Alte Bissgurkn* U-Bahn Gedanken

Schon seit dem Harras höre ich die ältere Dame leise jammern. Worte braucht sie dazu nicht. Jeder einzelne ihrer Atemzüge ist von tiefem Schmerz erfüllt. Beim Einatmen ein schwaches Stöhnen, beim Ausatmen ein leises Seufzen. Dazu ein mildes aber herablassendes Lächeln und wenn ein fremder Blick zufällig den ihren kreuzt, dann schließt sie matt die Augen. Sekundenbruchteile später öffnet sie die selben wieder und schütteln kaum merkbar den Kopf. Ein solches Kopfschütteln signalisiert, dass es schon geht. Schwer, aber es geht schon. Man leidet halt arg. Die Leut im Bus nehmen sie nicht ernst genug. Sie merkt es, weil sich seit zwei Stationen nicht einer erkundigt hat, woran es den fehlen würde. So gerne hätte sie ihre Leidensgeschichte erzählt. Man sieht es an ihrem Gesicht. Aber heutzutage hört ja keiner mehr dem anderen zu und längst sind Egoismus und Desinteresse die Geiseln der Stadtbevölkerung geworden. Das ignorante Volk merkt es nicht einmal und erdreistet sich, trotz ihrer beständigen, schmerzvollen Atemzüge, auch noch zu lächeln und sich auf das lange Osterwochenende zu freuen. Ein letztes Mal atmet sie aus und macht sich dann auf anderem Weg bemerkbar.

Mit dem Ellbogen stößt sie ein junges Mädchen an, das neben ihr am Fenster sitzt und schüttelt schnaubend den Kopf. Dass so junge Menschen in einem vollen Bus sitzen müssen und sie sich durch das Gedränge auch noch bis ans Fenster schieben, das versteht sie nicht. Fragt das Mädchen nach dem warum und erklärt nicht ihm, sondern den anderen Fahrgästen, dass sie einmal an der Schulter operiert wurde und seit dem auf die Rücksicht anderer angewiesen sei. Gerade in eine so vollen Bus, wo man zwischen dem Feierabendgedrängel und dem Ruckeln und Zuckeln im Stau nur schwer einen sicheren Stand hat. Rücksicht, gelt? Ermahnt sie das Mädchen und weil das wohl nicht versteht, welchen Fehler es gemacht hat, erklärt sie es allen anderen. Am Rand zu sitzen ist nicht gut für sie. Da ist die Schulter möglichen Knüffen ausgesetzt und am Ende fällt ihr noch einer bei einer waghalsigen Bremsung des Busses auf den Schoß. Nicht gut, wiederholt sie. Der Platz am Fenster hätte ihr zugestanden. Mit etwas Rücksicht hätte man das gemerkt.

Das Mädchen neben ihr schaut recht erleichtert, als es aussteigen muss. Das darf es, aber erst nach mehreren Hinweisen, dass es auf seine Rucksack achten soll und doch bitte früh signalisieren möchte, wenn es aussteigen will, nachdem es schon sitzen musste, als so junger Mensch. Das Kind ist irritiert. Passte es doch auf seinen Rucksack auf, stieß niemanden an und kletterte leichtfüßig an den Fleischbergen der Stöhnenden vorbei ohne sie zu berühren. Aber so ist das mit der Jugend, die nehmen halt keine Rücksicht, fährt diese fort. Den Wunsch „Frohe Ostern“, den das Mädchen noch murmelt, erwidert sie nicht. Ja, zu ihrer Zeit, da waren die Kinder noch dankbar und freuten sich über ein liebes Wort. Aber heut, da geht es ja nur um Geschenke. Auch an Ostern und da merkt man besonders, wie materiell die Kinder heutzutage sind. Mit bemalten Eiern darf man denen nicht kommen.

Aber doch nicht allen.  Ich meinte meine schwache Verteidigung der Kinder von heute gedacht zu haben, sprach es aber wohl laut aus, den jetzt schaut sie mich an und lächelt giftig. Weiter geht es jetzt mit den Studenten. Kurz wird sie mir sympathisch, weil sie mich für einen hielt, aber nicht lange. Denn Studenten sind nicht besser als Kinder. Heute. Früher war es anders. Da leistete man etwas. Heute hockt man bis 35 im Hörsaal und legt sich dann auf die faule Haut. Ein verbaler Rundumschlag gegen alle und jeden. Auch die, die auf der anderen Busseite auf gleicher Höhe sitzt steigt mit ein. Schlimm, sei das heutzutage, sehr sehr schlimm. Und ab diesem Moment gebe ich ihnen Recht und wünsche mir, was nicht oft vorkommt, älter zu sein. Viel älter. Mindestens vierzig Jahre älter, denn dann könnte ich mich an ihnen vorbei quetschen und einen der drei Plätze einfordern, die sie neben dem, auf dem sie sitzen, dank ihrer Einkaufstrollys versperren. Dann könnte ich ihnen sagen, dass es wirklich toll ist so alt zu sein, dass man zu zweit ganze acht Plätze in Beschlag nehmen kann. Einen für sich, einen für die Tasche und zwei an die niemand mehr kommt, weil der Trolly davor steht. Und das man schimpfen kann, wie man möchte, weil die jüngeren eben doch Respekt haben und allenfalls die Augen rollen, sie aber sicher nicht zurecht weisen werden.

Giftige Weibsbilder sind das. Nicht weil sie alt sind, sondern weil sie ihre Kinderstube irgendwann vergessen haben. Und ab meinem achzigsten Geburtstag, werde ich loslegen. Dann werd ich auch schimpfen. Aber über die Alten. Wenn ich dazu gehöre, darf ich. Vorher nicht.

 

*Übrigens, der Förderverein Bairische Sprache und Dialekte e.V. schreibt zur Bissgurkn:
„Bissgurkn oder Bißgurrn? Wer jetzt auf ein schnittfestes Gartengemüse tippt, liegt daneben. Richtig ist Bißgurrn, denn der Begriff leitet sich von Gurre ab, einer kaum mehr gebräuchlichen Bezeichnung für eine alte Stute, und meint wenig schmeichelhaft eine alte zänkische Frau.“

 

36 Gedanken zu “Alte Bissgurkn* U-Bahn Gedanken

  1. Liebe Mitzi!

    Ach, handelt es sich also doch um bissige alte Weiber. In einem Bus mit zänkischem Gartengemüse zu sitzen wäre wohl auch etwas ungewöhnlich. Wenngleich sehr interessant. Da geht es bestimmt oft ans Eingemachte 🙂

    Herzliche Grüße und gute Erholung von den Alten
    Mallybeau (alte Kuh) 🙂

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  2. Also meine Sprachkenntnisse des bayrischen werden immer umfangreicher. Die Schimpfwörter umfassen ca. ….🧐 80% meines Wortschatzes. Dank Bayern 3 für die allerallerschlimmsten (Mistpritschn, Zipfelklatscher) und dank Dir für ein paar gemässigtere. Keine Sorge, die stetige Anwendung ist mir eine Herzensangelegenheit 😂❤️
    Liebe Grüße von der Saupreissn
    …und solche alten Schachteln wie diese Bissgurke gibts überall 😆

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    1. Ha 🙂 So ging es mir anfangs mit Italienisch auch. Aber wie im bayerischen…bisserl gemäßigt ist wahrscheinlich besser (außer du brüllst aus dem Auto heraus und kannst schnell abhauen).
      Liebe Grüße an….na, Saupreiß des song ma ned. Mia meng eich ja.

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  3. Lieber Gott, lass mich 80 werden und meinetwegen, wenn du partout willst, auch noch 85, aber lass mich bitte nie zu einer „Geisel“ der anderen Busmitfahrer werden, denen ich mein schweres Schicksal ins Gesicht schleudern will, weil mich zu Hause keiner hört, weil da niemand ist.
    Dann möchte ich doch lieber gleich mit den kleinen Engelein auf Wolke 7 spielen und schwatzen.
    Ich hoffe, du verstehst kein Bayrisch und lässt mich nicht zu einer so komischen Alten oder Bissgurrn werden. Frau hat ja auch so ihre Vorstellungen vom Leben.

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    1. Liebe Clara, du musst dir keine Sorgen machen. Durch einen Blog lernt man einen anderen Menschen ganz gut kennen. Von einer alten, zwidernen Gurkn bist du weit entfernt.
      Und falls sich erste Anzeichen zeigen…ich sags dir und bitte um den gleichen Blogfreundschaftsdienst 😉

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  4. Und ich fragte mich schon, wann wohl die im Titel genannte Gurke zum Einsatz kommt, und hatte Sorge, daß sie einer der Beteiligten auf den Kopf gehauen wird – ich hätte das verstanden (und in diesem Fall auch klammheimlich befürwortet).

    Altersweisheit ist ein Mythos.

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    1. Nein! Ich bin ja noch nicht in dem Alter in dem ich mit Gemüse um mich schlagen darf ;).
      Och, ich glaube die gibt es schon. Aber halt auch nicht für jeden. Genauso wenig wie die Altersmilde.

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  5. Ich bin der Spezies tatsächlich noch nicht so häufig begegnet. Zumindest haben sie sich nie wirklich laut geäußert. Man fängt sich bloß hier und da höchstens den ein oder anderen missbilligenden Blick ein. Aber als Teenager wird man selbst von Menschen schief angeguckt, die vielleicht gerade mal 15 Jahre älter als man selbst ist.

    Ich denke mir dann, solchen Menschen fehlt es eindeutig an Lebensfreude. Die sind in ihrem Leben irgendwo falsch abgebogen und zerfleischen sich deshalb jetzt selbst…

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    1. Ich denk auch, dass es meist an der eigenen Unzufriedenheit liegt.
      Sei froh, dass du ihnen noch nicht allzu oft begegnet bist. Und noch froher, wenn du missbilligende Blicke ignorieren kannst, denn das sollte man. Immer. Außer von ganz guten Freunden.

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  6. erstmal vielen dank für die fußnote, ich hätte nämlich angemerkt, dass ich den ausdruck als „Bißgurrn“ kenne und danke auch für die erleuchtung, woher dieser kommt, denn das frage ich mich schon immer 🙂
    von dieser fraktion gibt es in wien auch eine menge, eine davon ist unsere hausbesorgerin. ihr lieblingsschimpfobjekt sind allerdings „die ausländer“ (sie selbst ist polin), die an allem schuld sind (besonders die, die bei uns im 1. stock wohnen). nachdem ich schon mehrmals etwas hilflos ausgeliefert war versuche ich jetzt, begegnungen eher zu umgehen.

    immer wenn ich so etwas höre, merke ich, dass in mir auch so ein alter grantler angelegt ist und geh mir damit selbst auf die nerven. und dann hoffe ich und wünsche ich mir, dass wenn ich älter werde, vielleicht ein paar gene von meinem opa durchkommen. er ist 88 und der gelassenste mensch, den ich kenne.

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    1. Ist das nicht klasse? Eine Polin schimpft über Ausländer. Fast so bizarr wie Deutsche die sich im Urlaub über andere Urlauber aufregen. Ich verstehe, dass du ihr lieber au dem Weg gehst. Manchmal ist das besser als sich auseinander zu setzen. Vor allem wenn es eh nichts hilft.
      Den Grantler in mir kenne ich auch. Ich hoffe er kommt nicht allzu oft hervor. Gelassenheit – das ist ein schöner Wunsch für das Alter.

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      1. das ist leider wahr. man sieht oft schnell, bei welchen menschen eine auseinandersetzung (vielleicht) was bringt und bei welchen wirklich hopfen und malz verloren ist – und da ist die energie dann einfach verlorene liebesmüh‘ (floskelmontag?)

        bei mir ist es so, dass ich den grantler sehr aktiv im zaum halten muss. das funktioniert – mal besser, mal schlechter.

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      2. Bei mir auch 😉 Mal gut, mal nur bedingt akzeptabel.
        Floskelmontag ist ok. Was will man bei diesen Exemplaren auch mehr sagen. Ignorieren wir sie so gut wie möglich.

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  7. Servus Mitzi!

    Hoob oane g’raacht und dei G’schicht aufg’lesn.
    Schee wars..:-)
    Für deppade Mannsbuidl gibts a wos Gscheads auf boarisch:
    „Du rotlaufg’sackada, groodrokampata!“
    Des kannst ruhig amoi blärrn, ween da a Hodalump
    bleed kimmt, weil des äha koina mea vastähd..;-)

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  8. „Bissgurrn w. „zänkisches böses Weib“. Das Grundwort Gurre ist schon in mittelhochdeutscher Zeit belegt: gurre, gorre „schlechte Stute“.“
    Aus: Wou die Hasen Hoosn und die Hosen Huusn haaßn. Ein Nürnberger Wörterbuch von Herbert Maas, Verlag Nürnberger Presse 1987 (1962)
    Danke, Mitzi, für die Geschichte und Erläuterung. Auch hierzulande – und zugegeben in meinem Sprachgebrauch – hat sich das Lautbild verschoben in Richtung „Bissgurgng“.
    Schöne Wochenendtage und Grüße, Bernd

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    1. Hallo Bernd, danke auch dir für die weiteren Hinweise. Da ich selbst nicht wusste woher das Wort stammt, habe ich mich auf die Suche gemacht. Meistens ist es ja so, dass Worte ursprünglich etwas anderes bedeuteten und – wie du sagst – sich durch Lautbildverschiebungen neue und teilweise komische Begriffe ergeben.
      Dir einen schönen Sonntag

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  9. Servus Mitzi, so eine „Umwandlung“, wie hier von „Bissgurrn“ zur „Bissgurkn“ (…manchmal auch „Bissgurgl“) nennt man übrigens volksetymologisch. Da der Begriff „Gurre/Gurrn“ für eine alte nicht mehr brauchbare, oftmals auch bissige Stute (auch „Mähre“) nicht mehr bekannt bzw. geläufig war und ist, wurde die ähnlich klingende „Bissgurkn“ daraus, allerdings ohne jedweden logischen Inhalt – auch keiner Gurke 😉 Ja mei – so is hoid.
    Habdedehre, da Kare
    PS: …schee, håd mi gfreit, dass du dabei den FBSD (Förderverein Bairische Sprache und Dialekte e.V.) erwähnt håst, bei dem i seit 21 Johr Mitglied bin… und du? No ned? Woos … aba boid – oda?

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    1. Grias di, Kare. So is hoid, du sogst as…aber auf jeden Fall interessant. Vielen lieben Dank.
      Bayrisch reden ist das eine, beim Schreiben scheitere ich. Den FBSD schau ich mir an. Und hier bei mir findet die Förderung des Dialektes eh weiter statt.

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      1. Guad Moing Mitzi, dank dir recht sakkrisch fia dei Antwort und dass du dia den FBSD amoi genauer oschaust. Ganz klar, vadienst du a riesngross Lob fia dei Sprachpflege des Bairischn, bärig & pfundig – weida so! No im Aprui kimmt unser nächster Rundbriaf Nr.94 (=Vereinszeitschrift) raus, den dààd i dir gern zuaschicka (… nimm o, dass de Adrees im Impressum, de deinige is). Notabene: wenn es um die, „unsere“ Sprache geht, dann schreibt man es mit „ai“, also Bairisch bzw. bairische Sprache. Gern hätt i dia dåzua wås in d’Anlag glegt, de gibts aba do (leid) ned. Wia kannt i dia dees zuakemma lassn?
        Scheene Woch & bleib fei xsund, da Kare

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