Paul und ich wären fast im Lift gestorben

Paul und ich stehen im Lift. Da Paul die Tür blockiert, um auf seine neue Freundin zu warten, wird sich die Weiterfahrt  verzögern. Drei bis vier Minuten schätze ich, da sie eine vollgestopfte IKEA Tüte hinter sich hergezogen hat und ich vermute, dass es etwas Zeit in Anspruch nehmen wird, bis sie die Flaschen, das Plastik, den Papier-, den Bio- und den Restmüll aussortiert und in die entsprechenden Tonnen geworfen hat. „Du merkst selbst wie unangebracht das ist, oder?“ frage ich Paul und lehne mich an die Wand des Aufzugs. Als das Licht im Treppenhaus ausgeht und zugleich weiter oben jemand zu schimpfen beginnt, tritt Paul aus der Tür und wir fahren eineinhalb Stockwerke nach oben. Dann bleibt der Lift stecken und ich beginne komische Geräusche zu machen, weil ich immer, wenn ein Aufzug stecken bleibt, für einen kurzen Moment davon überzeugt bin, in diesem kleinen Raum zu sterben. Ersticken, verhungern oder abstürzen. Ich quietsche und Paul lehnt sich an die Wand mir gegen über. „So schlimm?“, fragt er und ich nicke. Beides. Paul vorhin und der Lift der sich jetzt nicht mehr bewegt. Während ich überlege wie lange wir ohne zu trinken überleben werde, beginnt Paul zu reden. Vermutlich um mich zu beruhigen. So jung ist sie nicht, sagt er und fährt sich verlegen durch die Haare. Anfang zwanzig. Er weiß, dass sie jünger aussieht, sie ist es aber nicht. Sie ist einundzwanzig und als er sie kennen lernte, sah sie sogar älter aus. Auf Ende zwanzig, wenn nicht sogar Anfang dreißig hätte er sie geschätzt und das sei ein ganz normales Alter für eine Frau. Ach, erkundige ich mich, überlege, was denn ein unnormales Alter für eine Frau sein könnte. Nix ach, sagt er und erklärt, dass er sie an diesem Abend ganz sicher für eine Frau gehalten hat. Eine Frau die man großzügig gerechnet als Teil seiner Generation bezeichnen könnte. Weil ich ihn nicht ganz verstehe, schaue ich ihn nur an und überlege, was an ihm anders ist. Mehr Bart vielleicht, den lassen sich zur Zeit ja alle Männer wachsen. Schau nicht so, murmelt er und erklärt, dass sie wirklich älter ausgesehen hat. Fraulich. Also, wie eine Frau und nicht wie ein Mädchen. Obwohl man mit Einundzwanzig natürlich eh kein Mädchen mehr ist, sondern durchaus erwachsen. Heute sowieso und sogar schon in den Fünfziger Jahren. Einundzwanzig, das ist eine Frau. Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht Einundzwanzig bin und mir die Frage nach meinem Geschlecht nicht stelle. Mich interessiert mehr ob wir im Lift ersticken werden und ob Pauls Schläfen tatsächlich schon grau werden. Im Aufzuglicht erkennt man es schlecht. Was, fragt er und wehrt sich, als ich ihn unter den Lichtspot bei der Tür schiebe. Grau. Tatsächlich. Ich sag es ihm, weil er es selbst vielleicht noch gar nicht gemerkt hat. Er drängt mich zur Seite und blafft mich an, ob das irgendetwas zu sagen hätte. Sein Großvater hätte bereits mit Anfang Dreißig graue Haare gehabt und für Anfang dreißig hätte er sie – vermutlich meint er die, die gerade seinen Müll sortiert – auch gehalten. Er hätte es satt, dass er sich ständig rechtfertigen müsse, denn selbst wenn sie nicht Anfang Dreißig sondern eben erst Anfang Zwanzig ist, heißt das noch lange nicht, dass…. Zum Glück sagt er nichts von einer alten Seele. Paul erklärt mir, dass sie gleiche Interessen hätten, gemeinsam lachen könnten und eben insgesamt wirklich gut zusammen passen würden.

Ob er betrunken ist erkundige ich mich und weiter, warum er mir den ganzen Mist eigentlich erzählen würde. Jetzt, wo wir in diesem Scheißding sterben werden und überhaupt. Sterben? Nun sieht er mich an, als wäre ich es die wirres Zeug redet und erklärt mir dann, dass es doch ich gerade, mit dem Blick auf seine Freundin behauptet hätte, dass diese Beziehung unangebracht sei. Und schlimm.
Es ruckelt. Als der Lift sich wieder bewegt entspanne ich mich. Unangebracht, sage ich Paul, sei es, dass er feige seine Freundin seinen Müll sortieren lässt, wo er genau wisse, dass Frau Obst den ihren gerade ebenfalls entleert und schlimm, dass dieser verdammt Lift in letzter Zeit immer öfter stecken bleibt. Ansonsten sei alles in Ordnung. Er könne gerne schlafen mit wem er wolle. Ich lächle ihn strahlend an. Jetzt wo wir uns wieder bewegen, fällt mir das leicht. Wir fahren in mein Stockwerk. Beim Aussteigen rufe ich ihm hinterher, dass die Müllsortierende Frau wirklich viel, viel älter aussieht. Fast schon verlebt möchte man sagen. Ich erwähne das nur, weil es ihm anscheinend wichtig ist.

20 Gedanken zu “Paul und ich wären fast im Lift gestorben

  1. Da könnte ich noch ein paar fürchterliche Möglichkeiten aufzählen, was einem in einem steckenbebliebenen Aufzug noch alles passieren kann ! *schauder*. Interessieren würde mich auch, was die Dame davon gehalten hat, als verlebt beschrieben zu werden 🙂

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  2. Tatsächlich ist es weniger gruselig mit einem Dutzend Leute in einem Fahrstuhl stecken zu bleiben – jedenfalls solange keiner davon an Asthma leidet.
    Dein Mehrfamilienhaus (mit Fahrstuhl) ist um Klassen besser als die Lindenstraße.

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  3. So ein ganz kleines bisschen gemein kannst du manchmal aber auch sein?!?!?!
    Es stirbt sich nicht so schnell im technikorientierten Deutschland, schon gar nicht im Lift.

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  4. Sie ist wesentlich zu jung für ihn, sie wird jemanden an der Uni kennenlernen und gut. Diese Geschichte wurde tausendfach erzählt, jemand sollte sie für Paul aufschreiben bevor er zur Haartönung greift. Hm, wer könnte das machen….

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    1. Mich amüsierte die sofortige Abwehrhaltung Pauls und die Rechtfertigungen . Ansonsten überlasse ich es den beiden herauszufinden ob das Alter in ihrer Beziehung eine Rolle spielen wird. Wenn er sich aber die Haare tönt, dann wird es schwierig.

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  5. Herrlich! Besonders die kleine Bosheit am Schluss. Wäre jetzt noch interessant zu wissen, wie alt Paul eigentlich ist. Ab einem gewissen Alter ist es schwerer für Single-Männer, eine altersgemäße Frau zu finden. Viele sind dann vergeben, und man muss sich auf nachrückende Generationen konzentrieren.

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      1. Ja klar, aber wenn ein 40-jähriger Mann eine 19 Jahre jüngere Freundin hat, geht das gesellschaftlich noch gerade so durch, eine Frau mit einem 20 Jahre jüngeren Freund wird meist scheel angesehen.

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  6. Fahrstühle waren mir schon immer ein graus, nicht nur wegen der Wahrscheinlichkeit stecken zu bleiben. Es ist dort drinnen einfach zu eng und zu trostlos… Wenn es wenigstens Fenster gäbe oder eine fröhliche Tapete.

    Die Liebe und das Alter sind bekanntlich ja so eine Sache für sich. Ich finde allerdings, dass sie keine so große Sache sein sollte, denn wenn sich zwei gefunden haben, dann gehören sie auch zusammen verdammt noch mal.

    Ich würde mir zwar keinen Ehemann/ Freund suchen, dem ich voraussichtlich in 10 Jahren den Rollstuhl schieben muss oder gar unangenehmeres aber für den ein oder anderen gilt dies sicherlich auch als Liebesbeweis.

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    1. Ein etwas fröhlicheres Innenleben fände ich bei Fahrstühlen auch gut.
      Liebe fragt nicht nach dem Alter, sehe ich auch so. Wenn es einer des Paares von sich aus in den Mittelpunkt rückt, dann könnte es aber schwer werden.
      Ich kann mir auch schönere Liebesbeweise vorstellen. Wenn es dazu kommt und man liebt, dann macht man es wohl trotzdem.

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