U-Bahn Gedanken – Tragödie oder Komödie

Im Bus sitze ich immer ganz hinten. Damit ich hinten einen Platz finde, steige ich immer schon eine Station früher ein. Besonders in der Linie 54 muss man hinten sitzen. Während man vorne ordentlich in Zweiersitzen Platz nimmt und brav nach geradeaus blickt, sitzt man im hinteren Viertel etwas erhöht und sich zu viert gegenüber. Die letzte Reihe, die wichtigste, ist einem dabei ganz nah. Dort in der letzten Reihe spielen sich die zwischenmenschlichen Dramen ab. Eigentlich nur eines. Aber dieses spitzt sich seit Mitte August zu und sorgt dafür, dass vorne kaum noch einer sitzen möchte. Niemand möchte verpassen, mit wem Lilly am Vorabend geschlafen hat. Lilly hat keine Ahnung, wer ich bin, aber ich kenne Lilly seit einigen Wochen recht gut. Ich fasse es für Sie schnell zusammen. Lilly führt eine Beziehung mit Eugen, schläft mit Stefan und würde aber lieber mit Manuel das Bett teilen, der sich aber aufgrund der Freundschaft zu Eugen nicht für diesen Gedanken erwärmen kann. Ganz schön verzwickt, nicht wahr? Jeden Morgen freue ich mich auf diese Fortsetzungsgeschichte, die uns dank der lauten Telefonstimme von Lilly Tag für Tag präsentiert wird. Neuen Nutzern der Linie stellt sie sich sogar vor, indem sie ihre Telefonate mit „Ich bin´s, die Lilly.“, beginnt. Man braucht schon ein recht robustes Schamgefühl um so ins Detail zu gehen, wie Lilly. Neue Fahrgäste reagieren irritiert bei Sätzen wie „Ne, ich hatte ja meine Tage.“, alte Hasen wie ich wissen, dass jetzt eine knappe Woche nichts interessantes passieren wird. Einmal im Monat ist Lilly unfreiwillig treu. Und auch etwas langweilig. Wenn sie ihre Tage hat, dann schläft sie weder mit Eugen noch mit Stefan und hat schlechte Laune. Manchmal sitzt sie dann stumm und in sich gekehrt auf der Bank und kaut über viele Stationen an ihren Fingernägeln. Meistens aber, nutzt sie die Tage der Tage um sich telefonischen Rat bei ihren Freundinnen zu holen. Dieser wird besonders seit den Weihnachtsfeiertagen dringend benötigt. Wie schlimm es um das emotionale Gleichgewicht von Lilly steht ahnten wir, die anderen Fahrgäste, nicht. Lilly ist mittlerweile so verzweifelt in Manuel verliebt, dass sie ihm – bei nicht Erwiderung ihrer Gefühle – droht, nicht nur dem Bus, sondern auch seiner Freundin von ihrer Verliebtheit zu erzählen. Allerdings, und das macht die Sache kompliziert, findet Manuel die Idee gar nicht so schlecht. Noch wäscht er seine Hände ja in Unschuld und kann darauf hoffen, dass Eugen die Sache regelt.

Lilly hat die Idee allerdings schon wieder ad acta gelegt und verabredet sich mit Freundin A zum Kauf von Dessous und bittet Freundin B, sie in diesen zu fotografieren. Dass diese Fotos nicht für ihren Freund sein werden ahnt man, vor allem weil die Einkäufe keinesfalls, so sagt Lilly, in ihren vier Wänden aufbewahrt werden können. Für Stefan, den puren Beischläfer, sind sie aber auch nicht mehr. Lilly schläft jetzt mit einem Mann, den sie, ungewohnt scheu nur als „du weißt schon“ betitelt. Wir sind ihr deswegen ein wenig beleidigt. Nicht nur, weil es leichter war die Herren anhand ihrer Namen auseinander zu halten, sondern auch, weil wir leichtes Misstrauen spüren und etwas verunsichert sind. Schließlich haben wir die Rolle des stillen Mitwissers schon lange inne und fast sind wir versucht zu glauben, dass Lilly nicht mehr auf unsere Verschwiegenheit vertraut. Wie recht wir mit unserer Vermutung haben, zeigte sich heute morgen.
Da saß auf der Rückbank neben Lilly ein junger Mann, der wirklich ausgesprochen gut zu ihr passte, denn auch er stellt sich vor. Kaum Platz genommen, nahm er sein Handy und begann das Telefonat mit: „Ich bin´s, der Eugen.“ Das war er also, der Eugen. Eugen, der Freund von Lilly. Eugen, der Kumpel von Manuel und Eugen, dem seit Monaten Hörner aufgesetzt wurden. Wir alle, die wir regelmäßig um kurz vor halb sieben mit dem Bus Nr. 54 fuhren, sahen ihn neugierig an. Er merkte es, dank seines Telefonates, nicht. Wohl aber Lilly. Der schien schlagartig bewusst zu werden, dass jeder, aber auch wirklich jeder der hinten im Bus saß, etwas wusste, was ihr Freund auf keinen Fall erfahren sollte. Ungewöhnlich still saß sie in der letzten Reihe und wich den Blicken aus, die teils amüsiert, teils unangenehm berührt auf ihr ruhten. Besonders schwer müssen die vorwurfsvollen Blick auf ihren Schultern gelegen haben. Denn auch wenn es uns nichts angeht, auch wenn manche von uns heimlich geschmunzelt haben, ein wenig Leid hat Eugen uns allen getan. Jetzt, wo wir ihn das erste Mal sehen, ganz besonders. Bei all der Komik, die zwischenmenschlichen Dramen so oft innewohnt, bleiben es Dramen. Eugen weiß noch nicht, dass er in einem solchen die Hauptrolle spielt. Er wird es wissen, wenn sich die Komödie der Linie Nr. 54 für ihn zu einer Tragödie entwickelt.

45 Gedanken zu “U-Bahn Gedanken – Tragödie oder Komödie

  1. Oh man…ja…solche Bus-und Bahngeschichten sind besser und teils dramatischer als irgendeine Daily Soap.
    Eingreifen kann man bei einer Serie nicht, aber im Bus….schwierig…
    Ob sich jmd einmischt und Eugen alles erzählt? Ob die zukünftigen Telefonate etwas leiser von statten gehen werden?

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  2. Herrlich. Diese Geschichte kann man wirklich nur so erzählen, und Du machst das (zu meinem großen Vergnügen) hervorragend. – Sag mal, hast Du für das Titelfoto die Pfefferstreuer einer Kantine eingesammelt, oder was ist das? Erinnert mich an den alten Film „Eine Dame verschwindet“, als Dame May Whitty um den Zucker bittet, während die beiden Engländer die Zuckerwürfel gerade zur Veranschaulichung des Spielstandes einer Cricket-Partie benutzen.

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    1. Freut mich.
      Die Mini-Salzstreuer habe ich vor Jahren als Sechserpack gekauft. Warum nun jeder am Frühstückstisch einen eigenen haben soll erschließest sich mir nicht. Ich habe sie einzig gekauft, weil sie in der Gruppe so hübsch waren. Bescheuert.

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      1. Salz also, nicht Pfeffer. Aber auch gut – das Salz in der Suppe (oder auf dem Ei, das man sich über dieses und jenes braten kann. Als Stellvertreter jedenfalls origineller als Schach- oder Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren. Deine Titelbildgestaltung gefällt mir eigentlich immer. 🙂

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      2. Freut mich, dass sie dir gefallen. Ganz am Anfang war mir der Blog mit nur Worten zu fad und es mir zu gefährlich irgendwelche Bilder zu benutzen (wegen der Rechte).
        Du wirst lachen…ich wollte eigentlich Schachfiguren nehmen, war aber zu faul in den Keller zu gehen.

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      3. Nee, nee, das mit den Salzstreuern ist perfekt. Schachfiguren sind wunderbar beziehungsvoll aber eben deswegen total überstrapaziert.

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  3. Wunderbar, Fräulein Mitzi.
    Ich werde mich demnächst mit ihnen für eine Fahrt mit der Linie 54 verabreden und werde selbstverständlich Kaffee und Kuchen bereithalten. Lilly muss ich unbedingt kennenlernen. Die Linie 54 fährt ja sogar bei mir vorbei… aber sie lässt ja auch kaum einen Stadtteil aus..
    Liebe Grüße
    Simone

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      1. Ähnliche Erlebnisse hatte ich auch schon in einem Bus mit der Nummer 42 in der Kesselstadt…
        Ich fragte mich damals: was hat das bloß mit Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ zu tun…*lächel *
        Liebe Wintergrüße vom Lu

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  4. So herrlich! Ich hatte auf ca. 50% Lesestrecke zudem das Bedürfnis, ein Diagramm der Beteiligten und ihrer Beziehungen zu zeichnen (und in eine Ecke des Papiers noch einen kleinen Autobus). Nur so für den Überblick und das unbeschwertere Weiterlesen! (Kann mir Namen schlecht merken, wenn sie sich häufen; und was hinkritzeln hilft immer).

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    1. Die 58iger ist wirklich fad. Ich nutze sie ausschließlich zur Fortbewegung ;).
      Über den gruseligen Mönch muss ich noch mal nachdenken – auf Anhieb fällt mir nicht ein, welchen du meinst.

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      1. Der gruselige Mönch hängt an der Gebsattelbrücke, wenn man von der Stadtmitte Richtung Ostbahnhof fährt. Links sind Treppen, und da steht ein Bär aus Stein. Es gibt da auch noch andere Tierfiguren, glaube ich.

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  5. Im Sinne deiner Überschrift kann man hier von einer Tragikomödie sprechen. Es ist höstlich, was du schilderst und wie du den Spannungsbogen aufbaust, bis der arme Eugen auftaucht. Auch wirkt alles authentisch, denn bekanntlich ist die Bereitschaft einer Frau fremdzugehen stark von ihrem Zyklus abhängig, also zum Zeitpunkt des Eisprungs am höchsten, um dann rapide abzunehmen.
    Dein Text ist eine kleine Meisterleistung, liebe Mitzi.

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    1. Über dein feines Lob freue ich mich sehr, lieber Jules.
      Aber eine kleine Korrektur: Eine kurze Umfrage im Büro hat ergeben, dass die Bereitschaft der Frauen für einen Seitensprung mehr noch vom Glattheitsgrad der Beine, als vom Eisprung abhängt ;). Wir hören leider längst nicht mehr auf unsere Körper.

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      1. Ich habe aus leidvoller Erfahrung einer Beziehung zu einer verheirateten Frau geschrieben. Das war sieben Jahre wie eine Achterbahnfahrt. In der prämenstruellen Phase wandte sie sich regelmäßig von mir ab, (aus dem Nichts entbrannte ein Streit mit anschließender Trennung), um dann wieder heftig um mich zu werben. Ich nannte es bei mir „das Mondspiel“, nachdem ich hinter das Regelmaß gekommen war. Als ich dann las, dass die Bereitschaft fremdzugehen um die Zeit des Eisprungs herum am größten ist, konnte ich mir das Hin und Her von Anziehung und Abstoßung erstmals erklären.Die glatten Beine sprechen nicht dagegen. Wenn Frau verlocken möchte, macht sie sich fein. 😉 Beste Grüße ins Büro!

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      2. Das klingt nach einer mehr als unangenehmen Achterbahnfahrt um die ich dich nicht beneide, lieber Jules. Erstaunlich, wie lange man solche Fahrten aushält, wenn man einen Menschen mag und nicht von ihm lassen kann oder will.
        Liebe (verspätete) Grüße

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  6. oh ich liebe es, menschen in öffentlichen verkehrsmitteln zu lauschen. welch ein glück, dass dir immer wieder dieselben begegnen und du somit fortsetzungsgeschichten erfahren darfst! aber der eugen ist ein recht armes schwein, das muss ich schon sagen.

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    1. Armes Schwein, dachte auch ich. Schade, dass Eugen nicht öfter (und alleine) Bus fährt. Ich würde zu gerne wissen ob er wirklich nichts ahnt oder am Ende gar selbst auch kein unbeschriebenes Blatt ist.

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  7. Mitzi, das übertrifft jeden Krimi mit Gaunerhintergrund, denn die mitteilsame Dame Lilly ist ja wohl mehr als ein Schlitzohr. Wenn ich nicht vor Jahren, als ich auch nicht gebrüllte Telefonate in Verkehrsmitteln problemlos verstand, mal so etwas ähnliches in der Bahn erlebt hätte, würde ich es kaum glauben. Aber leider fehlte mir der Fortsetzungseffekt wie du ihn hier durch die wochentägliche Wiederholung der Busfahrt erleben kannst. Ich verstehe, dass du eine Station gegen den Strom zurückläufst. Die Dame in meinem Abteil erzählte der halben Welt eine recht pikante Tatsache. Interessant waren nur die unterschiedlichen Nuancen. Ihrer Mutter schilderte sie es sicherlich weitaus harmloser als ihrer Freundin. Nach der dritten Wiederholung begann es zu ätzen und zu stören. – Ganz im Gegenteil zu hier, hier lauert das Publikum ja förmlich auf eine Fortsetzung.
    Mit wissbegierigen Grüßen von Clara

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    1. Genau so ist es, Clara. Hört man sie nur einmal, dann fällt es einem wahrscheinlich gar nicht auf. Erst durch die Fortsetzungen entsteht die ganze Geschichte. Ein Glück, dass mir beim Lesen im Bus seit einigen Jahren schlecht wird. So habe ich mehr Zeit mich darauf zu konzentrieren.
      So langsam aber, wird es uns allen auch langweilig. Ich glaube irgendwann kommt der Punkt, da kann man es nicht mehr hören. Vielleicht tauschen wir mit den vorne Sitzenden einfach Platz.

      Liebe Grüße

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  8. Auf ein so ergiebiges Busbiotop stößt man selten 🙂 . Und ich finde es total anerkennenswert, dass Du das alles zusammen bekommen hast. Solche etwas problematischen eigenen Beziehungskisten darzustellen, fällt ja schon schwer genug. Aber diese von jmd. andere wiederzugeben – unglaublich, ehrlich ❤ Und ich hab mich herrlich amüsiert!

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