U-Bahn-Gedanken Nummer gesucht

Konzentriert tippt der alte Mann in der U-Bahn auf das Display seines Handys. Wacklig liegt das moderne Gerät auf seinen Knien, wo er es vor einigen Minuten abgelegt hat um mit zwei Fingern der einen Hand das zu lesende vergrößern und mit dem Finger der anderen Hand etwas anzuklicken. Es dauert und ich höre ihn leise stöhnen. Ein Stöhnen, das man versteht, wenn man schon einmal einen Menschen dabei beobachtet hat, die simpelsten Funktionen auszuführen und  ahnt, dass dieser vermutlich vor dem Smartphone wenige ähnliche Geräte in den Händen hatte. Selbsterklärend sind diese Dinge nur, wenn man mit ihnen aufgewachsen ist oder sich langsam an die immer präsentere Technik gewöhnt hat. Manchem der älteren Generation macht es Freude, diesem nicht. Kein Wunder. Seine Hände sind zu groß für das kleine Telefon und die dicken, schwieligen Finger können es nur schwer bedienen. Schöne Hände sind es. Alte Männerhände, die in ihrem Leben wohl hart und viel gearbeitet haben. Man sieht es an den Fingern. Handwerkerfinger. Im Alltag so oft viel nützlicher als filigrane und zarte Akademikerhände. Hände, die notfalls eine Brennnessel ohne Handschuhe heraus reißen und es trotzdem spielend schaffen einem kleinen Kind sanft über die Wange zu streichen. Solch grobe Hände sind manchmal die zärtlichsten. Ob es die seinen sind, weiß ich nicht. Ich kenne ihn ja nicht und sitze ihm nur zufällig gegenüber. Beobachte wie er über das Display fährt und ungläubig den Kopf schüttelt wenn er versehentlich eine App öffnet.

Er wischt da über den Bildschirm, wo er tippen müsste und klopft dort, wo er streichen sollte. Es ärgert ihn, das dumme kleine Smartphone und er ärgert sich, weil er gegen so etwas kleines chancenlos ist. Als es klingelt erschrickt er und nickt entschuldigend den anderen Fahrgästen zu. In seiner Generation ist es noch nicht normal Telefonate inmitten von fremden Menschen anzunehmen. Ungelenk sucht sein Zeigefinger den grünen Punkt auf dem Display und wischt ihn konzentriert nach rechts. Ein Lächeln, weil es geklappt hat, was nicht, noch nicht, selbstverständlich ist. Am anderen Ende seine Frau, Haushälterin oder sonst wer. Er grüßt mit Hallo und nur leise hört man, dass er mir einer weiblichen Person spricht. Ja, er suche die Nummer des Arztes bereits, teilt er mit. Gleich würde er dort anrufen und sich nach dem Rezept erkundigen. Ja, kein Problem, die Nummer sei ja drin. In dem Ding. Irgendwo. Zwei weitere Stationen versucht er in die Kontakte seines Handys vorzudringen. Als er drin ist, kann er die kleine Schrift nicht lesen, scheitert am vergrößern und murmelt immer wieder, dass es doch bei „S“ sein müsse. Kurzerhand drückt er sein Telefon einem etwa zehnjährigen Jungen in die Hand. Dr. Schulz, bittet er das Kind, das sofort versteht und flink öffnet, scrollt, tippt und verwundert den Kopf schüttelt.

Nur kurz. Dann lacht es. Der Opa hat die Doktoren auch immer unter „D“. Da! Der Dr. Schulz. Anrufen? Ja, bitte, jetzt ist es eh schon egal und er ist alt und klug genug um vor einem grinsenden Zehnjährigen zugeben zu können, dass er tatsächlich keine Lust mehr hat es selbst zu versuchen. Nach dem Telefonat unterhalten sich die beiden ein wenig über die eben zu Ende gegangen Fußballweltmeisterschaft. In Ausnahmefällen verbindet ein Smartphone auch Fremde.

Ich bin ausgestiegen. Mit den Kontakten in meinem Handy habe ich keine Probleme. Trotzdem vermisse ich die Telefonbücher von früher. Der alte Herr in der U-Bahn hat mich an meinen Großvater erinnert. Als er noch lebte gab es keine Handys. Wenn er eine Nummer suchte, dann brachte meine Großmutter das schwere dicke Telefonbuch und legte es feierlich auf den Wohnzimmertisch. Konzentriert begann mein Großvater die dünnen Seiten zu durchblättern und ich weiß noch, dass ich ihn für unheimlich klug hielt, weil es doch ein Wunder war, dass er in einem so dicken Buch einen winzigen Namen finden konnte. Und was sich dort nicht alles entdecken ließ. Irsajs gab es außer uns keine. Ich habe es jedes Jahr, wenn die neuen Bücher geliefert wurden überprüft. Aber Müller und Meier, die gab es wie Sand am Meer. Ich zählte die Mitzis, die ich fand und suchte mit Hilfe eines Stadtplans deren Wohnorte. Auch alle Freunde und Verwandte suchte ich, als ich das Alphabet beherrschte und kontrollierte ob die Adresse im Telefonbuch mit der in meinem kleinen, roten Adressbuch überein stimmte. Warum? Ich weiß es nicht, aber ich liebte das Telefonbuch. Was konnte man damit nicht für Unsinn anstellen. Die lustigsten Namen wurden sofort angerufen. Dann zog sich vom Wohnzimmer bis in die Speisekammer das Kabel des Telefons und dort kauerten wir Kinder und machten Telefonstreiche. Wer da anrief, das sah man damals noch nicht. Besonders schön auch das Branchenbuch. Wir suchten immer die Miederwaren oder die Schornsteinfeger, weil die meist kleine Bildchen in der Anzeige gedruckt hatten.

Am Bahnsteig stehend habe ich große Sehnsucht nach einem Telefonbuch. Ich würde es mit nach Hause nehmen und mich den ganzen Abend damit beschäftigen. Vielleicht würde ich – ganz aus Versehen natürlich – auch Sie anrufen und kichernd wieder auflegen. Wahrscheinlicher aber, würde ich das Buch der Frau auf der Bank schenken. Sie hält ihr Handy in der Hand und tippt, wischt, klopft und fluchte. Ich glaube nicht, dass sie ihre E-Mails checkt. Vielmehr vermute ich, dass sie ihre Kontakte ähnlich kreativ wie ich abspeichert und sich nicht mehr zurecht findet. Wie schön wäre es, wenn es im eigenen Adressbuch feste Regeln gäbe, die man nicht brechen kann. Ich hörte es gibt eine Suchfunktion, die habe ich aber noch nicht gefunden.

34 Gedanken zu “U-Bahn-Gedanken Nummer gesucht

  1. Ja, das waren noch Zeiten, als es noch Telefonbücher gab, bei denen in den gelben Münzfernsprechern allerdings immer die Seite rausgerissen war, die ich suchte.
    Wie Du den älteren Herrn beschreibst, musste ich unweigerlich an meinen Papa denken. Ich hatte tagelang versucht ihn auf seinem neuen Handy anzurufen, immer nur Mailbox. Er sagte dann, wie ich ihn endlich erreicht hatte, auf dem Festnetz, dass er es aus hatte, es aber nicht angegangen ist, wenn jemand anruft… 😉 Mittlerweile geht auch schon What‘s App… 👌🏻

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    1. Gestern bin ich über einen anderen Blogbeitrag auf das Thema der Telefonbücher gekommen und dachte, es lohnt sich ein wenig an die Zeit der Telefonzellen und Telefonbücher zu denken. Bei Teil zwei, den Telefonzellen dachte ich als erstes auch an die rausgerissenen Seiten ;).
      Könnte auch mein Vater in der Anfangszeit gewesen sein. Mittlerweile schreiben auch wir uns via WhatsApp. Ich möchte es nicht missen.

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      1. Na ja, manche haben die gelben Dinger ja auch mit Dixi-Klos verwechselt. 🤮
        Und die ersten Schnurlostelefone gab’s dann auch schon, weil irgend ein Depp das Kabel durchgeschnitten hat oder sein neues Schnurlos gleich mitgenommen hat 😉
        Mein Papa hat mir kürzlich ein Foto (!) gesendet wie er beim Angeln war und so nen Kavenzmann von Forelle an Land gezogen hat… 🎣

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  2. Whow! Deine Telefon/-buch-Geschichte kommt prompt, liebe Mitzi. Schön ist auch der Brückenschlag zu den Tücken der Smartphone-Technologie. Es kämpfen damit aber nicht nur die älteren, die wie ich noch mit dem Dosentelefon aufgewachsen sind. Ein Freund, in deinem Alter, hat immer über die Smombies gewettert, schaffte sich als letzter in unserem Kreis ein Smartphone an und hat dann in seinem Blog darüber geschrieben, dass sein Smartphone ständig auf so leichte Berührungen wie mit dem Ohrläppchen reagiert und irgendwas Ungeplantes tut.
    Ich habe noch immer eine gewisse Scheu, in der Öffentlichkeit zu telefonieren, und wundere mich über jene, die das im Verkündigungston tun.

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    1. Es brauchte nur ein Stichwort, lieber Jules. Am Wochenende möchte ich Teil zwei schreiben. Gerade aber haben wir so unglaublich schönes Wetter, dass ich es nicht über mich bringe am Rechner zu sitzen ;).
      Die Scheu in der Öffentlichkeit zu telefonieren, teile ich mir dir. Ich finde es ist etwas, das gar nicht mal schlecht ist. Was interessiert den Rest mein Gespräch.

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      1. Das ist ja gerade das Erstaunliche: Dass so viele Leute heute (und nicht nur Junge) den Eindruck haben, dass sich alle für ihr Gespräch interessieren… wobei ich fürchte, dass das gar nicht der Punkt ist, sondern dass es ihnen einfach so was von egal ist, wie es den anderen dabei gehen könnte 😦

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      2. Ich glaube auch, dass es letzteres ist. Vielleicht auch gar nicht einmal Rücksichtslosigkeit sondern Unverständnis, was an einem Telefonat störend sein könnte.

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  3. Ich habe sogar noch Telefonbücher von wenigen besonderen Orten, in denen ich gewohnt habe und auch drinstehe. Dort stehen auch die Freunde aus der Zeit drin.

    Als Kind habe ich auch jeden darin gesucht, den ich kannte oder darüber nachgedacht, was sich wohl hinter manchem Namen verbarg.

    Und irgendwann wird es mir wohl so gehen wie dem von Dir beschriebenen alten Mann. Ich habe noch nicht herausgefunden, woran es liegt, aber je älter man wird, desto komplizierter erscheinen einem neue Geräte.🤔

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    1. Eine schöne Erinnerung.
      Ich bin sicher, wir alle sitzen irgendwann da und verzweifeln an der Technik. Es geht einem ja heute schon manchmal so. Die Cloud zum Beispiel….ich hab eine aber wehe es klappt nicht von alleine.

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  4. Mitzi, Telefonbücher und die Gelben Seiten werden doch immer noch gedruckt – nur die Telefonzellen mit diesen Büchern sind fast ausgestorben. Die Telefonbücher lagen vor kurzem bei Netto in der Vorhalle – nur sehr wenige Leute nahmen sich ein Buch – ich auch nicht, denn ich habe noch die Exemplare vom Vorjahr, in die ich noch nie geschaut habe.
    Was haben meine Kinder für Glück mit mir, dass sie mir die neue Technik weder einrichten noch erklären müssen – selbst ist die Frau!
    Lieben Gruß zu dir!

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    1. Hallo Clara. Ja, ich habe sie auch gesehen. Aber irgendwie ist es nicht mehr das selbe, oder? Man könnte das alles noch immer machen, aber wenn man andere Möglichkeiten hat, dann erscheint es einem fast albern. Mir taten die Stapel an Büchern, die niemand mehr will fast leid.
      Da haben deine Kinder wirklich Glück. Ich würde meiner Mutter gerne helfen, aber meist findet sie den „Fehler“ schneller als ich ;):

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  5. Neuerdings habe ich auch ein Smartphone. Es fällt mir schwerer, mich damit zurechtzufinden als mit jedem Computer. Neulich war ich mit einer App beschäftigt, als es plötzlich klingelte. Ich merkte es erst gar nicht, daß es tatsächlich meins war, tippte hektisch auf dem Display herum, um das Gespräch anzunehmen, und dann hörte das Klingeln plötzlich auf. Ich saß immer noch in der blöden App fest, ich rief laut ein paar Mal hallo, aber hörte nichts – ich fühlte mich vermutlich nicht anders, als der von Dir beobachtete Mann, alt und überfordert. Leider war kein Kind in der Nähe. Glücklicherweise versuchte es die Anruferin noch ein zweites Mal, und diesmal klappte das Wischen in die richtige Richtung. Blöd! Wieso gibt es nicht einen Annahmeknopf wie bei den früheren Handys? Und wo ist die Wählscheibe?;-)

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    1. Wahrscheinlich passieren diese Dinge sogar den Jungen, nur das die gar nicht darüber sprechen und es völlig normal ist ab und zu einen Anrufer ins Nirwana zu schießen ;).
      Schön finde ich die versehentlichen Anrufe über eine App wie zum Beispiel WhatsApp. Da merkt man nicht mal, dass man jemanden anruft. Die Dialoge bei einem Rückruf sind dann teilweise sehr amüsant. Nur zuhören darf einem dabei niemand.

      Und ich hätte auch gerne eine Wählscheibe zurück. Das Geräusch mochte ich.

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    2. Ich habe mich der Streichelfoniererei auch erst vor zwei Jahren gebeugt. Davor hatte ich gut zehn Jahre lang ein Siemens ME 45, das hatte noch Tasten und damit konnte man ohne Headset telefonieren und ich musste nicht online gehen, um zu sehen, was im Forum oder bei WhatsApp geschrieben wurde.

      Allerdings hat mein Gerät noch eine Annahmetaste (die ich erst über die Software als solche einrichten musste), ohne die käme ich nicht klar. Denn wenn es wirklich mal unerwartet klingeln sollte, dann bin ich so im Stress, dass ich garantiert in die falsche Richtung wische.

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      1. Du würdest dich sicher an die Wischerei gewöhnen. Ich selbst wäre wahrscheinlich an der Installation der Software gescheitert. Gott, ist das alles kompliziert geworden. Es sollte doch einfach sein.

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  6. Meine Eltern htten mal vor Jahren festgestellt, dass sie gar nicht im Telefonbuch stehen. Zum Glück gab es dort schon die ersten Mobiltelefone. Ich denke so einige Flirtversuche konnten damals mit „Mei Name ist Schulz, schau im Telefonbuch nach“ abgewiegelt werden 😀 Funktioniert heute eher weniger. Tatsächlich kenne ich noch zwei gelbe Telefonzellen nur glaube ich eher, dass die zur Planung von Verbrechen oder als Drogenumschlagplatz fungieren. Telefonieren wäre das Letzte was ich dort machen würde

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    1. Heute würde ich mich auch nicht mehr in die Zellen zwängen wollen. Und wenn dann nur aus nostalgischen Gründen.
      Dank sozialer Medien kann man sich heute kaum noch verstecken. Schafft man es, dann kann die erfolglose Suche auch dazu führen, dass einen andere für einen Freak oder einen Menschen mit Leichen im Keller halten.

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  7. Beim Telefonbuch denke ich immer an eine Szene in einem Konzert von Herman van Veen:
    Er geht an den Flügel, auf dem vorher Erik van der Wurff spielte (er war deutlich kleiner als H.v Veen). Der Klavierhocker scheint zu tief eingestellt zu sein. Herman muss etwas unter seinen Po packen. Da liegt im Klappdeckel des Hockers zufällig ein Telefonbuch. Herman legt es auf den Hocker, setzt sich drauf und spürt, dass es nicht passt. Er steht auf, öffnet das Telefonbuch, reißt eine (megadünne) Seite heraus und siehe da, es passt, er kann spielen… 🙂
    Danke für den Anstubser an feine Erinnerungen.

    Liebe Grüße,
    Syntaxia

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  8. Das gute alte Telefonbuch. Unseres, das für den Bezirk Neunkirchen, war so dünn, dass ich es zerreißen konnte, nachdem ich sah, wie ein Fettwanst im Fernsehen sämtliche Telefonbücher von Wien mühelos auseinander riss. Die darauf folgende Standpauke meiner Eltern möchte ich hier nicht wiedergeben … 😉

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