Erbsen im Frühling

Es heißt, dass die Menschen in Vollmondnächten durchdrehen. Angeblich geschehen dann mehr Unfälle, mehr Gewaltverbrechen und auch mehr Morde. Von Tötungs-delikten in meiner Nachbarschaft ist mir nichts bekannt. Weder bei Vollmond noch sonst. Mit Gewaltverbrechen können wir aber dienen. Oder wie würden Sie es nennen, wenn Sie von einer alten Frau mit Tiefkühlerbsen fast erschlagen werden? Bei uns hat das allerdings wenig mit dem Vollmond zu tun. In meinem Viertel drehen die Bewohner überwiegend an Tagen mit besonders schönem und eigentlich friedlich stimmenden Wetter durch. An Tagen wie heute zum Beispiel.

Heute ist einer jener Frühlingstage, dessen Schönheit man sich unmöglich entziehen kann. Die Wiesen am Straßenrand sind heute besonders hübsch, weil sie noch niemand gemäht hat und sie vor lauter Löwenzahn und Gänseblümchen überquellen. Bienen summen, Vögel zwitschern und aus den Innenhöfen ertönt fröhliches Kinderlachen. Der friedliche Eindruck täuscht. Unter der Oberfläche brodelt es. Zum Beispiel bei Herrn Mu. Der sitzt heute Nachmittag  an der Bushaltestelle und wartet seit über zwei Stunden auf einen ganz bestimmten Bus der Linie 52. Er wartet darauf, dass noch einmal ein ganz bestimmter Fahrer vorbei kommt, damit er ihm sagen kann, dass er ein dämlicher Hornochse ist. Ein Hornochse deshalb weil dieser, einige Stunden zuvor, direkt vor seiner Nase die Türen geschlossen hatte und ohne ihn abfuhr. An anderen Tagen hätte Herr Mu so etwas mit einem Schulterzucken ignoriert. Heute nicht. Heute muss er dem Fahrer, der sich sicher nicht mehr an ihn erinnert, noch einmal die Meinung sagen. Auch Herr Meier hat heute, an diesem herrlichen Frühlingstag, ausgesprochen schlechte Laune. Er sitzt vor der Kneipe und sein Schimpfen dringt durch die offene Balkontür bis an meinen Schreibtisch. Er schimpft über schlecht eingeschenktes Bier, über die neuen Parkplätze vor dem Haus, über das Unvermögen von Frauen beim Einparken und über die depperten Kinder deren Skatboards zu viel Radau machen würden. Letzterem kann ich widersprechen. Die Rollen der Skateboards höre ich nicht, wohl aber Herrn Meier. Herr Iwanow aus dem ersten Stock teilt meine Meinung, denn er betritt alle halbe Stunde den Balkon und schimpft rauchend über den schimpfenden Meier, der ihm den Feierabend verderben würde. Und Judith aus der Wohnung neben mir hält ihrer Tochter eine Standpauke. Ohne aufzustehen weiß ich, dass Judith auf dem Balkon steht und ihre Tochter zwei Stockwerke weiter unten auf einem Skatboard über den Bürgersteig rollt. Ein typischer Frühlingsabend in München. Alle schimpfen. Alle außer Frau Obst. Die erlitt an einem solchen perfekten Frühlingstag fast einmal einen Herzinfarkt und hält sich nun zurück.

Vor einigen Jahren, an einem ebenso schönen Tag, schimpfte auch ein jeder. Herr Meier in der Kneipe, Herr Mu an der Bushaltestelle und die anderen dort wo ihnen gerade einfiel, dass man einem so schönen Tag nun wirklich etwas schlechte Laune entgegensetzen musste. Frau Obst schimpfte vor meinem Küchenfenster. Vor diesem stand mein vollbehangener Wäscheständer in der Sonne. Mein Freund, der damals noch nicht mein Freund war, und ich saßen auf der-Stufe daneben und drückten uns an die Hauswand weil Frau Obst nicht nur schimpfte, sondern auch wild gestikulierte. Ein Unding sei es, die Wäsche im Laubengang zu trocknen, teilte sie uns mit und verwies auf die Hausordnung. Wäsche habe auf dem schattigen Balkon und nicht im sonnigen Laubengang zu trocknen. Es war ein Frühlingstag wie heute und ich spürte das Brodeln. Jenes von Frau Obst, weil ihr Schimpfen die Scheiben zum Klirren brachte und das meines zukünftigen Freundes, weil er ungewöhnlich ruhig war. Er hatte seit einer Stunde schlechte Laune, weil ich ihm den Biergartenbesuch versagte und darauf bestand, dass wir die Wäsche nur unter Aufsicht trocknen lassen durften, falls Frau Obst nach Hause käme. Die Sicherheit meiner Wäsche sei sonst nicht gewährleistet. Ich kann heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, wann die Situation völlig aus dem Ruder lief. Es begann mit einem breiten Grinsen, des Mannes neben mir. Steigerte sich, als er sie bat ihn nicht anzuschreien und eskalierte, als er es wagte Frau Obst zu ignorieren indem er die Augen schloss und sich an die Hauswand lehnte. Meine Nachbarin Frau Obst hat man nicht zu ignorieren. Wenn sie schimpft und zetert, dann hat man den Mund zu halten und macht ihr eine Freude, wenn man dabei den Kopf senkt. Mein Freund hätte sich vermutlich eher die Hand abgebissen als das zu tun. Er legte den Kopf in den Nacken und grinste mit geschlossenen Augen.  Das nächste an das ich mich erinnere ist, dass Frau Obst sich bückte etwas aus ihrer Einkaufstüte nahm und mit einem lauten „Sie!!!!“ in unsere Richtung schleuderte.

Es war eine Packung tiefgekühlter Erbsen und dass sie mit nur einer Hand gefangen wurden, während die andere weiter ruhig auf meinem Oberschenkel lag, führte dazu, dass ich mich in diesen Mann verliebte. Auch weil er aufstand, als Frau Obst über sich selbst erschrocken mit Schnappatmung im Türrahmen lehnte, und ihr die Einkaufs-taschen in die Wohnung trug. Und auch weil er den Wäscheständer einklappte und beschloss, dass er feuchte Wäsche weiteren Anschlägen vorziehen würde. Es gibt viele Gründe, aber wenn mich einer fragt, dann erzähle ich immer vom Fangen der Tiefkühlerbsen. Frau Obst hat in all den Jahren noch oft mit mir geschimpft. Nie mehr aber mit meinem Freund.

Damit Sie keinen falschen Eindruck von Frau Obst bekommen. Unter normalen Umständen schleudert sie kein Gemüse auf sich sonnenden Nachbarn. Es lag am milden Frühlingstag. In München, Giesing ist ein solcher Tag gefährlicher als Vollmond und Föhn zusammen.

36 Gedanken zu “Erbsen im Frühling

  1. Liebe Mitzi!
    Auch dies scheint mir eine bravouröse Weltsensation zu sein, dass die Erbsen so gekonnt gefangen wurden. An solchen Frühlingstagen muss wohl einiges anders zu sein. Ich musste spontan auch an Pumuckl denken, als Meister Eder bei Föhnwetter alles misslingt und der gute Kobold ist an gar nichts schuld. Aber wenn Sie sogar schreiben, dass es gefährlicher als an Föhn und Vollmond zusammen ist, dann muss es sich wahrlich um einen ganz außergewöhnlichen Tag handeln. Und in Ihrem Hause sowieso 🙂
    Herzliche Grüße von der Kuh auf der Erbse
    Mallybeau

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    1. Liebe Mallybeau,

      leider konnte ich diese Weltsensation nicht filmen, weiß aber dass ihre Phantasie ausreicht.
      An den Pumuckl und den Föhn kann ich mich auch erinnern. Das bayerische Wetter ist schön heimtückisch.

      Herzliche Grüße.
      Heute im Regen ist alles ruhig.

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  2. Nicht nur in München gibt es solche Tage. Mein Nachbar flippte aus, weil Nachbarins Kater immer auf seinen schönen, teuren und frisch gewienerten Mercedes klettert. Da hat sie eine wunderbare Aussicht hinterläßt aber Pfotenabdrücke. Er hat getobt und gemeint er überfahre sie demnächst. Ich werde ihm raten mit Tiefkühlerbsen nach dem Viecherl zu schmeißen 🙂 Mein Ex war auch so einer, der immer die Ruhe behielt, mich brachte das aber leider zu oft auf die Palme.

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    1. Auf dem Auto meines Vaters sind auch immer Pfoten Abdrücke. Nur auf seinem und nie bei den Autos der Nachbarn. Er freut sich darüber und rätselt seit Jahren warum die Katze gerade sein Auto bevorzugt.
      Ich hoffe dein Nachbar versucht es mit Erbsen. Ich. In sicher, dass er den Kater ernüchternd erwischt. 😉

      Mich bringt Ruhe und Gelassenheit im Übermaß übrigens auch aus dem Takt.

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    1. …ich möchte gar nicht daran denken, Herr Ösi. Von einem Erbsenschrotfangenden Mann habe ich nämlich noch nicht gehört. Am Ende hätte er noch versucht sich hinter mir zu verstecken. Wie gut, dass die Packung gut verarbeitet und robust war.

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  3. Nicht jeder Mann kann das: eine Hand auf dem Schenkel einer Frau und mit der anderen ein Erbsen-Geschoss fangen. Eine jeckes Münchner Panoptikum entfaltest du da wieder, liebe Mitzi. Dazwischen du, offenbar mit einer Engelsgeduld ausgestattet.

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