Statistisch unwahrscheinlich

Wir werden nicht grillen. Der Wald, der unsere kleine Hütte umgibt ist strohtrocken und den Funkenflug eines Feuers zu riskieren, ist eine Mischung aus Ignoranz und Dummheit. Mit dem einen oder anderen werde ich darüber noch diskutieren müssen und mich am Ende doch durchsetzen. Die Hitze eines Feuers und die Schönheit einer langsam verlöschenden Glut, gehört zu Abenden, an denen man sich nach dem Sonnenuntergang eine Jacke um die Schultern legt. Jene seltenen Nächte, die die Hitze des Tages gespeichert habe und sie bis weit nach Mitternacht ausdünsten, brauchen kein Feuer. Ihnen reicht ein kleines Teelicht, weil sie im Dunklen besonders schön sind.

Wenn es weiter so heiß bleibt, wird es ein Gewitter geben. Eines jener Sorte, dass auf der Lichtung unserer Hütte einem Weltuntergang gleicht. Schutzlos steht das kleine Häuschen dann unter den sich tief beugenden Fichten und man weiß, dass sie weder einem fallenden Baum noch einem rutschendem Hang stand halten würde. Dass man sich dennoch gelassen in das Bett legt, dem trommelnden Regen lauscht und sich vom tosenden Sturm etwas erzählen lässt, liegt am Zauber dieses Ortes. Schon oft lagen auf dieser Lichtung Bäume. Einmal hat es den Schuppen erwischt und häufig musste man sich den Weg runter ins Dorf über Stunden mit Säge und Axt frei räumen. Unserer Hütte ist nie etwas passiert. Am Ende ist es eben doch immer Glück.
An das Glück lässt sich dort oben leicht glauben. Oder an die schützende Hand, das Schicksal oder Schutzengel. Es ist leicht an diesem Ort. Es kommt wie es kommt und es wird schon nicht gerade heute Nacht der Blitz in eine der Fichten einschlagen und ein gesunder Baum bricht nicht einfach ab. Und wenn, dann nicht heute Nacht. Man denkt es, lässt sich vom prasselnden Regen einschläfern und wacht am nächsten Morgen doch immer wieder auf.

Es ist Zeit in die Berge zu fahren. In diesem Jahr habe ich noch kaum Sterne gesehen, habe zu wenige Bücher gelesen und bin viel zu wenig barfuß gelaufen. Um die schwitzende und unter der Hitze ächzende Stadt wieder genießen zu können, muss ich sie für ein paar Tage hinter mir lassen. Um die vielen Menschen wieder um mich haben zu wollen, muss ich mich etwas vor ihnen verstecken. Zeit wird´s, höre ich dich sagen und nicke. Ob du mitkommst, möchte ich wissen. In letzter Zeit warst du still. Zu heiß, deine Antwort und ein gemurmeltes ja. Dann mit Schutzengel in die Berge. Das bietet sich bei der Gewittergefahr auch an. Im flirrenden Sonnenlicht sehe ich dich die Stirn runzeln. Auch du würdest ein paar freie Tage brauchen. Freie Tage für einen, der seit langem verschwunden ist und nichts mehr tut? Das Leben nach dem Tod sei die Hölle, höre ich dich lachen und rufe dir noch hinterher, dass heute der längste Tag des Jahres sei.

Den hellsten und längsten Abend werde ich mit einem Glas Wein auf dem Balkon zwischen der gewaschenen Wäsche für den Urlaub verbringen. Ohne zu fragen, weiß ich, dass du neben mir sitzen wirst. In letzter Zeit war es zu laut für dich. Jetzt wird es leiser. Ruhig genug um dich zu hören, hoffe ich und du nickst. Einer müsse mir ja vor Augen halten, dass Blitze nicht in eine, in einer Senke stehende Hütte einschlagen und es statistisch deutlich wahrscheinlicher sei, auf der Autobahn einen Unfall zu haben als bei einem Gewitter von einem Baum erschlagen zu werden. Ich bitte dich, mir das beim aufziehenden Unwetter noch einmal zu sagen und mich bis dahin damit in Ruhe zu lassen. Das hat nichts mit Statistik sondern mit dem Zauber dieses Ortes zu tun. Weil du das letzte Wort haben willst, murmelst du noch, dass noch nie eine Hütte bei starkem Regen den Hang hinunter gerutscht ist. Ich fordere Beweise, während ich die Wäsche aufhänge und bekomme sie nicht. Erst wenn ich bei starkem Regen im Bett der Hütte liege und das gleiche unangenehme Ziehen im Bauch spüre, wie schon vor über dreißig Jahren, wirst du es mir erklären. Zwischen den Regentropfen erinnere ich mich dann an den einen Abend, als du mir immer wieder von kräftigen Wurzeln, die den Boden befestigen, erzählt hast. Von statistischen Unwahrscheinlichkeiten und mich irgendwann an den Zauber des Ortes erinnert hast.

Komm bloß nicht auf den blöden Gedanken zu grillen, höre ich dich noch und renne schnell in den Keller um die nächste Ladung Wäsche in die Maschine zu werfen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Juni! Genießen Sie den Sommer und bleiben Sie heute wach, bis es ganz dunkel ist. Am besten draußen. Wir lesen uns im Juli. Bei Gewitter müssen Sie sich nicht um mich sorgen. Es ist statistisch äußerst unwahrscheinlich im Schlaf von einem Baum erschlagen zu werden.


 

 

24 Gedanken zu “Statistisch unwahrscheinlich

  1. Genieß ihn auch, den längsten Tag des Jahres und die Wärme, die in der anderen süddeutschen Hauptstadt wohl genau so intensiv ist. Da wird die Wäsche immerhin trocken. Und einen schönen Urlaub dir. 🙂

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  2. Schön so ein Hüttenaufenthalt mit Schutzengel, der sich vom Stress im Himmel ? erholen möchte 🙂 und wieder einmal ein besonders fließender Text ….
    In Wien darf auch nicht gegrillt werden und nicht einmal das kleinste Feuer angezündet, weil es so heiß und staubtrocken ist ….
    Ah ja, und schöne Tage wünsche ich dir !

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  3. Es ist statistisch äußerst unwahrscheinlich im Schlaf von einem Baum erschlagen zu werden.
    Nicht nur statistisch, liebe Mitzi, sondern regelrecht und praktisch überhaupt nicht möglich.
    Der Baum an sich ist schon mal gar nicht gewalttätig! Er würde Sie weder erschlagen, noch sonst irgendwie „handgreiflich“ werden. (Obwohl es DER Baum heißt!)
    Er würde mit Ihnen über die Sache sprechen, und da er nicht unhöflich ist, würde er nicht mit Ihnen reden, wenn sie schlafen, sondern warten, bis Sie wach sind.
    Dann spendet er Ihnen bei der Hitze erst einmal eine Menge Schatten, fächelt Ihnen mit seinen Blättern kühle Luft zu, und dann kann man die Statistik völlig vernachlässigen!

    Ihr Freund, der Baum!

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  4. In einem riesigen Hinterhofcarré ohne wirklich Feuerwehrzufahrt kann einen auch nur das Löschflugzeug retten, selbst in einer Großstadt. So gesehen Daumen Hoch für das „Nicht- Grillen“, wobei das Grün der Natur vor dem Gewitter am schönsten ist.

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