Eine Leiche im Hinterhaus

Mit unserem Haus ist es ein wenig so wie mit Italien. Oder um die Himmelsrichtungen korrekt wieder zu geben, unser Haus ist wie Deutschland kurz nach der Wende. Es gibt den Osten, das Vorderhaus, und den Westen, das Hinterhaus. Man kennt sich, man mag sich, aber für die Probleme des anderen fühlt man sich nicht unbedingt zuständig. So ignoriere ich seit Wochen die immer dringlichen Hilferufe einer mir unbekannten Dame aus dem Hinterhaus. Dank der vielen Zettel im Aufzug bin ich bestens darüber informiert, dass einer aus dem zweiten Stock  in seinem Badezimmer Tauben füttert. Aber ganz ehrlich….es ist mir egal. Das spielt sich im Hinterhaus ab und ich wohne im Vorderhaus. Den Westen unseres Hauses betrete ich nur, wenn ich muss.  Heute musste ich. In meinem Flur liegt seit Tagen ein Paket für meinen Nachbarn Paul und ich ahne, dass sich der DHL Bote die Benachrichtigungskarte wieder einmal gespart hat. Mit dem Paket unter dem Arm betrete ich das Hinterhaus und fühle mich darin bestätigt, dass der vordere Teil doch viel schöner ist. Das sehen die meisten aus dem Vorderhaus so und deshalb wundert es mich, direkt neben Pauls Wohnung eine buntgemischte Ansammlung aus beiden Teilen des Hauses anzutreffen. Herr Meier steht in der Mitte und ich sehe meine direkte Nachbarin Judith fragend an. Die haben eine Leiche, informiert sie mich. Ich verschiebe die Paketabgabe und bleibe neugierig stehen.

Mei….de werd hie sei, sagt Herr Meier und bekräftigt seine Vermutung über den Tod der Hinterhausbewohnerin mit einem lauten Zungenschnalzen. Immer trifft es die falschen, sinniert Frau Lukaseder und lächelt dabei boshaft in die Richtung von Frau Eder, die sich sofort erkundigt, was man denn damit andeuten wollen würde. An einem so friedlichen Sonntag, fügt sie angriffslustig hinzu. Die alten Schachteln mögen ihren Mund halten fordert Herr Meier, er müsse sich konzentrieren. Worauf genau sich Herr Meier konzentriert ist mir nicht ganz klar. Auf seinen Stock gestützt steht er vor der Hinterhauswohnungstüre und presst das Gesicht auf Höhe des Schlosses gegen das Holz. Was macht er denn, erkundigt sich Judith. Frau Lukaseder klärt sie auf. Seit nunmehr fast drei Tagen klingelt in der Wohnung ein Telefon. Minutenlang und immer wieder ohne das jemand den Anruf entgegen nehmen würde. In den angrenzenden Wohnungen fühlte man sich belästigt und sie, Frau Lukaseder, hätte schon vorgestern versucht sich zu beschweren. Auch geklopft hätte sie, als niemand die Türe öffnete. Geklopft? Paul, den ich bisher übersehen habe schüttelt den Kopf. Wie eine Irre gehämmert hätte sie. Jetzt seids hoid staad, schimpft Herr Meier und presst sein Gesicht noch fester gegen den Türspalt, hinter dem man nun deutlich das Klingeln eines Telefons hört. Nix, sagt er nach einer Weile und richtet sich auf. Das nichts wundert mich, da man sehr wohl etwas hört und er schüttelt auf meine Nachfrage ungeduldig den Kopf. Nicht das Klingeln meint er, sondern den Gestank. Noch würde er keinen Verwesungsgeruch wahrnehmen, was aber nur eine Frage der Zeit sei. De is hi….prophezeit er noch einmal und verlässt die Gruppe fröhlich pfeifend. Zu seiner Entschuldigung sei erwähnt, dass Frau Dahlke – die vermeintlich jetzt seelige Frau Dahlke – neu in unserem Haus ist und er wohl noch keine Gelegenheit hatte eine Beziehung zu der etwa vierzigjährigen Frau aufzubauen. Paul anscheinend auch nicht, denn auch er will die Gruppe verlassen. Judith stellt sich ihm in den Weg. Soviel Kaltschnäuzigkeit stößt ihr bitter auf. Ob es ihm völlig egal sei, dass er gerade neben einer Leiche wohnt, will sie wissen. Und ob er nichts von ihr wüsste, schließlich gäbe es doch keine Frau jenseits der Wechseljahre in diesem Haus die er noch nicht angemacht hätte?  Paul grinst und zuckt mit den Schultern. Nur wenige würden nicht sein Interesse, das stimmt. Eigentlich nur die Neue und sie, Judith. Bevor diese ihm verbal eine Ohrfeige erteilt, ergreift er die Flucht. Auch Judith und ich gehen. Die vermeidliche Leiche ist nicht unser Problem. Wir wohnen im Vorderhaus und überlassen das weitere Klopfen und die Überlegungen ob man die Polizei oder gleich das Bestattungsinstitut rufen solle, den Hinterhäuslern.

Am Abend stehe ich mit Judith im Laubengang und beobachte das Treiben auf Pauls Balkon. Das halbe Hinterhaus hat sich darauf versammelt und versucht einen Blick in die Wohnung von Frau Dahlke zu werfen. Wir sind uns nicht ganz sicher, was Frau Lukaseder mit dem Schrubber in der Hand möchte, vermuten aber, dass sie gegen die Scheibe klopfen will. Ein uns unbekannter Nachbar versucht sie davon abzuhalten und aus der Ferne sieht es aus als würden die beiden tanzen. Überhaupt ist das Chaos aus einiger Entfernung ganz hübsch anzusehen. Nach kurzer Zeit gesellt sich Frau Obst zu uns. Seit sie die Wohnung getauscht hat, ist sie nur noch selten im Laubengang. Heute aber, stellt sie sich zu uns, lehnt sich an die Brüstung und blickt lächelnd in Richtung des Hinterhauses. Frau Obst lächelt nie. Dass sie es gerade beim Anblick von Frau Dahlkes Balkon tut, führt dazu, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen. Auch Judith verzieht das Gesicht und rückt ein Stück von ihr ab.

Gerade als wir wieder in unsere Wohnungen gehen möchten, richtet sich Frau Obst auf. „De is ned hi“, sagt sie und lacht leise auf. „De is nach Garmisch in´d Berg g´fahrn weil ihr Oida, da Ex, dauernd o ruaft und sie mog eam nimmer.“* Judith stöhnt auf. Warum sie das den Leuten denn nicht sagen würde, fragt sie. Die hätten doch sicher schon die Polizei angerufen. Oder die Trauerhilfe Denk, werfe ich ein. Außerdem hinge Paul bereits gefährlich weit über der Brüstung seines Balkons. Frau Obst zuckt mit den Schultern. Was bitte, fragt sie, gingen sie die Probleme des Hinterhauses an? Zufrieden lächelnd geht sie. Judith und ich auch. Ausnahmsweise hat Frau Obst recht.

*Die ist nicht tot. Die ist nach Garmisch in die Berge gefahren, weil ihr Mann, der Ex, andauernd anruft und sie genug von ihm hat.

15 Gedanken zu “Eine Leiche im Hinterhaus

  1. Liebe Mitzi!

    dafür dass sie die Geschichten im Hinterhaus nichts angehen, versammeln sich aber nun einige Vorderhausbewohner vor der „anrüchigen“ Türe.
    Ich bin beruhigt, dass doch noch so etwas wie Zusammenhalt und Mitgefühl untereinander herrscht, wenngleich auf eine etwas eigentümliche Art und Weise 🙂

    Herzliche Grüße
    Mallybeau

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    1. Wir Münchner, liebe Mallybeau, zeigen unsere Zuneigung auf recht eigentümliche Art. So geht uns das Hinterhaus zwar nichts an, aber wenn es hart auf hart kommt, dann eben doch. Das ist wie mit Verwandten – man selbst darf über sie schimpfen, aber Außenstehende niemals.
      Herzliche Grüße

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  2. Da ist was los bei euch. fast wie auf dem Dorf. Wie du es geschrieben hast, ist’s fast ein Bühnenstück, liebe Mitzi. Wenn ich vergleiche mit dem anonymen Geschehen in dem Haus, in dem ich lebe, scheint mir deine Geschichte exemplarisch zu sein für München-Giesing. Und gut, dass die Frau Nachbarin nun doch keine Leich ist.

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    1. Ganz ähnlich hat sich die Geschichte im Haus meiner Kindheit zugetragen. Ich war zu klein um mich zu erinnern, aber an alle Nachbarn die vor der Wohnungstür, der unseren gegenüber standen erinnere ich mich noch sehr gut. Leider auch an den Satz meiner Mutter, dass die Fliegen schon aus dem Briefschlitz heraus kämen. Damals gab es wirklich eine Leiche.
      Da ist mir mein Haus schon lieber 😉

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  3. Da wo ich wohne ist es nicht anders. Irgendwann fiel mir auf, dass in einer bestimmten Wohnung im Nebenhaus sämtliche Jalousien Tag und Nacht geschlossen sind. Ich informierte den Hausmeister. Das war vor drei Jahren. Die Jalousien sind immer noch geschlossen …

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  4. Kommunikation war schon immer schwierig. Sei es in einer Familie, in einer Beziehung oder eben mit Mitbewohnern. Aber schön zu hören, dass Frau Dahlke sich hoffentlich bester Gesundheit erfreut. Garmisch soll übrigens sehr schön sein

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