Das Kind hat sich schon übergeben

München ist bekannt für die vielen schönen Seen im Umland. Die Auswahl ist groß und gerade in den Sommermonaten zieht es ganz München gerne an ihre Ufer. Fast ganz München. Die Giesinger eher nicht. Seetechnisch gesehen, ist Giesing nämlich recht benachteiligt. Freilich könnte man sich auf das Radl schwingen und fröhlich pfeifend zum Deininger Weiher raus radeln. Bei über dreißig Grad vergeht einem das Pfeifen aber schnell. Das fröhliche. Das aus dem letzten Loch begleitet einen schon – es geht nämlich immer Isaraufwärts. Der Riemer See ist künstlich und scheußlich und zum Feringasee geht es zwar Isarabwärts, aber da denkt man ja schon an dem Heimweg und hat keine rechte Freude. Für Bewohner des Alpenvorlandes ist der Münchner im allgemeinen und der Giesinger im speziellen, nämlich recht faul. Mit der S-Bahn mag er auch nicht fahren und mit dem Auto steht man eh nur im Stau, weil ja ganz München die gleiche Idee hat und zu den Seen pilgert. Es verwundert also nicht, dass man den Giesingern schon 1847 das erste Freibad vor die Nase gesetzt hat. Vermutlich auch um ihr, in der ganzen Stadt verschrienes, hitziges Gemüt abzukühlen. Eiskalt soll es gewesen sein, erzählt man sich noch heute. Und das es anfangs herrlich ruhig war. Seit 1938 nicht mehr – ab da wurden die Gatter auch für die Frauen geöffnet.

Wenn ganz München an die Seen fährt, dann bleibt der Giesinger lieber daheim in seinem Viertel. Da weiß man was hat. Im Sommer das Schyrenbad. Böse Zungen behaupten, dass es gesünder wäre sich in die angrenzende Isar zu stürzen, als in die vollgepinkelten Becken. Besonders gerne behaupten das die Schwabinger, wenn sie im Stau stehen und hoffen den Starnberger See noch vor dem Sonnenuntergang zu erreichen. Der Giesinger bleibt sich treu. Der war als Kind schon im Schyrenbad und geht an besonders heißten Tagen auch heute noch dort hin. Allein schon weil es nur dort am Kiosk noch den pappsüßen Puffreis in Regenbogenfarben gibt. Von dem wird einem immer ein wenig schlecht, vor allem dann wenn man ihn mit lauwarmer Cola und Schokoladeneis kombiniert. Natürlich macht man es trotzdem. Der Giesinger ist traditionsbewusst. Was einen mit sieben Jahren nicht umgebracht hat, kann heute nicht schaden.

Letzten Samstag fragte mich eine Freundin aus dem Westend, ob ich nicht Lust hätte mit ihr an den See zu fahren. Ob sie spinnt, wollte ich wissen, doch nicht heute am ersten  Wochenende der Sommerferien. Das sie komisch ist, die aus dem Westend, erzählte ich auch meinem Freund, als wir unsere Handtücher zusammen suchten. Wir waren uns einig. Heute, am ersten Ferientag, da ließ man es ruhig angehen. Da schwingt man sich auf sein Fahrrad und fährt schnell runter zum Schyrenbad. Da stellt man sich für eine gute Stunde in die Schlange vor der Kasse und erleidet dort in der prallen Sonne fast einen Hitzschlag. Während man schwitzt und dampf – man ist ja schon außer Atem weil es schwer war für das Radl noch einen Platz zu finden – amüsiert man sich über die Deppen, die bei dem Wetter bis zum See raus fahren. Hier hat man das Wasser doch in der Nähe und die knappe Stunde anstehen in der prallen Sonne…mei, es ist Sommer, da ist es halt etwas wärmer. Außerdem kennen wir die Schlange aus unserer Kindheit und man kann die Wartezeit damit überbrücken alte Bekannte und Nachbarn zu begrüßen. Heute sind sie nämlich alle hier. In der Schlange – bei über dreißig Grad – trifft sich das ganze Viertel. Es schimpft über die langsame Kassiererin, schlägt vor, dass man doch mal Bäume pflanzen könne, damit man im Schatten Schlange steht und plärrt seinen umher rennenden Kindern hinterher, weil diese sich schon vor dem Betreten des Bades die Knie auf dem Beton blutig schlagen. Sie verhalten sich genau wie ihre Eltern vor dreißig oder auch vierzig Jahren und kleben schwitzend und dampfend Pflaster auf Ellbogen und Knie. Sie halten Schüsseln mit Apfelschnitzen und Tomaten vor Kindergesichter, diskutieren und resignieren, bevor sie den Geldbeutel herausrücken und ihre Kinder zum Kiosk schicken, vor dem sie selbst vor vielen Jahren standen.

Die ganz alten Giesinger sind schon seit sieben Uhr morgens vor Ort und haben sich bereits die besten Plätze gesichert. Alle anderen versuchen gar nicht erst, noch einen Schattenplatz zu erwischen und lassen nach der Warterei erst mal alles fallen und stürzen sich ins Wasser. Als verantwortungsbewusste Erwachsene predigen wir unseren Kindern natürlich trotzdem, dass man nicht vom Beckenrand springt und sich abkühlen muss. Ungeduldig warten wir, bis sie das erste Mal untertauchen und lassen uns dann heimlich vom Rand direkt ins Wasser pflatschen. Natürlich ohne uns abzukühlen. Warum auch. Bei der Menge an Körpern im Becken, ist die Wassertemperatur ähnlich der einer Badewanne.  An Schwimmen ist selbstverständlich nicht zu denken. In den Sommerferien plantschte man dichtgedrängt, Schulter an Schulter und trocknete im Stehen oder Sitzen, weil das Liegen auf dem Handtuch nicht schön ist, wenn vor der Nase die Füße eines Fremden das eigene Handtuch berührten. Aber man kennt sich ja.

Später trifft man sich in der Schlange vor dem Kiosk wieder und denkt an die armen Münchner, die sich auf den Wiesen der Seeufer ausstrecken. Im kühlen Gras. Und das in einem Sommer, von dem man weiß, dass es vor Zecken nur so wimmelt. Da loben wir uns den Beton auf dem wir stehen. Natürlich ohne Schuhe. Es gibt wenig schöneres als sich die Fußsohlen auf heißem Beton zu verbrennen. Den neuen Holzsteg ganz rechts ignorieren wir. Wir und alle anderen – in Giesing mag man keine Veränderungen. Selbst dann nicht, wenn es bedeutet, dass man am Abend humpelt und den ganzen Heimweg über den nun wirklich nicht mehr zeitgemäßen Beton schimpft. Das Alibikind, das ich mir an diesem Wochenende ausgeliehen habe  hat sich bereits übergeben. Es ist zu heiß für Süßkram. Ich hab es ihm gesagt. Apfelschnitze unter die Nase gehalten, diskutiert und resigniert. Während es mit wieder leeren Magen zum Abkühlen vom Beckenrand springt, esse ich vorsorglich schnell alle Reste vom Kiosk auf und spüre endlich auch die leichte Übelkeit, die unbedingt zu einem Freibadbesuch dazu gehört.

Fast bin ich enttäuscht, weil am Abend noch alle unsere Fahrräder am Baum stehen. Mindestens eines hätte geklaut werden müssen. Giesing ist auch nicht mehr das was es einmal war. Nächstes Wochenende fahren wir an den Starnberger See. So schlimm ist der Stau gar nicht, vor den Parkplätzen wartet man auch nur eine knappe Stunde und Zecken haben wir dieses Jahr noch keine gehabt. Oder doch die Isar. Grad hat es Hochwasser und das Schwimmen ist verboten. Dafür ist die Strömung so stark, dass es einem die Füße weg reißt und man nicht in die Glasscherben im Flussbett tritt.

Kommen Sie gut durch den Sommer. Wenn Sie einen München Besuch planen und baden gehen wollen – achten Sie auf eine robuste Konstitution, sonst wird’s eng.

23 Gedanken zu “Das Kind hat sich schon übergeben

  1. Ein Hoch auf die Traditionen!
    Das erinnert mich an einen Seebesuch in meiner frühen Jugend und an das Melonenstück, um das ich mich mit einer Wespe stritt – die Wespe gewann. Der Mann am Kiosk guckte nicht schlecht, als ich ihn bat, die große Zwiebel, die ich gerade bei ihm gekauft hatte, durchzuschneiden, um mir sie Schnittstelle dann auf die Haut zu pressen. Seitdem esse ich Melonen nur noch inhäusig.

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  2. ich bin ja keine „echte“ wienerin, daher kann ich hier leider nur auf erzählungen aus zweiter hand zurückgreifen. die wiener haben ja im allgemeinen sichtlich ein ähnliches verhältnis zu ihren städtischen bädern wie die giesinger zu ihrem. insbesondere das arbeiterstrandbad am einen ende der skala und das „krawa“ (krapfenwaldbad) auf der anderen. und dann gibt das noch das gänsehäufl. da ließen sich sicherlich auch die eine oder andere kurzgeschichte darüber schreiben. leider nicht von mir 😉

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  3. Heute Mittag hats in Hannover wieder geregnet wie Sau. Ich war klatschnass und lese bei dir nicht ohne Neid, dass ihr mal wieder pünktlich zum Ferienbeginn Sommerwetter habt. Deine Freibadimpressionen sind köstlich, liebe Mitzi. Ich erinnere mich, dass mich als Kind immer das infernalische Geschrei geschreckt hat, das wie eine Wolke über dem Freibad hing. Das legre sich, sobald ich Teil des Geschreis war. Wir mussten zum Freibad 12 Kilometer radeln, weshalb ich mehr dem Radsport als dem Schwimmen zuneige.
    Ganz wunderbar war es übrigens am Starnberger See. Ich war da in Kur, und die Kurklinik Höhenried hatte einen ausgedehnten Park mit prächtigen Liegen auf Liegewiesen am Ufer. Ich dachte: „Da muss ich erst einen Herzinfarkt erleiden, um so prima am Starnberger See sein zu können.

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    1. Bayern ist zur Zeit wirklich gesegnet. Der Regen kommt nur selten und dann sehr heftig. Meist abends, pünktlich vor dem Einschlafen. So kann man es gut aushalten.
      Das Geschrei kenne ich. Heute geht es mir unglaublich auf die Nerven. Es hält mich davon ab, mich auf ein Buch zu konzentrieren und selbst das Beobachten anderer Menschen ist unter dieser Dauerbeschallung kaum möglich. Früher war man Teil davon – heute wäre das doch recht komisch.
      Ein unschöner Anlass um diese schöne Gegend kennen zu lernen. Am Ende aber besser man sitzt an einem hübschen Ort um gesund zu werden, als an einem hässlichen. Ich hoffe du hast den See in guter Erinnerung behalten und musst ihn gedanklich nicht mit der Krankheit verbinden. Es klingt fast so.
      Liebe Grüße

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      1. Klar, ich habe die Zeit wie Urlaub erlebt, Damals war ich noch mit der Münchner Freundin zusammen und wir haben es genossen, am Starnberger See zu sein. Denn meistens sind die Ufer ja Privatgelände, wie wir im Jahr zuvor festgestellt hatten.

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      2. Zu zweit lässt es sich schon besser aushalten. Zumal ihr dann damals für einige Zeit die Kilometerzahl zwischen euch reduzieren konntet.
        Die Privatgrundstücke überwiegen. Das ist leider so. Vom Boot aus gesehen, kann man nur neidvoll staunen wie herrlich diese Grundstücke sind.

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  4. Was bin ich froh in einer kleineren Stadt zu wohnen 🙂 Hier gibt es genug kleinere Seen, nur an den Bodensee kann man am Wochenende nicht, da ist das ähnlich wie du es beschreibst. Köstlich zu Lesen aber heilsam gegen Großstadtträume 😉

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