Anstich

Dieses  Jahr nicht. Nicht am ersten Tag. Es regnet. Es ist kalt. Und überhaupt muss ich nicht am ersten Tag um zwölf in einem Zelt stehen. Ich mag kein Bier und brauche um zwölf Uhr mittags keinen Alkohol. Dieses Jahr nicht. Außerdem darf man keine Taschen mitnehmen. Heute darf man nicht, früher hat man es nicht gemacht, weil sie einen ja doch störten. Angeblich braucht man nichts außer Geld, Monatskarte und den Hausschlüssel. So ein Blödsinn. Ich brauche eine Tasche, in die Pflaster, Taschentücher, Haarspangen, Labello und flache Schuhe für den Heimweg passen. Außerdem ein Schirm weil es regnet und die Strickjacke meiner Großmutter, die perfekt zum Dirndl passt und die ich sicher nicht in den Dreck unter den Tischen legen werde. Kleine Tasche…ich bin raus.

Ob ich gehe, fragen meine Freunde und reagieren nicht auf mein Antwort, dass ich heute nicht am ersten Tag dabei bin. Sie wissen, dass ich kurz darauf doch vor dem Schrank stehe und kurze Zeit später knöcheltief in einem bunten Haufen aus Kleidern und Schürzen. Ich will nicht, aber weil ich noch in keinem Jahr wollte und es doch immer einer der schönste Tage im Jahr wurde, traue ich mich nicht, einmal wirklich nicht zu wollen. Saublöder Gruppenzwang schimpfe ich, als ich im Regen zur U-Bahn laufe und in meiner Tasche nur Geld, Busticket und den Schlüssel habe. Und die Erinnerung an unzählige Wiesntage. Die nehmen aber kaum Platz ein.

Schön ist ja schon, am ersten Tag. Der Moment, wenn man im Zelt steht. Nichts in den Händen hält, die Musik noch nicht spielt, man die Kapelle aber schon sieht und die Kellner und Kellnerinnen ungeduldig mit den Füßen wippen und alles noch nach frischem Holz und noch nicht nach Bier und Brezen riecht. Eine halbe Stunde stehe ich auch da und wippe von einem Fuß auf den anderen. Wir alle, die wir am ersten Tag eigentlich ja gar nicht wollten und jetzt doch in der Ochsenbraterei vor der Musik stehen. Dieses Jahr hier, weil einer, einen kennt, der kellnert und der uns auch später im Gedränge nicht vertreibt und uns im Stehen eine Maß bringt. Oder zwei. Maßen die die kleine Tasche schon mehr als einmal getauft haben. Es hat ihr nicht geschadet. Ich hab sie seit ich achtzehn bin. Dann kommt sie, die Musik. Die Wirte wünschen eine schöne und friedliche Wiesen und wie ein Wunder vergeht keine Viertelstunde und das ganze Zelt hat etwas zu trinken. Der erste Schluck Bier schmeckt doch ganz gut. Ohne ist die Breze zu trocken und ohne kann ich den wildfremden nicht zuprosten. Bei dem alten Mann, der so freundlich lacht, wäre das schade. Auch bei den Italienern, denen ich die Speisekarte übersetze und dann doch der Einfachheit halber gleich für sie bestelle, damit sie sich nicht am Ende noch versehentlich Gnocchi ordern, die aus Gründen der Völkerverständigung ihren Weg in das Zelt gefunden haben. Fehlende drei Euro fische ich aus meiner Tasche und spendiere sie den Touristen. Meine Tasche hatte ich auch dabei, als ich mit Anfang Zwanzig gemeinsam mit dem Mutigsten meiner Freunde drei Italiener traf, die zu Freunden wurden und der Grund waren, dass wir kurze Zeit später für einige Jahre nach Italien auswanderten. Ich. Er ist ja geblieben.

Die Wiesn ist wie heimkommen. Ein Jahr war man weg, hat manche Menschen zwölf Monate nicht gesehen und steht dann am ersten Tag wieder zusammen und macht da weiter, wo man im Oktober des vergangenen Jahres aufgehört hat. Man weiß nicht, wie die Tage enden. In manchen Jahren, wenn das Wetter schön ist, gehe ich mit dem besten meiner Freunde schon früh aus dem Zelt. Dann sitzen wir auf den Stufen vor der Bavaria, schauen, ratschen und teilen uns gebrannte Mandeln. In anderen Jahren bleibt der harte Kern bis das Zelt schließt, wandert dann zum Käfer und steht dort, bis die Füße abfallen und man wirklich jedem mindestens einmal in den Arm gefallen ist, um ihm zu sagen wie schön es doch ist, endlich wieder hier zu sein.

Einer, der mich noch nicht zwanzig Jahre kennt, schrieb am ersten Abend, dass es ein Fehler war, dass ich den ersten Tag versäumt hätte. Er kommt nicht aus München und hat noch nicht begriffen, dass viele Münchner bis zum Anstich auf den Wahnsinn und Irrsinn schimpfen und dann ganz selbstverständlich um fünf nach zwölf vor Ort zu sein. Er schickt mir ein Foto und ich erkenne anhand der farbigen Bänder in welchem Zelt er ist. Der Regen hat aufgehört als ich über die Festwiese laufe um ihm zu erklären, dass es in diesem Fall völlig egal ist was ich behaupte, weil ich gar nicht anders kann, als draußen – draußen auf der Wiesen – zu sein. Während ich laufe, schlagen die Erinnerungen in meiner Tasche aneinander. Vor dem Hofbräuzelt kämpf sich eine unschöne nach oben. Da hat man mich aus dem Zelt geworfen. Mich, die halbe Portion und nur weil der Depp mir einfach unter…ach, egal, man hat dabei sein müssen um die Unverschämtheit zu verstehen. Aber da hinten, da ist der Herzerlstand. Der schönste auf der ganzen Wiesn. Beim Heimgehen habe ich dort schon oft eines geschenkt bekommen. Und da hinten, hat mir der klügste meiner Freunde das riesige Schaf geschossen. Und in der Geisterbahn….gruselige Küsse sind etwas ganz besonderes. In meiner Tasche sind noch ein paar von ihnen aus dem Jahr der Jahrtausendwende.

Und dann steh ich im Ambrustschützen auf einer Bank zwischen Menschen die ich nicht kenne. Ich musste hoch, auf die Bank, um den Winkel des kleinen Fotos auf meinem Handy zu überprüfen. Keine Chance, sagt eine Frau neben mir und ich kann ihr wegen der lauten Musik nicht erklären, dass man sich auf der Wiesn immer findet. Schon damals als es noch keine Handys gab. Ich versuche es zu erklären und spüre zwei Hände die meine Taille packen. Zum Glück hatte ich keine Maß in der Hand, sonst hätte ich den, den ich suchte, vielleicht noch versehentlich niedergeschlagen.

Mit wie wenig ich auskomme, wundert er sich auf dem Heimweg, wo ich doch sonst meinen halben Hausstand mitschleppe. Ich erklär ihm, dass man auf der Wiesn doch nichts braucht. Geld, Schlüssel und das Glück und die Freunde der vergangenen Jahre. Mehr nicht, behaupte ich und er schüttelt sich vor Kälte, weil längst ich seine Jacke trage. Aus meinte Tasche fische ich den letzten Geldschein. Für die Geisterbahn.

36 Gedanken zu “Anstich

      1. Nein nein, ich habe Dir nichts voraus, im Gegenteil. Ich hätte mich besser ausdrücken sollen. Was ich sagen wollte, ist: Dein Text schildert so eindringlich und nachvollziehbar und überzeugend, wie man sich selbst als vernünftiger Mensch (der Du ja meistens bist;-) zu so einem Ereignis wie dem Oktoberfest hingezogen fühlen kann. Das machst Du so gut, daß mir keine Lästereien einfallen und ich sogar ein gewisses Verständnis für die Kölner Jecken aufbringe, weil ich vermute, daß es ihnen mit ihrem jährlichen Fest ähnlich geht wie Dir mit Deinem, schon lange frage ich mich nämlich, wie Menschen, die ich sonst schätze, sowas freudig mitmachen können. Die Schilderung Deiner Empfindungen ist nicht nur eine gute Erklärung für den Besuch des Oktoberfests, sondern vielleicht auch für den des Karnevals, also jetzt ein bißchen um die Ecke gedacht. Insofern hast tatsächlich Du mir etwas voraus.:-) Es traf mich wie ein Blitz, und das ist wahrlich ein merkwürdiger Erkenntnisweg: Ich lese etwas über das Münchener Oktoberfest – und verstehe den Kölner Karneval besser.

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  1. Wir haben hier, im kleinen Rahmen, auch so ein Volksfest. Früher fand ich es schön da viele alte Freunde zu treffen. Ich kann dieses Gefühl also gut nachvollziehen. Inzwischen ist mir die Lust danach vergangen, aber ich habe ja auch ein paar mehr Jahre auf dem Buckel 😉

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  2. Verstehe ich gut. Schon alleine die vielen Erinnerungen, die sich für dich damit verknüpfen. Ich erinnere mich an einen Text von dir übers Oktoberfest 2015, zu dem italienische Freunde da waren, die dir erzählt haben, dass du eine Stelle wegen deines Aussehens bekommen hast. Mir hats gefallen, weils offenbar dir gefallen hat.

    Schönes Foto vom Kleiderhaufen übrigens. Ich sah es groß im Reader. Hier fehlt es ja leider.

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    1. Ja, richtig. An diesen Text kann ich mich gut erinnern, lieber Jules. Das einzige Mal, dass diese anfängliche Reduzierung mir zu gute kam. Im Nachhinein hat es mich amüsiert.
      Schade, dass die Beitragsbilder beim Öffnen verschwinden.

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  3. Herrlich, wie schön Sie das Oktoberfest beschreiben, dass es die reinste Freude ist.
    Ich hab den Beitrag wirklich sehr genossen, ich war quasi mittendrin im Geschehen …

    … und bin gleichzeitig heilfroh, da nicht hin zu müssen … 🙂

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