Sommerräume

Mein Balkon und mein Laubengang sind mir heilig. Ich habe sie so gern wie meine Wohnung und betrachte sie von Frühling bis Herbst als zwei weitere, besonders schöne Räume. Öffentliche Räume, denn egal ob man will oder nicht, als Geheimnisträger eignen sich die Sommerräume nicht. Von allen Balkonen im Haus ist meiner der Wilde. Man sieht es von unten wenn man den Kopf in den Nacken legt und die Hausfront hinauf blickt. Bei mir ist nichts ordentlich, aber alles üppig. Schlampig nennt ihn Frau Obst, die den Kopf nicht in den Nacken legt, sondern sich täglich einmal gefährlich weit über die Brüstung lehnt um zu kontrollieren ob es vielleicht ordentlicher geworden ist.

Ganz anders ist es bei Herrn Meier. Da ist gar nichts. Der einzige Schmuck ist ein angerostetes Windspiel, von dem ich vermute dass es nur auf dem Balkon hat um die anderen Nachbarn beim leisesten wild Windhauch zur Verzweiflung zu treiben. Auf Herrn Meiers Balkon steht ein einzelner Stuhl. Das weiß ich weil ich mich schon öfter über das Geländer gebeugt habe um zu versuchen ob ich nicht doch das Windspiel mit dem Besenstiel herunter schlagen kann. Es geht nicht. Dafür weiß ich aber jetzt, dass ein Besen schwerer als gedacht ist, wenn man ihn in der Hand am ausgestreckten Arm hält und das Geschrei groß ist, wenn man ihn fallen lässt und Autobesitzer hier schnell mit einer Anzeige drohen. Weil ich das Windspiel etwas beschädigt habe und es sehr traurig finde, dass Herr Meier einen so hässlichen Balkon hat, habe ich ihm vor einigen Wochen einen Kasten mit Kräutern vor die Tür gestellt und mich mit einer Karte entschuldigt. Herr Meier scheint Kräuter (und aktuell auch mich) nicht zu mögen. Er hat den Kasten  bei den Fahrradständern vor dem Haus abgestellt und die Nachbarschaft hat sich bis letzte Woche gern bedient. Jetzt nicht mehr. Dafür wissen wir warum sie trotz Schatten so üppig wucherten. Am schwarzen Brett hing ein Zettel der uns darauf hinwies, dass die Hunde den Kasten gerne düngen. Bei Herrn Meier steht unter dem Windspiel weiter nur ein einsamer Stuhl, denn mein Nachbar nur nutzt, wenn er sich mit seinen Bekannten in der Kneipe im Erdgeschoss gestritten hat. Dann schmollt er und sitzt auf dem Stuhl, damit er keine Gespräche in die Kneipe verpasst und notfalls eingreifen kann. Das tut er gerne. Plötzlich steht er dann auf, vergisst dass er eigentlich gerade schmollt und beteiligt sich an den Kneipengesprächen über die Balkonbrüstung gelehnt. Alle anderen Nachbarn auch, weil Meier und die Kneipenbesucher dann nicht reden sondern schreien müssen, damit sie sich auch verstehen. An solchen Abend bleibt Meier auf seinem Balkon.

Nicht nur er, auch wir anderen, verlassen unsere Balkone im Sommer nur ungern und verlegen die Treppenhauskommunikation nach draußen. Neuigkeiten werden rufend, schreiend und wild gestikulierend ausgetauscht. Obwohl meine Nachbarin Judith und ich uns einen Laubengang teilen, unterhalten wir uns manchmal auch über die vorderen Balkone hinweg und überbrücken ca. 10 Meter Luftlinie weil es bei über 30 Grad unzumutbar ist, die Liege zu verlassen. Weil wir so schreien müssen, werden unsere Gespräche dann auch gerne kommentiert. Obwohl ich meine Nachbarin aus dem vierten Stock kaum kenne, war sie es, die mir an einem Samstagvormittag ungefragt ein paar Beilagen für das abendliche Grillen vorschlug und sich von Judith und mir seit Wochen Tipps für ihre etwas komplizierte Beziehung holt. Dass diese gut sind, hat uns eine Nachbarin aus dem Dachgeschoss bestätigt. Gesehen haben wir sie nicht, aber gehört, als sie: „Genau! Lass den Idioten zappeln.“, rief.
Frau Obst dagegen braucht keinen Gesprächspartner. Seit weniger Menschen im Treppenhaus herumstehen, maßregelt sie von ihrem Balkon aus die Falschparker und beschimpft die Kneipengäste als trinkendes Gesindel. Diese revanchieren sich mit Trinksprüchen und lassen Frau Obst hochleben. Nur nennen sie meine Nachbarin dann nicht Frau Obst sondern anders. Der Russe neben Frau Obst versucht sich dann von der zu erklären lassen, was diese derben bayerischen Begriffe bedeuten. Frau Obst antwortet ihm aber nicht sondern regt sich lieber über den Vogeldreck auf, der vermehrt auf ihrem Balkon zu finden ist.

Das liegt an mir. Ich hatte gehofft, dass meine Nachbarin durch das lustige Trippeln von Vogelfüßen auf dem Blech der Balkonumrandung etwas bessere Laune bekommt und dachte, dass sie beim Beobachten von Spatzen, Amseln und Meisen vielleicht ein wenig innere Ruhe finden würde. Wenn sie zum Einkaufen ging, warf ich über Wochen eine Handvoll Vogelfutter zu ihr hinüber. Nicht viel. Gerade genug damit sich ein paar Körner in den Ritzen der Holzfliesen sammelten. Leider wurde ich dabei von einem Duzend Tauben beobachtet und die betrachten den Balkon von Frau Obst nun als ihr Revier.

Wenn die Tauben bei Frau Obst zu viel Krach machen, dann setzte ich mich nach hinten in den Laubengang. Richtung Hof wird weniger kommuniziert. Die Wohnungen im Hinterhaus sind kleiner und die Fluktuation zu groß als dass sich Balkonfreundschaften bilden würden. Dort drückt man sich durch laute Musik aus. Im Sommer besonders schön, weil alle Türen und Fenster offen sind und sich die verschiedenen Stilrichtungen mischen. Angetrunken klingt es nett. Nüchtern ist es an manchen Abenden nur schwer zu ertragen. Und weil ich nicht jeden Abend trinken kann, habe ich mir einen Verbündeten gesucht um für etwas mehr Ruhe zu sorgen. Der Sohn meiner Nachbarin ist mit seinen fünf Jahren noch zu jung um sich an der Beschallung des Hofes zu beteiligen und findet Musik eh blöd. Er kommuniziert am liebsten nonverbal und testet wie weit er mit seiner Wasserpistole spritzen kann. Bis zu Paul, dessen einsame Sonnenblume ein wenig Wasser nötig hätte, schafft er es leider nicht. Auf die Eckbalkone aber locker. Sogar in die Wohnungen, die zu den Balkonen gehören. Die Sofakissen der Studenten WG erwischt er bei geöffneter Balkontür problemlos. Ich hab ihn gezeigt, dass meine Salbeibüsche eine klasse Deckung abgeben und ihn gebeten sich auf die Lauer zu legen. Die blonde Germatistikstudentin und den Arzt im Assistenzjahr habe ich zum Abschuss freigegeben. Wenn die am Sonntagnachmittag die Türen und Fenster öffnen und gleichzeitig die Musik aufdrehen, dann soll er zuschlagen. Noch einen Sommer mit Helene Fischer und Andreas Gabalier im Duett überstehe ich nicht.

Sie sehen, ich engagiere mich sehr, wenn es um unsere Sommerräume geht.

17 Gedanken zu “Sommerräume

  1. Deine farbige Schilderung der Vorgänge in den „Sommerräumen“ deines Wohnhauses lässt mich nach der Architektur des Hauses fragen, liebe Mitzi. Wo ist der Balkon, wo der Laubengang? Entschuldige bitte meine Neugier, aber das Haus ist ja quasi die Bühne, auf dem du deine gar nicht alltäglichen Alltagsszenen aufführst.

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    1. Unser Haus ist ein L, lieber Jules. Der kleine Schenkel das Vorderhaus nach Südosten zur Straße geht mein Balkon. Der Laubengang befindet sich gegenüber nach Westen gelegen. Von ihm aus sehe ich mit dem Rücken zu meinem Küchenfenster stehend in den Innenhof, den rechts das Hinterhaus begrenzt. Links ebenfalls, aber dieses Hinterhaus gehört schon zu einem anderen Eingang.
      Kannst du es dir vorstellen?

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    1. Lange nicht mehr gehört. Der Text ist um einiges schwerer als der meine. Die andere Seite der Stadt, die dunklere wenn man so will.
      Immer noch eine Perle, der Ringsgwandl. Herzlichen Dank!

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