Freinacht

Heute Nacht dürfen wir die Briefkästen nicht in die Luft jagen, sage ich zu meinem Nachbarn Paul, als wir beide im Treppenhaus auf den Lift warten. Schade, sagt er und fragt mich ob das endgültig sei. Ich nicke und deutet auf das weiße Brett gegenüber der Briefkästen, deren Sprengung uns heute Nacht verboten wurde – dort hat unser Hausmeister eine Liste angebracht welche detailliert aufzählt, was heute Nacht alles verboten ist.

In der heutigen Freinacht ist Ihnen folgendes nicht erlaubt, liest Paul vor und ich stelle mich neben ihn weil es nie schaden kann, zu wissen was man darf und was nicht.  

  • Das Beschmieren von Autos mit Mehl, Rasierschaum oder Ketchup.
    Mach ich eh nicht. Wenn ich etwas zu sagen habe, verwende ich Lippenstift.

  • Das Werfen von rohen Eiern an Hauswände oder Autos.
    Das Eierwerfen nun auch schon verboten ist, wundert mich.

  • Das Ausleeren von Mülltonnen oder Altglas-Containern.
    Hier sehe ich Paul schmunzeln und frage nicht weiter nach.

  • Das Einwerfen von Fenstern.
    Ich bezweifle, dass dieses Verbot nur für die Freinacht gilt.

  • Das Anbringen von Fallen (Schnüre, Wäscheleinen oder Drähte, die auf Kopfhöhe über eine Straße oder einen Weg gespannt werden). Sie könnten hier versehentlich jemanden töten!!!!
    Paul und ich sehen uns nach diesem Punkt eine Weile schweigend an und denken das Gleiche. Unser Hausmeister kommt aus der Ukraine und dort scheint die Freinacht um einiges Härter als in Bayern zu sein.

  • Das Sprengen von Briefkästen oder das Anzünden von Mülltonnen.
    Hätten wir eh nicht gemacht. Erstens sind Paul und ich zu alt für die Freinacht und zweitens macht das auch sonst keiner, weil beides noch gebraucht wird.

Wie gut, dass wir an die bevorstehende Freinacht erinnert wurden. Paul und ich gehen noch einmal nach draußen. Er um sein Auto in die Garage zu fahren und ich um mein Rad heute lieber in den Keller zu bringen. Mit der Nacht auf den ersten Mai ist in Bayern nicht zu spaßen. Woher der Brauch der Freinacht kommt, weiß man nicht ganz genau. Die einen meinen, dass sie dem Beginn des Sommerhalbjahres geschuldet ist. Am Übergang von Winter auf den Sommer wurden die bösen Geister und Hexen mit viel Lärm und Feier vertrieben. Auf unser Haus trifft das aber nicht zu. Das Feuer hat man uns verboten und die Hexen in unserem Haus haben schon so viele Freinächte überlebt, dass man davon ausgehen kann, dass ihnen Lärm und Unfug nichts ausmacht. Wahrscheinlicher ist es, das die bayerische Freinacht auf den Umstand zurück zu führen ist, dass der 1. Mai über Jahrhunderte hinweg der Tag der Musterung war. Die jungen Männer haben schon im Mittelalter das getan, wovor sich unser Hausmeister noch heute fürchtet: Sie haben es so richtig krachen lassen. Unter reichlich Alkoholeinfluss trieben sie allerhand Unfug und über die Jahrzehnte hinweg entwickelte sich daraus ein Brauch – die Freinacht. In der darf man einen Maibaum stehlen (stehlen bedeutet einen noch nicht aufgestellten Maibaum zu entwenden…nicht umsägen!) und auch sonst allerhand anstellen solange man sich an bestimmte Regeln hält.
Noch heute ist es erlaubt aus offenen Eingängen, Gärten und Höfen Gegenstände mitzunehmen und an anderen Orten abzustellen. Das „Verziehen“ der Sachen ist in Ordnung, so lang sie der Besitzer wieder findet und sie nicht beschädigt werden. Auch das Dekorieren mit Klopapier oder Einwickeln mit Zeitungen ist bei Rädern und Autos erlaubt. Es darf halt nichts kaputt gehen und wer so blöd ist, sein Sach draußen stehen zu lassen, der ist selbst schuld. So dumm sind wir im Vorderhaus aber nicht. Der Fahrradkeller platzt aus allen Nähten und die Garage ist bis auf den letzten Stellplatz besetzt. Blumenkübel und Kräutertöpfe sind aus den Laubengängen und dem Treppenhaus verschwunden und wir uns sicher, dass die Freinacht diesmal unbemerkt an uns vorbei ziehen wird. Ein frommer Wunsch, angesichts der vielen Studenten im Hinterhaus.

Am nächsten Morgen sehe ich die Auswirkungen der Nacht, als ich den Müll runter bringe. Runter bringen will. Die Verbote des Hausmeisters am weißen Brett lieferten die Idee zu einem besonders schönen Freinachts-Streich. Das Altglas aus den Tonnen wurde entnommen und auf den Boden gestellt. Dich an dicht stehen jetzt leere Weinflaschen, Senf- und Marmeladengläser aneinander gereiht und bedecken den Boden. Den des Müllraums, der Stufen und des gesamten Erdgeschosses inklusive des Aufzugs. Es war wohl ein besonders schöner Zufall, dass die Leerung der Tonnen grundsätzlich erst am Mittwoch erfolgt. In unserem Haus steht allerdings so viel Glas, dass ich vermute, dass hier im Vorfeld über Wochen gesammelt wurde. Besonders hervorzuheben ist, dass die Gläser und Flaschen mit Wasser gefüllt wurden und in etwa jedem zehnten ein Löwenzahn steckt und der Freinachtsstreich damit einem wirklich schönen Kunstwerk gleicht. Ich hätte ihnen ein Foto gemacht, aber leider stand zwischen den Gläsern schon meine Nachbarin Frau Obst und brüllte wie eine Furie. Hätte ich sie dabei fotografiert, wäre womöglich ein Senfglas an meinem Kopf gelandet. Unser Hausmeister schimpft auch – leiser, aber auch verzweifelter, denn er ist es, der die Gläser einzeln ausleeren und einsammeln muss.

Ich nehme meinen Müll wieder mit nach oben. Die Sonne scheint und ich werde mich auf den Balkon setzten, bis das Treppenhaus wieder begehbar ist. Das Hämmern an meiner Türe ignoriere ich. Es ist Frau Obst, die wissen möchte ob ich ihre Fußmatte gesehen habe. Nein, das habe ich nicht, aber sie ist nicht die erste, die heute Morgen vor meiner Tür steht und eine  Fußmatte oder etwas anderes sucht. Ich suche nicht.  Obwohl an meinem Küchenfenster ein äußerst scheußlicheres Kätzchen aus Ton hängt. Ich weiß nicht wenn es gehört, aber gestern Abend ging dort noch ein ausgesprochen hübsches Windspiel, das mir die Tochter einer Freundin geschenkt hat. Wo das jetzt ist weiß ich nicht aber ich denke irgendwann wird man es mir wieder bringen. An der Völkerwanderung durch unser Treppenhaus beteilige ich mich nicht. Ich bleibe ganz entspannt hier in der Sonne sitzen. Schließlich ist der heute der 1. Mai und Feiertag.

Vorhin hat mir Paul eine SMS geschrieben. Mein Fahrrad sei an der Kirche. Dort sind sie alle. Verbunden mit Schnüren. Vielen, vielen Schnüren, die akribisch durch die Speichen gefädelt wurden. Das geht nun wirklich zu weit! Es weiß doch jeder, dass Dinge aus geschlossenen Räumen nicht verzogen werden dürfen! Das ist eindeutig gegen die Regeln der Freinacht! Paul schrieb mir später noch eine SMS: „Du warst gestern die letzte im Fahrradkeller. Herr Meier fragt ob du die Türe auch sicher geschlossen hast.“

Hab ich nicht. Er war zu voll. Mein Hinterrad stand etwas ins Treppenhaus hinaus. 

27 Gedanken zu “Freinacht

  1. Liebe Mitzi!

    Wunderbar beschrieben. Genau so kenne ich die Freinacht (oder „Anstelltag“ wie es bei uns heißt) aus meinen Kindheitstagen. Glücklicherweise blieb ich dieses Jahr verschont, wenngleich ich sehr gerne einen Blick auf die vielen Glasflaschen samt Löwenzahn geworfen hätte. Allerdings fehlt meiner Nachbarin ein Kätzchen aus Ton. Aber sie vermisst es nicht, da auch sie es sehr scheußlich fand und ist froh, dass es nun bei Ihnen gelandet ist 🙂

    Herzliche Grüße von der frostig kalten und trüben Alb
    Mallybeau

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    1. Liebe Mallybeau, richten Sie doch bitte Ihrer Nachbarin aus, dass ich auf das Kätzchen dennoch gut achtgebe. Falls mein Windspiel bei ihr gelandet ist, darf sie es gerne behalten, wenn sie Freude daran hat.
      Anstelltag, den Begriff kannte ich noch nicht. Ich sende Ihnen in den nächsten Tagen ein paar Löwenzahn. Da ich schlecht ziele, landen diese wahrscheinlich auf den Wiesen rund um die Alb. Aber Sie wissen ja dann, dass sie von mir sind.
      Herzliche Grüße
      Mitzi

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      1. Das ist herrlich, liebe Mitzi. Vielen Dank. Löwenzahn ist einfach schön anzuschaun. Im Schwäbischen wird er übrigens auch „Bettseucher“ genannt 🙂

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      2. Bettseucher? Heute lernen ich viele Worte und das obwohl ich dachte, mit dem Schwäbischen einigermaßen vertraut zu sein. Wofür steht das? Im Bayerischen gibt „soachen“ ein bisserl grob für urinieren…Bettbiesler?

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      3. Genau so. Kommt wohl daher, dass ein Löwenzahn immer diese weiße Flüssigkeit abgibt, wenn man ihn abrupft 🙂

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  2. Hauptsache, Ihre Fahrstuhltüre ist nicht sorgfältig ringsum (und halt überall wo sie aufgeht – oder dann halt eben nimmer aufgeht) mit Silikon verfugt. Fachgerecht! Ich hätt‘ ja noch eins über gehabt …

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    1. Mei, bringen sie die Hausbewohner nicht auf Ideen. Lustig wäre es aber, wenn sie die Türen von innen verfugen und es erst merken wenn sie nicht mehr raus kommen – mit ein paar Bier vorher halte ich das für gar nicht so unwahrscheinlich ;).

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  3. Im linksrheinischen Rheinland kennt man den Unfug in der Freinacht auch, bis hin zum Aufstewllen des Maibaums und Bewachen am Feuer. Aber hier In Hannover gibt es gar nichts. Das bedauere ich schon seit Jahren. Selbst auf dem Land kennt man nichts davon. So lese ich deinen lebendigen Bericht über das turbulente Geschehen im Haus und in der Nachbarschaft mit Vergnügen.

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    1. Ich erinnere mich, dass du schon einmal erwähnt hast, dass das Aufstellen des Maibaums im linksrheinischen Rheinland bekannt ist, lieber Jules.
      Ich kann nachvollziehen, dass du das „gar nichts“ in Hannover nicht schön findest. Wenn es wenigstens etwas anderes gäbe, aber so ganz ohne Bräuche ist es auf Dauer auch fad.
      Es freut mich, dass ich dich ein wenig teilhaben lassen konnte.

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  4. Liebe Mitzi,
    Xeniana sagt, dieser Brauch klingt kreativ und amüsant.
    Leider gibt es immer „Spaßvögel“, die solche Bräuche übertreiben.
    Ich habe etwas Ähnliches neulich erlebt, als in der Nachbarschaft geheiratet wurde.
    Dem Brautpaar wurde auch das Auto in Klopapier gewickelt. Allerdings lagen auch in deren Wohnung zentimeterhoch Reiskörner in allen Räumen und ähnliche „Scherze“.
    Noch „toller“ finde ich den Brauch der Brautentführung. Da hat die Braut 5 Stunden ihrer Hochzeit in einer Dorfkneipe verbracht, weil sie nicht gefunden wurde. Ihre Bewacher haben sich volllaufen lassen und fanden das lustig.
    Die Krawatten, die mir während der Arbeit zur Weiberfastnacht abgeschnitten wurden, waren nach der ersten Erfahrung dann alte, die weg konnten. Aber auf alles kann man sich nicht vorbereiten, wenn die Leute ZU kreativ werden. 😉
    Ich bin sicher, Ihr Fahrrad steht nächstes Jahr in Ihrem Arbeitszimmer!? 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich,
      wenn man die Freinacht bei Googel eingibt, dann findet man reichlich Beispiele, bei denen übertrieben wurde. Sachbeschädigung und nie wieder aufgefundenes Eigentum. Darüber könnte ich genauso wenig lachen wie über die schrecklichen Bräuche die es rund um Hochzeiten gibt. Wenn ich einmal heirate, dann drohe ich mit der Kündigung der Freundschaft, wenn mir einer die Wohnung versaut, wenn ich heim komme. Das finde ich nicht lustig, sondern unverschämt. Auch das „Brautverziehen“ ist aus genau den Gründen, die Sie anführten, etwas das ich blöd finde. In abgeschwächter Form ist das in Ordnung – aber die halbe eigene Hochzeit zu versäumen….ne, wirklich nicht.
      Herzliche Grüße…ich geh jetzt mein Rad holen.

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  5. Zum Glück bin ich nicht die einzige, die mit dem Begriff „Freinacht“ erst jetzt nach dem Lesen deines Artikels was anfangen kann. Manches fände ich sehr lustig, anderes könnte mir noch nicht mal ein gequältes Lächeln entlocken.
    Aber die Idee mit den Löwenzahngläsern finde ich einfach grandios – schade, dass du kein Foto gemacht hast.
    In unserem furztrockenen Haus fände das alles sicher kaum einer lustig – außer mir.
    Und tschüss

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  6. Ich bin begeistert von diesem fremdartigen Ritual eines fernen, exotischen Landes. Und noch begeisterter, dass sogar ein preußisch gesinnter Hausmeister sich daran beteiligt und Vorschläge macht. 🤣

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  7. Wir Nordeutschen sind wohl wirklich vom Humor befreit. Wobei… Wir feiern ausgiebig den Geburtstag unseres Hafens mit Parade, Schlepperballett und früher durften sogar die Düsenjets der Luftwaffe ihre Flugmanöver aufführen.

    Am 1. Mai sind wir dagegen allerdings froh, wenn der schwarze Block mal nicht irgendetwas abfackelt. Da haben die wenigsten Humor. Der Streich klingt allerdings nach dem perfekten Abschluss zum Abitur. Einen Streich haben wir damals leider nicht geschafft…

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