Peinlich oder irgendwie charmant

Ob das nun peinlich oder irgendwie charmant ist, fragt mich meine Nachbarin Judith und hält mir die andere Hälfte ihrer Honigsemmel hin. Ich nehme sie gerne, weil ich vergessen habe Brot einzukaufen und überlege kauend. Irgendwie charmant passt. Mit Betonung auf irgendwie. Wir lehnen uns mit den Unterarmen auf die Brüstung unseres Laubenganges und beobachten wie Paul, der Nachbar aus dem Hinterhaus, sich auf die Zehenspitzen stellt, um an die wenigen noch nicht verblühten Äste des Fliederbusches zu gelangen.

Muttertag, murmelt Judith und zieht den Morgenmantel enger vor der Brust zusammen und ich nicke. Wegen des Muttertags hängt Paul im Fliederbusch und wegen eben diesem steht Judith hier draußen. Ihre Kinder richten das Frühstück und wollen die Mama überraschen. Dass das klappt indem man sie einfach aus der Wohnung bugsiert, davon sind sie mit vier und sechs Jahren noch überzeugt. Zum Glück hat sie sich ein wenig Proviant mitgenommen. In ihrer Wohnung scheppert und rumort es schon seit gut einer halben Stunde. Ernsthaft? Judith zieht die Stirn in Falten als Paul sich anschickt den Haselnussstrauch nach oben zu klettern, um sich eine bessere Ausbeute an Flieder zu sichern. Synchron legen wir den Kopf schief um den Vierzigjährigen Mann in den Büschen zu beobachten. Ich pfeife auf den Fingern, was ich letztes Jahr endlich gelernt habe und tippe mir, als Paul nach oben schaut mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Lautlos forme ich mit den Lippen das Wort „Tankstelle“ und gehe dann in Deckung. Mir fällt ein, dass ich keinen Morgenmantel anhabe und mein Snoopy Nachthemd ebenfalls die Frage peinlich oder irgendwie charmant, aufwerfen könnte.

Judith und ich gehen zu mir. Mein Kaffee ist fertig und aus Erfahrung wissen wir, dass ein Muttertagsfrühstück, zubereitet von noch nicht eingeschulten Kindern, auch nur dann charmant und süß ist, wenn man schon etwas im Magen und den Kaffee schon in der Hand hat.

Draußen hören wir Frau Obst. Ob er noch ganz sauber ist, möchte diese von Paul wissen und wartet keinen Antwort ab bevor sie ihn fauchend und schimpfend auffordert sofort die Finger vom Eigentum der Hausgemeinschaft zu lassen. So wie wir Paul einschätzen, wird er ihr später einen Zweig Flieder vorbei bringen und sie wird ihn zum Dank noch einmal kräftig zusammen stauchen. Heute darf unsere Nachbarin Frau Obst das. Herr Meier hat erzählt, dass sie drei Kinder hat, die alle in München wohnen. Wir haben noch nicht einmal eines davon im Haus gesehen. Das ist weder peinlich, noch irgendwie charmant. Das ist einfach nur traurig.

21 Gedanken zu “Peinlich oder irgendwie charmant

  1. Liebe Mitzi!

    Ein Snoopy-Nachthemd kann gar nicht peinlich sein, schon gar nicht wenn Sie es tragen. Versüßt wird dieser Anblick noch durch die leckere Honigsemmel Ihrer Nachbarin. Ich bin mir sicher, dass sie Zwei einen ganz charmanten Anblick an der Brüstung abgeben. Vielleicht tröstet das Frau Obst über die Nichtanwesenheit ihrer Kinder ein wenig hinweg.

    Herzliche Grüße und einen gemütlichen Sonntag 🙂
    Mallybeau

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  2. Mitzi, eine Frage von Pfeiffrau zu Pfeifenfrau: Auf zwei Fingern (Daumen und Zeige- oder Mittelfinger oder mit 4 Fingern von zwei Händen? Jeweils die Zeige- und Mittelfinger!
    Dass du das erst so spät gelernt hast – ich habe es durch langes Nichtgebrauchen fast wieder verlern.
    Lieben Gruß pfeife ich dir jetzt hinterher!

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      1. Ich habe mir beim Pfeifen auch noch nie die beiden Finger an der linken Hand nass gemacht. – Je schlechter der Zahnbefund wurde, desto seltener pfiff und pfoff ich – ich muss mal probieren, ob ich es noch kann.
        Aber nicht auf der Straße, sonst denkt noch ein Mann, ich pfeife ihm hinterher 🙂

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  3. Paul setzt für seine Mutter sein Leben auf’s Spiel, und ihr lacht! Gut, habe ich auch bei der Vorstellung, wie er sich da im Haselnußstrauch verfängt.

    Auf jeden Fall wäre es uncharmant, jemanden wegen eines Snoopy-Nachthemds peinlich zu finden – und auch blöd. Ich hätte mich unbedingt in jedes Mädchen verliebt, daß irgendein Kleidungsstück mit Snoopy trägt – als ich acht Jahre alt war. Leider gab es das damals noch nicht. Inzwischen weiß ich, was ich damals schon ahnte: Wer Snoopy mag, kann kein schlechter Mensch sein. Snoopy hat Stil: Er hält „Citizen Cane“ für den besten Filme des Jahrhunderts, ißt mit seiner (treulosen) Verlobten Bœuf bourguignon und kompensiert Schicksalschläge auf die beste Art: Mit kulinarischen Genüssen:

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    1. Wir haben nur geschmunzelt. Und wir hätten ihn wiederbelebt – versprochen! 😉
      Ob Snoopy auf dem Nachthemd bescheuert oder infantil ist, lass ich dahin gestellt. Aber jemand der Snoopy nicht mag….das ist wirklich eine seltsame Person.

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  4. Liebe Mitzi,
    bitte sagen Sie Paul, dass er ab nächstes Jahr sehr vorsichtig sein muss! Mit 41 würde er wie ein Stein runterfallen. Nur bis 40 kann man im Traum fliegen. Normalerweise. Nur mit extremer Willenskraft geht es auch später noch. Wie mein Ratschlag nun zu realem Flieder, Muttertag und Frau Obst passt, weiß ich selbst nicht. Wollte aber nicht versäumt haben, es anzumerken. 😉
    Gruß Heinrich

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  5. Ich staune immer wieder über die vertraute Kommunikation in eurer Hausgemeinschaft, was du so lebendig zu schildern weißt, liebe Mitzi. Undenkbar in dem anonymen Mietshaus, in dem ich lebe.
    Nebenbei: Ob Blumen von der Tnkstelle die bessere Wahl sind als selbstgepflückter Flieder, will ich mal leise anzweifeln.

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    1. Deine Zweifel teile ich, lieber Jules. ;).
      Um ehrlich zu sein, habe ich mir auch mehr Sorgen um den Fliederbusch als um Pauls Muttertagsgeschenk gemacht.
      Unsere Vertrautheit ist herrlich und in manchen Fällen anstrengend. Insgesamt aber, genieße ich es sehr.

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