den Tisch. Was genau darauf steht, kann ich nicht mehr entziffern. Ein Satz der schön geklungen hat, als er im Morgengrauen ausgesprochen und aufgeschrieben wurde. Vielleicht erinnere ich mich, wenn ich geschlafen habe. Du wartest und ich schüttle Konfetti auf dem Tisch. Die müssen vom vorletzten Jahr hängen geblieben sein und ich frage mich, ob du wirklich greif- und fassbare Dinge erwartest, weil man doch weiß, dass das meiste dieser Nächte nicht zu sehen ist und kaum in den Witz von Täschchen passen würde, das herrlich golden glänzt, sonst aber für wirklich nichts zu gebrauchen ist. 

Du sitzt neben mir und sagst, dass es Zeit zu schlafen sei. Mittag schon und wenn ich jetzt nicht endlich ins Bett gehe, dann werde ich es morgen bereuen. Und überhaupt, gleich eins und ich noch immer wach. Bald lohnt es sich nicht mehr. Erst wenn wir nicht mehr zwischen den Jahren sind, erkläre ich dir, und dass das neue Jahr erst beginnt, wenn man geschlafen hat. Tut man es nicht, stiehlt man dem Jahr den ersten Tag, dass bringt es zum Lachen, das Jahr. Ich rede Blödsinn, sagst du und ich nicke. Natürlich, ich bin zum sterben müde und hier draußen auf der Stufe vor meiner Wohnungstür ist es ungemütlich und kalt. Der Schal ist egal, egal, egal, aber der Schlüssel, den hätte ich nicht verlieren dürfen. Vielleicht sollte ich im nächsten Jahr beim Springen, die Schnalle des Witzes von Tasche schließen, schlägst du vor und legst den Arm um meine Schultern. Vielleicht, ja. Aber die Augen werde ich nicht öffnen, weil man ein neues Jahr ganz unbedingt nur blind, unwissend und voller Zuversicht begrüßen sollte. Mit ähnlicher Zuversicht wie jener, dass der Schlüsseldienst bald kommt und ich endlich schlafen kann. 

16 Gedanken zu “Ein Witz von Tasche

      1. Hätte ich wohl auch……..aber letztendlich ging es nur um Geld….und DEN Fehler wirst Du nie wieder machen. Happy New Year, Mitzi ☄💥☄

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  1. Ein gutes neues Jahr wünsche ich Dir, liebe Mitzi,
    und dass Dir Dein wunderbare Schreiben nicht abhanden kommt.
    Dafür gibt es nämlich keinen Schlüsseldienst, der das lösen könnte.
    In diesem Sinne: alles Gute!

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  2. Oh, liebe Mitzi,
    Schlüssel verlieren ist das Zweitschlimmste oder Drittschlimmste. Je nach Priorität und Gefühl auch das Viert- oder Fünftschlimmste. Auf jeden Fall ist es unter den Top 10 Gegenstände zu verlieren.
    Ich hasse es, Dinge zu verlieren. Und unter den sachbezogenen Dingen, gibt es keine schöneren Momente, etwas wiederzufinden.
    Gruß Heinrich

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    1. Fast, lieber Heinrich, fast. Den Schlüssel zu finden, nachdem man die Rechnung des Schlüsseldienstes bezahlt hat, ist nicht schön.
      Oder doch, aber nur halb so schön. Viertel schön. Am besten man verliert einfach nichts.

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