Eine Giesinger Schande

Das Stehen fällt Herrn Mu schwer. Die Knie wollen seinen massigen Körper nicht mehr so recht halten und schmerzen bei längerem Stehen. Trotzdem steht er jetzt an diesem Samstagnachmittag schon eine ganze Weile bewegungslos vor einem Zaun und schaut auf einen Haufen Schutt. Einen Tag zuvor stand an dieser Stelle noch ein denkmalgeschütztes Haus. Dass man es abgerissen hat, wusste ich dank meines Nachbarn, Herrn Meier, schon seit Freitagabend. Nur glauben konnte ich es nicht. Ein denkmalgeschütztes Haus kann man ja nicht so einfach abreißen. Noch dazu nicht ein solches, dessen Geschichte ein Teil unseres Viertels ist. War, korrigiert mich Herr Meier und zuckte mit den Schultern. Weg sei es, sagte er und weiter, dass man so viel Dreistigkeit bewundern müsste, wenn es nicht gar so traurig wäre. Wie traurig es wirklich ist, wird mir erst bewusst, als ich am Samstagnachmittag neben Herrn Mu und einigen andern Nachbarn vor dem Schutthaufen stehe. Es ist nur schwer zu begreifen, dass eines der denkmalgeschützten Handwerkerhäuschen aus dem 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Dabei sollte es doch eigentlich nur saniert werden.
Frau Obst, die neben mir wohnt, ist an diesem Nachmittag außergewöhnlich still. Nachdenklich blickt sie auf die Trümmer und murmelt unverständliches vor sich hin. Unverständlich ist die Dreistigkeit dieses Abrisses in der Tat. Schon am Donnerstagnachmittag rückten Arbeiter einer Baufirma mit einem Bagger an, rissen ein Loch in die Fassade und begannen das Dach abzudecken. Nur weil sich Anwohner aus den benachbarten Häusern in den Weg stellten und einer die Polizei rief, konnte der Abriss gestoppt werden. Die Giesinger atmeten auf. Liegt ihnen ihre Grasstraße, ein Teil der Feldmüllersiedlung, einer frühen Arbeitersiedlung für Tagelöhner und Handwerker, doch sehr am Herzen. Die kleinen Häuschen stehen dort dicht an dicht und die Straßen mit ihrem Kopfsteinpflaster sind schmal. Biegt man hinter der Kirche ab, ist man in einem Teil von Giesing, der sich über all die Jahrzehnte den dörflichen Charakter bewahrt hat. Und jetzt ist eines der Häuser weg. Weil mich das Gemurmel der alten Obst nervt, bitte ich sie, doch etwas deutlicher zu sprechen. Ungewöhnlich zahm, tut sie das dann auch und berichtet, dass am Freitagnachmittag eine Handvoll Arbeiter zur Baustelle zurück kehrten und das kleine Haus mit dem Bagger in nur 20 Minuten völlig zerstörten. Andere Anwohner schalten sich ein. Ein Witz sei es gewesen – wenn’s halt nicht so traurig wäre – als der Baggerführer nach getaner Arbeiter zu Fuß flüchtete und man zwei weitere Arbeiter an der Ecke „Schmiere“ stehen sah. Ob es zu Ermittlungen kommt weiß man nicht. Aber das Häuschen in der Grasstraße 1 ist weg. Anstelle der eingereichten Anträge zur Sanierung des Gebäudes wurde es einfach abgerissen. Frei nach dem Motto: Es ist zwar verboten, aber weg ist weg. Dann zahlt man halt eine Strafe.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Herr Mu sich langsam durch die Menschen schiebt und wieder seine Wege geht. Weil es einem immer aufs Gemüt drückt, wenn ein Stückchen schöner Vergangenheit stirbt, gehe ich Herrn Mu hinterher. Der ist gut darin, die Dinge wegzulachen und findet an jedem scheußlichen Tag noch irgendetwas schönes. Ich brauche eine Weile bis ich ihn eingeholt habe. Gerade bückt er sich um eine der neuerdings rumstehenden Blechaschenbecher hochzuheben und zum Mülleimer zu tragen. Ich komme ihm zuvor und möchte wissen, ob er die bunte angemalten Dosen im ganzen Viertel aufgestellt hat. Herr Mu schüttelt den Kopf. Natürlich nicht. Die sind ein rechter Schmarrn, aber wenn sie nun schon einmal dastehen, dann kann man sie ja auch ausleeren, wenn man sieht dass sie voll sind. Gemeinsam leeren wir ein paar Zigarettenreste-Dosen und schlendern nach Hause. Das heißt, ich gehe nach Hause. Herr Mu genießt noch etwas die Sonne an der Bushaltestelle.
Kurz vor meinem Haus treffe ich auf Frau Obst. Sie zetert und ihre Stimme überschlägt sich schimpfend. Nichts erinnert mehr an die ruhige Dame, die vor wenigen Minuten noch betroffen vor der Hausruine gestanden hat. Aber auch diesmal verstehe ich sie. Frau Obst schimpf nämlich über eine Schmiererei an der Hauswand, die gestern noch nicht dort war. Es sind dumme Kritzelein, die die Wände unseres Viertels in den letzten Monaten verschandeln. Abfucken müsse man das Viertel, heißt es zum Beispiel und möchte dem Vorbeigehendem sagen, dass der Schmierfink gegen die Gentrifizierung etwas unternimmt, indem er Giesings unattraktiv erscheinen lassen möchte. Mieten runter, steht an einer anderen Hauswand. Man gibt dem Schreiber recht, bedauert aber den Eigentümer des Hauses, der die Mieten womöglich gar nicht erhöht hat. Obwohl die teilweise saublöden Parolen teilweise Wahrheiten enthalten, tragen sie doch nur dazu bei, etwas an sich schönes, hässlicher zu machen. Herr Meier kommt auch die Straße hinunter und schüttelt den Kopf. Ob er ihn schüttelt, weil der Hals von Frau Obst vom vielen Zetern und Schimpfen schon ganz rot ist oder weil er die Schmiererei bedauert, weiß man nicht so genau. Herr Meier trägt auf seine Art zur Erhaltung es ursprünglichen Charmes des Viertels bei. Überwiegend indem er den Umsatz in den alten Kneipen ankurbelt und aus Prinzip nur in kleinen Geschäften einkauft. Neuerdings aber auch, indem er wie Herr Mu, die Zigarettendosen ausleert. Obwohl sie es abstreiten, bin ich überzeugt davon, dass die Beiden sie aufgestellt haben, weil Schmierereien an den Hauswänden in Verbindung mit Zigarettenkippen auf dem Boden sogar für Giesing zu viel sind.

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Obwohl die Blechdosen ganz hübsch sind, ist Giesing jetzt um ein 170 Jahre altes, kleine Häuschen ärmer. Es ist zum heulen. Dass Herr Meier neben Frau Obst nun auch noch zum Schimpfen anfängt, macht es nicht besser. Erst bekommt die Baufirma ihr Fett weg. Was für dreiste Subjekte das sind, schimpft er und weil er die dreisten Subjekte nicht greifbar sind, droht er ersatzweise Frau Obst mit seinem Stock. Er schimpft an diesem Vormittag noch lange. Erst vor dem Haus, dann auf der Bank vor der Kneipe. Deppen – man ist ja nur noch von Deppen umgeben, hört man ihn schimpfen. Erst kommen die Körndlfresser von der anderen Isarseite nur zum Kaffee trinken und eh man sich versieht ziehen sie ganz nach Giesing. Die Veganer, so behauptet er, sein es bestimmt auch, die die Bienenkästen direkt am Gehweg aufgestellt hätten. Er ist gut in Fahrt der Meier. Später geht er auf die Mütter los, deren Kinderwägen teurer wären als ein Kleinwagen. Die hätten ihre Waschlappenmänner sicher genötigt unten am Kolumbusplatz das Sofa aufzustellen, damit sie sitzend die Bauzäune mit ihren Wollfetzen verzieren könnten.

Ich glaube, solange Herr Meier schimpfend durch Giesing streift, wird das nichts mit der Gentrifizierung. Nur für das kleine Haus in der Grasstraße Nummer 1 ist es zu spät. Eine Schande!

 

32 Gedanken zu “Eine Giesinger Schande

      1. Ich hoffe ja, dass man als Strafe sie dazu verdonnert, das Grundstück als Grünfläche zu lassen. Nix mit vielem Geld für überteuerte Wohnungen. Doch so, wie ich von Augsburg her kenne, wird das nicht geschehen, so traurig es auch ist.

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      2. Dass Sie sich da mal nicht täuschen – mit Geld kann man so viel erreichen, auch eine Baugenehmigung. Getrixt sind dann die Abreißenden und die neu Bauenden nicht die gleichen Personen.
        Leider Gottes steigt die Anzahl der Vollidioten im Laufe der Jahre um eine beträchtliche Zahl.

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  1. Liebe Mitzi,
    ich bin noch immer auf meinem destruktiven, misanthropisch-dystopisch angehauchten Trip. Deshalb schlussfolgere ich messerscharf, dass der Denkmalschutz für alle alten Gebäude nach und nach aufgehoben wird. Er wird durch einen übergreifenden Denkmalschutz ersetzt, der diesen ganzen Planeten zu einem Denkmal erklärt, wenn die Natur ihn zurückerobert hat.

    P.S. Dass bei Ihnen Sofas auf der Straße stehen, damit man sich zwischendurch ausruhen kann, ist sehr sympatisch. Wir haben das in unserem Dorf auch eingeführt! 😉

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    1. Ihren Trip kann ich gut nachvollziehen. Bei manchem was man so liest und hört fällt es einem schwer nicht so zu denken.
      Die Sofas (das eine) ist da eine schöne Ablenkung. Schön zu hören, dass es bei Ihnen auch so ist. Wie haben Sie das Regenproblem gelöst? Wir gar nicht ;).

      Herzliche Grüße

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  2. Liebe Mitzi!

    Wie wunderbar beschrieben. Mir tut es auch immer in der Seele weh, wenn ein Gebäude mit Geschichte dem Erdboden gleich gemacht wird. Egal ob denkmalgeschützt oder nicht. Als ich unlängst irgendwo die Zeilen laß, dass man die Schreinerei vom Meister Eder und seinem Pumuckl abgerissen hat, habe ich diese Vorstellung so schnell als möglich verdrängt.
    Achja, wenigstens bringt das Sofa wieder etwas mehr Gemütlichkeit ins Stadtbild 🙂

    Herzliche Grüße
    Mallybeau

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    1. Liebe Mallybeau, ach ja…die Schreinerei von Meister Eder. Das fand ich auch sehr schade, als die abgerissen wurde. Würde man heute davor stehen, man wäre sofort wieder Kind und würde nach Herrn Eder Ausschau halten.
      Herzliche Grüße

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  3. Der Grundstückeigentümer hat es wohl eilig. Sonst hätte es genügt, dass der Bagger ein Loch ins Dach macht, den Rest erledigt die Witterung. In vielen Städten ist die Bauverwaltung leider korrupt. Warum soll es in München anders sein? Vermutlich wird man bald dort neu bauen dürfen.
    Deinem lebhaften Text, liebe Mitzi, merkt man an, wie sehr du dich dem Viertel verbunden fühlst. Du hast sogar Farbfotos gebloggt, was ja höchst selten vorkommt.

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    1. In München soll es anders sein, lieber Jules. Dass es das nicht ist, weiß ich – aber schön wäre es. Ich hoffe man wird dort nicht so bauen dürfen, wie man es sich vorstellt.
      Die Farbbilder…stimmt, sie sind selten. Für die Dosen und die Fäden am Bauzaun musste es sein. Außerdem schadet ein wenig Farbe nicht, wenn man sich gerade aufregt. 😉

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  4. dreist, ja, das ist es wirklich. und traurig, wie ignorant manche sind, wenn es sich ja mit geld richten lässt. es ist aber schön, dass – wie auch mein vorschreiber anmerkt – die verbundenheit zu spüren ist. die ist nämlich noch viel wichtiger als die gebäude, die an einem ort stehen. und ein unterschied zu wien, denn die gibt es hier nicht mehr an vielen orten.

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    1. Die Verbundenheit spürt man in München leider auch oft nur noch, wenn etwas passiert. Das ist dann vielleicht das einzig gute daran. Ich bleibe Optimist und hoffe, dass der Aufschrei als es durch die Presse ging, doch etwas bewirkt.
      Liebe Grüße

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      1. ich drücke die daumen. es ist schade drum, wenn diese dinge alle weichen und einheitlichen und gesichtslosen bauten weichen. andererseits ist mangelnder wohnraum halt auch ein problem :/ und menschen hatten immer wenig interesse am erhalten von schönen dingen. früher hat man städte ja einfach „drüber“ gebaut.

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  5. Echte Verbrecher – die rechnen sich ganz cool aus, was es sie kostet, wenn sie so ein Haus illegal abreißen, und wie hoch der Gewinn dagegen ist, den sie aus einem Neubau ziehen können. Sowas sollte man mit langjährigen Haftstrafen ohne Bewährung ahnden. Leider passiert vermutlich gar nichts, der Bauherr kriegt ein Bußgeld, das war’s. Da könnte man doch echt zum Anarchisten werden – ich kann den Sprayer verstehen, auch wenn seine Aktionen völlig sinnlos sind, im Gegenteil, solche Sprüche verleihen dem Viertel in den Augen der Gentrifizierer erst den Chic einer authentisch scheinenden Subversivität.

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    1. Es bräuchte eine Strafe, die über eine pure Zahlung hinaus geht. Sonst macht es ja, wie du schreibst, keinen Sinn. Entzug der Baufirmalizenz oder was weiß ich.
      Der Sprayer hat vermutlich keine Ahnung was Anarchie überhaupt bedeutet. Er ist nicht besser als jeder andere Vandale. Die Sprüche von denen sind so ausgelutscht, dass sie wie abgeschrieben klingen. Zum Glück überwiegen in Giesing die Menschen mit Hirn und Charme.
      Du merkst, ich könnte mich noch immer aufregen. Danke dir für deinen Kommentar.
      Liebe Grüße

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  6. Ist es tatsächlich nicht verboten? Eine Schande ist es auf jeden Fall und sollte geahndet werden und dass nicht zu knapp. Aber ich denke es wird nicht passiere. Was weg ist, ist eben weg und ich denk es wird sich schon eine reiche Baufirma finden die ihre Anträge durchbekommt. Solche wird es leider immer geben… Wohnen in den Bienenkästen, denn tatsächlich Bienen? Könnte man Herrn Meier bitte zurück anmeckern, dass wenn die Bienen aussterben würden wir ein gewaltiges Problem hätten? 😉 Wobei rentieren tut er sich ja, vlt. sollte man ihm noch ein Megaphon in die Hand drücken und Stoffbahnen für Parolen.

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    1. Es ist verboten. Aber die Konsequenzen sind wohl „günstig“ genug um es zu rechtfertigen.
      In den Kästen sind tatsächlich Bienen. Allerdings sind sie mittlerweile auf einem Garagendach und dort auch besser aufgehoben. Der Meier meckert immer. Ich denke tief drinnen weiß er schon, dass die Bienen keine blöde Idee sind :).
      Ich würd ihn gerne öfter mit Megaphon irgendwo hin stellen. 😉

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