Eduard ist schuld

Eine Wohnung im Erdgeschoss, würde uns nicht gefallen. Wir sind uns einig, auch wenn er meist die Augen ein wenig verdreht, weil meine Argumentation nicht unbedingt der seinen entspricht. Während ihn das fehlende Licht stört, ist es bei mir die tiefe Überzeugung mit einer Erdgeschosswohnung früher oder später unfreiwillig zum Protagonisten bei „Aktenzeichen XY ungelöst“ zu werden. Schlendern wir abends durch die Straßen der Stadt, erklärt ich ihm jedes Mal, dass Rollläden Einbrecher nicht abhalten würden. Rollläden von Privatwohnung bestehen meist aus Plastik. Das macht Sinn, sie wären sonst ein wenig schwer, aber auch wieder nicht, den wer vertraut sein Leben schon einem Rohstoff an, der global gesehen ein großes Übel, aber sicher kein Schutz gegen maskierte Gauner ist. Als Kind hatte ich Angst vor Einbrechern. Kein Wunder, ich habe fast jede Folge von „Aktenzeichen XY ungelöst“ gesehen. Meist im Flur kauernd, weil meine Eltern zwar entspannt waren, die Sendung für ihre siebenjährige Tochter aber doch als unpassend empfanden. Ich sah sie mir durch einen Spalt in der Wohnzimmertüre an. Der dunkle, kühle Flur in dem ich hockte, machte die nachgestellten Szenen noch gruseliger und es war mir unverständlich, dass meine Eltern danach noch ruhig schlafen konnten. Schließlich wohnten wir im Erdgeschoss und waren damit prädestiniert künftig Opfer extrem gewalttätiger Männer mit schwarzen Mützen über dem Gesicht zu werden. Um das zu verhindern, blieb ich vorsichtshalber wach, bis meine Eltern schliefen, kontrollierte Fenster und Türen und versuchte nicht zu schlafen, damit ich meinen Vater wecken konnte, wenn einer versuchte einzusteigen. Dass das möglich war, wusste ich. Mein Vater ist Schlosser und behauptete immer, jede Türe öffnen zu können. Obwohl ich meinen Vater für den besten und talentiertesten Menschen der Welt hielt, dämmert mir schon im Grundschulalter, dass es womöglich mehr als einen Mann gab, der alle Türen öffnen konnte. Auf den wartete ich in den Nächten nach der Ausstrahlung der Sendung. Wäre er gekommen hätte ich meinem Vater den Rest überlassen und ihn mit lauten Rufen des Anfeuerns beim Ausschalten des Einbrechers unterstützt. Er und ich – wir hätten das hinbekommen. Es galt ja nur die Türe im Auge zu behalten und nach Kratzgeräuschen zu lauschen. Die Fenster waren durch massive Rollläden geschützt. Solche aus Eisen. Für die man einen Metallschneider brauchen würde, um einzusteigen. Ein Gerät, das ich aus der Werkstatt meines Vaters kannte und von dem ich wusste, dass es einen Höllenlärm veranstaltete.  So blöd, das zu benutzen wäre kein Einbrecher. Keiner, mit dem Papa und ich es nicht aufnehmen konnten.

Mit neun Jahren habe ich herausgefunden, dass mein Vater mich angelogen hatte. Unsere Rollläden, unsere Lebensversicherung, unsere Garantie keine Rolle bei „Aktenzeichen XY ungelöst“ zu bekommen, waren aus Plastik und nicht aus Eisen. Ich verzeihe meinem Vater alles. Aber bis heute weiß er vermutlich nicht, was er mir damit angetan hat. Ich musste nun, nach einer Ausstrahlung nicht nur tagelang – bis ich zu müde wurde und es vergaß – nächtens nach Geräuschen an der Wohnungstür horchen, sondern auch noch Kontrollgänge durch die ganze Wohnung machen. Die Fenster waren ja nicht mehr sicher und meine Mutter kippte sie im Sommer auch noch. Ich glaube, dass die ab und zu auftretenden Albträume meiner Eltern in jenen Jahren von mir verschuldet sind. Ein kleines Gespenst im knöchellangen Blümchennachthemd stand oft vor ihrem Bett und kontrollierte die Lage im Schlafzimmer, vor dessen Fenster sich auch noch ein Strauch befand und das mir als besonders gefährdet für einsteigene Verbrecher erschien. Damit wenigstens sie gut schliefen, während ich – geschult durch Eduard Zimmermann – Wache hielt, habe ich mich über sie gebeugt und bei der Gelegenheit auch gleich noch ihren Atem kontrolliert. Kinderlieder summend, wenn ich mich recht erinnere. Irgendetwas davon muss in ihrem Unterbewusstsein angekommen sein, denn manchmal hörte ich sie von seltsamen Träumen sprechen.

Meine Kontrollgänge konnte ich einstellen als wir in eine andere Wohnung im zweiten Stock zogen. Und noch etwas später als ich auszog überließ ich selbst die Überprüfung, ob der Schlüssel in der Tür zwei Mal umgedreht war, meinem Freund. Bei Androhung der sofortigen Trennung musste er, der länger wach blieb, mir schwören noch vor dem Zähneputzen die Türe zu kontrollieren. Dass ich es bereits zwei Mal zuvor getan hatte, spielte dabei keine Rolle. Er machte es gut und ich wurde ruhiger. Bis ich nach Italien zog und eine Wohnung hatte, deren Rollläden im Wohnzimmer kaputt waren und sich nur zur Hälfte schließen ließen. Anfangs war ich sorglos. Dann übernahm der mutigste meiner Freunde die Rolle von Eduard Zimmermann und berichtete von Einbrüchen im Viertel und Rund um den Gardasee. So viele wurden nachts betäubt, ausgeraubt oder, wenn sie nicht betäubt genug waren und sich regten, einfach umgebracht. In der Zeitung stand nie etwas, aber man wollte die Menschen vermutlich nur nicht beunruhigen. Bei milden Temperatur von 35 Grad im Sommer, einem über die Dächer komfortabel für die halbe Nachbarschaft erreichbaren Balkon und der Unmöglichkeit bei geschlossenem Fenster zu schlafen, war mir klar, dass ich früher oder später einem Gewaltverbrechen zum Opfer fallen würde. Ich versuchte bewegungslos zu schlafen und wie betäubt auszusehen, damit man mich wenigstens nur ausrauben und nicht auch noch umbringen würde.

Er solle mal versuchen bewegungslos zu schlafen, bitte ich den, der mit mir ab und zu durch die Straßen schlendert und ziehe die Stirn in Falten, wenn er die Augen verdreht. Demnächst werde ich bei ihm einziehen. Dieser Mann wohnt zwar im vierten Stock, aber er erscheint mir doch ein wenig sehr sorglos zu sein. Ich gehe lieber auf Nummer sicher.

42 Gedanken zu “Eduard ist schuld

  1. Liebe Mitzi!

    XY Aktenzeichen war auch in meiner Kindheit ein gängiger Begleiter. Recht sorglos habe ich mir die Folgen angesehen und bis auf 2 oder 3 brutale Fälle keine größeren Schäden davongetragen 🙂 Hingegen sehe ich mir heutzutage diese Sendung keinesfalls mehr an. Viel zu viel Angst würde mich da wohl Tag für Tag begleiten. Es sei denn, Sie kämen des nachts unbemerkt in meine Wohnung und würden die Rollläden und Türen auf ihre Sicherheit überprüfen. Mit Mitzi Zimmermann fühle ich mich sicher 🙂

    Herzliche Grüße
    Angsthase Mallybeau

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      1. Super. Ich bin wirklich beruhigt und hoffe, dass Sie in Ihrer neuen Umgebung immer sicher und geborgen sein werden 🙂

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  2. Meine alleinstehende Patentante sah sich immer die Folgen der TV-Reihe „Stahlnetz“ an, deren Folgen wie „Aktenzeichen XY“ auf reale Begebenheiten zurückgingen. Anschließend traute sie sich nicht mal, ins Bett zu gehen. Als meine Mutter mal bei ihr war, und sie schauten zusammen, wurde sie von den Ängsten angesteckt. Das jedenfalls berichtete sie. Neben den kindlichen Ängsten, von denen du schreibst, liebe Mitzi, gibt es auch den erwachsenen Grusel. Davon lebt eine ganze Unterhaltungsindustrie.

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    1. Ja, diesen Grusel mag ich manchmal sogar. Da kann ich mir einreden, dass es alles nicht real ist. 😉
      Zu zweit kann man manchmal noch schlechter damit umgehen. Zwei Angsthasen sind dann tatsächlich doppelt so schlimm. Es braucht einen der beruhigt.

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  3. Und ich dachte immer, bei mir würden sämtliche Verbrecher Unterschlupf suchen. Aktenzeichen XY hat wirklich volle Arbeit geleistet. Einmal würde wirklich bei uns eingebrochen. Ich war die einzige, die bei offener Tür schlief. Danach habe ich kein XY mehr geschaut.

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  4. Meine Begleiterin meint immer, wenn die Einbrecher meine Wohnung betreten, drehen sie gleich wieder um, mit der Überzeugung, daß hier nichts mehr zu holen ist, da kurz zuvor andere Einbrecher dagewesen sein müssen … Abschreckung durch Unordnung, XY sollten mich mal einladen, dann kann ich ein paar Tipps geben.;-)

    „XY undgelöst“ und „Der Kommissar“, das weiß ich aus eigener kindlicher Anschauung, sollte man Kinder nicht sehen lassen. In eine Erdgeschoßwohnung würde ich auch nie ziehen, genau wie Du hänge an meinem Leben.

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  5. Meine Mutter fand die Sendung „XY ungelöst“ immer gruselig schlecht und hat auch nichts von Eduard Zimmermann gehalten. Viel lieber waren ihr wonneproppige Fernsehformate wie „Einer wird gewinnen“ mit Hans-Joachim Kulenkampff oder (ja, wir hatten Ost-Fernsehen!) “ Ein Kessel Buntes“.
    Sie meinte, dass sie keine Lust habe, sich vom Fernsehen Angst machen zu lassen. Recht hatte sie. Ich fand „Ein Kessel Buntes“ auch immer schöner und bin hier wohl die einzige, die Eduard nicht die Schuld geben kann an schlechten Träumen von bösen Einbrechern!

    In bocca al lupo per il nuovo appartamento, cara Mitzi.

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    1. Kluge Einstellung von Deiner Mutter. Die Sendung mag ja geholfen haben oder tut es noch immer. Aber wenn ich mir hier die Kommentare anschaue, dann hat sie uns mehr Angst als alle Bücher von Stephen King zusammen, gemacht.
      Grazie!

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  6. Gerade schäme ich mich ein wenig. Es ist nicht nett, bei der Schilderung von Ängsten Anderer lauthals los zu lachen. Allerdings… die Vorstellung eines kleinen Gespenstes im Blümchennachthemd, das sich kontrollierend über die Eltern beugt… Und wenn es dabei leise Kinderlieder summt, das hat schon was von Stephen King. 😀
    Liebe Grüße, Werner

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  7. Meine Eltern waren ebenfalls beunruhigt, wenn sie die Sendung sahen. Ich aber argumentierte, zumindest ein Mal im Monat wären wir sicher, nämlich während „Aktenzeichen XY ungelöst“, die die Ganoven natürlich auch schauten, um zu kontrollieren, ob man ihnen bereits auf den Fersen war … 😉

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  8. Diese Ängste kenne ich nicht, meine Haustüre ist bis heute unverschlossen, wenn ich schlafen gehe. Gerade hier, am neuen Wohnort, kommt das einer Einladung gleich, aber ich fühle mich sicher und vertraue dem Hofhund 😉
    herzliche Grüße, Ulli

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    1. Das ist doch schön. So sollte es auch sein. Gerade weil es völlig sinnlos ist sich präventiv Sorgen zu machen.
      Ein Hofhund ist unheimlich beruhigend. Also die meisten. Unserer nicht. Der schleckt jedem die Hand.

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  9. Ich habe zwar nicht wie Ulli einen Hofhund, na gut, im 8. Stock kann schlecht jemand über das Fenster einsteigen. Meine Wohnungstür ist in der Hälfte der Zeit nicht einmal verschlossen, weil ich es vergesse. Ich frage mich immer ganz ernsthaft, was der bei mir holen wollte – mich auf jeden Fall nicht, mich würde er sofort zurückbringen, viel zu aufmüpfig.
    Entschuldige, wie Traumschoepfer musste ich auch herzhaft lachen – deswegen bitte ich um Verzeihung 🙂
    Herzlichst Clara
    Ist der letzte Satz Fakt? Ziehst du wirklich um?

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    1. Ne, ich ziehe nicht um. Ich find alleine wohnen ziemlich schön und will daran nix ändern. Aber Sorgen mache mich mir natürlich schon um den alleine lebenden 1,93 m großen Mann ;).

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  10. In den letzten neun Jahren haben wir in zwei verschiedenen Häusern gewohnt und es war jeweils eine Wohnung im Erdgeschoss, in die eingebrochen wurde. Mein Mann besteht darauf, dass wir nie das Erdgeschoss beziehen.
    Bei einer Bekannten wurde jedoch über den Balkon eingestiegen und bei meinen Großeltern regelmäßig über das angrenzende Dach. Bisher hatten wir wohl Glück und das erzähle ich ihm wohl besser nicht. 😉

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  11. liebe mitzi, ich freue mich immer so sehr über diese geschichten. ich sehe dich richtig vor mir, wie ernst du diese aufgabe nimmst und oh, ich kann dich so gut verstehen! es ist schön, dass du dich so um deine eltern gesorgt hast und vermutlich hast du eine schutzaura um eure wohnung gezaubert 🙂

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  12. Ich bin meinen Eltern recht dankbar, dass sie nie Aktenzeichen XY ungelöst geschaut haben. Wobei ich auch nie so neugierig gewesen war, es heimlich zu schauen. Ich bekam damals schon bei Filmen mit FSK 6 Albträume. Als ich geringfügig älter war, blieben meinte Eltern mal länger bei Freunden als abgesprochen und ich begann mir Sorgen zu machen. Plötzlich klackerte es an der Tür ganz komisch und ich griff todesmutig nach meinem Hockeyschläger. Kurz um, ich hätte meiner Mutter fast die Zähne ausgeschlagen…. Seit dem haben sie immer bescheid gesagt, wenn sie später kommen würden. 😀 Ps: Ich habe mir damals wirklich fast in die Hosen gemacht. PPS: Vierter Stock? Ich habe jetzt schon Höhenangst

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    1. Puh – obwohl ich sicher bin, dass deine Mutter stolz auf ihre mutige Tochter war, die sich zu helfen weiß, muss der Schreck ganz schön gewesen sein.
      Dass du die Sendung nicht gesehen hast, ist gut. Bei den vorherigen Kommentaren, hat sie viel zu vielen eine ganz schöne Angst eingejagt.

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