Unverdautes Brioche

Es gibt zwei Sorten von Glück. Das eine, das einen urplötzlich und unvorbereitet trifft, und Körper und Geist mit solcher Wucht durchflutet, dass es eine wahre Freude ist und der getroffene nur strahlen und laut auflachen kann. Das sollte er auch, denn es ist flüchtig. Dieses mächtige Glücksgefühl, dass die Zeit für einen kurzen Moment anhält und keinen Raum für andere Empfindungen bietet, kann man nicht festhalten und sollte es gar nicht erst versuchen. Ich mag es. Noch lieber aber, mag ich das andere Glück. Das stille, leise, das einer tief empfundenen Zufriedenheit gleicht und sich wie eine warme Decke um die Schultern legt. Heute ist ein besonderer Tag, den ich habe beides.

Schon beim ersten Schluck Kaffee heute morgen, schlug eine Glückswelle über mir zusammen. In sechs Wochen trinke ich den Kaffee in Verona. Es klingt nach einem banalen Gedanken, fühlte sich aber so fantastisch an, dass ich in meine Tasse lachte und vor lauter Freude komische Geräusche von mir gab. Ich beschreibe sie nicht, denn es sind Geräusche, die man nur im Zustand höchsten Glücks und ausnahmslos unter Ausschluss von Zuhörern von sich gibt. Den zweiten und alle weiteren Schlucke trank ich auf meinem Balkon in der Morgensonne. Geräusche machte ich keine, aber das Gefühl tiefer Zufriedenheit war so intensiv, dass es sich um Glück handeln musste. In sechs Wochen fahre ich nach Hause. Ich fahre an einen der drei Orte, die ich als Heimat bezeichne und das macht mich glücklich. Quietsch-Geräusche verursachend glücklich und still lächelnd zufrieden glücklich. Ich fahre nach Hause. Ich fahre nach Verona. Vier Worte und eine Glückswelle gepaart mit einem breiten Lächeln.

Verona ist nah. Mit dem Auto vier Stunden. Nah genug für ein Wochenende und perfekt gelegen um die Urlaube dort zu verbringen. Ich war in den letzten fünfzehn Jahren nicht ein einziges Mal dort. Die Herzensheimat vor der Türe habe ich es vermieden sie aufzusuchen. Die Bildbände „meiner“ Stadt im Regal immer etwas nach hinten geschoben und alte Fotos im Karton ganz bewusst nicht angesehen. Verona ist zu einem Standbild in einem Film geworden. Er stoppte vor 15 Jahren und ich traue mich nicht auf die Playtaste zu drücken. Das letzte Bild zeigt einen Balkon im Spätsommer. Zwei Balkone. Den meinen und schräg darüber den, des mutigsten meiner Freunde. Meiner ist leer. Ich bin gerade ausgezogen. Auf dem seinen er. Rauchend und kopfschüttelnd, weil es schwer zu glauben ist, dass ich zurück nach München gehe. Kein Winken, weil wir uns ja wieder sehen würden. Ganz bald, auf dem oberen der Balkone. Ich habe die Balkone bis heute nicht wieder gesehen.

Bei manchen Filmen enttäuscht mich das Ende. Es wäre besser gewesen eine halbe Stunde vor dem Abspann zu pausieren und das Finale offen im Raum stehen zu lassen. Das Verona-Standbild ist ähnlich. Die darauf folgenden Jahre hätte ich mir sparen können. Nicht gänzlich, aber doch große Teile davon. Sinnlos sich darüber zu grämen und sinnlos sich nicht zu fragen ob es nicht klüger gewesen wäre noch ein oder zwei Jahre in dieser Stadt zu bleiben. Und aussichtslos darauf eine Antwort zu bekommen. Wir hängen fest. Verona und ich. Irgendwo in meinem Magen ist ein unverdautes Brioche, dass mich mit schmerzhafter Sehnsucht an die Stadt denken lässt. Seit Jahren will ich zurück, will sie riechen, hören und für ein paar Tage eintauchen. Ich tue es nicht, weil der Film längst überholt ist. Mittlerweile sind beide Balkone leer und ich scheue mich davor, unter ihnen zu stehen und mich zu fragen, was ich hier eigentlich noch möchte. Ich habe das Kino vor dem Ende verlassen und niemand ist im Foyer der mir etwas über das Ende erzählen kann.

Der unverdaute Kloß im Magen ist weg. Nach fünfzehn Jahren gibt auch ein italienisches Brioche den Kampf auf. Im Büro eine Kollegin gefragt. Wollen wir im Mai mal runter? Nach Verona? Ich kenn da ein paar schöne Ecken. Ein Nicken, ein Urlaubsantrag und ein Datum im Kalender. Es war falsch zu gehen. Natürlich war es das. Der falsche Zeitpunkt und der falsche Grund. Nicht der einzige Fehler in den letzten vierzig Jahren, aber der einzige der unverdaut im Magen festhängt.

Ich fahre nach Hause. Ich werde mich nachts auf die Brücke des Castello Vecchio setzen und dem Fluß zuhören. Vor Jahren ließ ich dort ein kleines Stück von meinem Herzen zurück. Auch auf den Stufen von San Zeno liegt noch ein kleines Eck und hinter der Piazza delle Erbe vermute ich eine mittelgroße Pfütze Herzblut. Als junger Mensch, kann man sein Herz über den ganzen Globus verteilen und sich an einem sehnsuchtsvollen Ziehen erfreuen. Als älterer tut man gut daran die kleinen Stücke wieder einzusammeln und zusammenzusetzen. Ich werde sie mir alle holen. Einen kleinen Riss konnte ich gestern schon kitten. Auf dem Weg zu einer Lesung hörte ich mir das erste Mal die alten CD´s. Zwei Stunden die Lieder mit denen ich früher zwischen den Ländern pendelte. Ohne das hart gewordene Brioche im Magen machten sie mich glücklich. So glücklich, dass ich auf dem Heimweg an München vorbei und bis zur österreichischen Grenze fuhr, um auch die letzte noch zu Ende zu hören.

Ich fahre nach Hause. Warum auch nicht? Da liegt noch etwas von mir herum. Bis letzte Woche wusste ich nicht, dass ich es so dringend brauche. Jetzt hole ich es mir.

 

 

26 Gedanken zu “Unverdautes Brioche

  1. Wie ich das verstehen kann.
    Ich sammle auch grad Herzstücke ein. Auch versuche ich meine Brioches loszuwerden.
    Und ich kenne dein glückliches Quietschen. Es liest sich, als wäre es meinem ähnlich 😉

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    1. Weißt du was toll ist, Jane? Wenn ich etwas schreibe und dabei denke „ach, ne. so ein quietschen….da weiß doch keiner was ich meine…“ und dann kommt so ein Kommentar. Danke! Und viel Erfolg beim Einsammeln. Die Teile sind meist geduldig 😉

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      1. Doch doch, das Quietschen kenne ich auch. Bei mir ist es eine riesige Freude, die nur so in mir drin klingelt, hell und luftig leicht. Ich muss mal schauen, wo ich es eigentlich in den letzten Jahren gelassen habe. Es ist so selten geworden.

        So schön schreibst du von Verona. Da denke ich an das gleichnamige Lied von Heather Nova aus dem Album Oyster. Ich hätte es dir gern verlinkt, konnte es aber nicht finden.

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      2. Bei mir ist es auch selten geworden. Mit dem Alter quietscht man wohl weniger. Aber irgendwann, kommt es dann doch wieder. 😊
        Das Lied muss ich mal suchen. Ich kenne es nicht.

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      3. Das ist eine Art unterdrücktes Kichern, das sich nur schwer unterdrücken lässt.
        Habe schöne Tage in Verona!

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  2. „Ich habe das Kino vor dem Ende verlassen….“,
    das ist ein so toller Satz,
    ach was, das Ganze da oben hast Du so gefühlvoll und nachvollziehbar beschrieben.
    Du kannst wundebrbar mit Worten umgehen.

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  3. Huch … Da ist eine Sehnsucht in deinem Text … Von der ich gar nicht so recht weiß, wieso sie mich berührt. Vielleicht die etwas neidvolle Feststellung, dass ich die Teile von mir immer eingesammelt habe oder verschenkt und abgeschrieben. Und mich jetzt ein wenig neidisch macht auf diesen wunderbaren Text. ☺

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    1. Danke, dir.
      Es ist klug, sie immer wieder einzusammeln. Auch verschenken gefällt mir. Abschreiben ist in vielen Fällen wohl auch nicht das dümmste. Nicht bei Städten, aber sonst.
      „Huch“ ist übrigens eine schöne Reaktion.

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      1. Es ist manchmal aber auch falsch, sich von nichts trennen zu können oder sie hinter sich zu lassen.
        Danke für das Kompliment zum Huch. Ich bin ja für mehr Interjektionen in Kommentaren. Es darf auch gern ein lol sein. Gibt dem geschrieben Wort seine Spontaneität zurück, in der es gemeint war. Und tatsächlich so gesagt … In den leeren Raum hinein.☺

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      2. Wie fast immer situationsbedingt.
        Interjektion mag ich auch. Oft auch lieber als die gelben Kerle…obwohl ich die zu inflationär nutze.

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      3. Die gelben Kerle sind aber auch super. Vor allem weil sie gelb sind … und weil ich mit ihnen groß geworden bin. Sie ergänzen das Schreiben an kritischen Punkten und ich warte auf Smiley-Romane im Feuilleton-Geschmack.

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      1. Warum auch nicht!
        Als ich mal in Verona war, da war dort der ganze Innenhof so mit Gaffern verstopft, dass ich nicht bis zum Balkon vordringen konnte, dafür war’s in der Opernarena schön leer…
        Liebe Frühlingsgrüße vom Lu

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  4. ein text, der mich so sehr berührt hat, dass die gänsehaut über beide arme und den rücken lief und die augen kurz nur verschwommen blickten.

    „Als junger Mensch, kann man sein Herz über den ganzen Globus verteilen und sich an einem sehnsuchtsvollen Ziehen erfreuen. Als älterer tut man gut daran die kleinen Stücke wieder einzusammeln und zusammenzusetzen.“ – ich kenne und verstehe beides. und italien, das ist auch ein stück mein zuhause. in verona war ich noch nie, aber ich weiß, dass ich die stadt eines tages sehen werde und dann werde ich ganz bestimmt an dich denken.

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    1. Es freut mich, wenn jemand die Emotionen so gut nachempfinden kann. Vieles kann man erklären und umschreiben, aber wenn es mitgefühlt wird, dann ist das sehr, sehr schön.
      Ich glaube Verona gefällt dir. Ich wäre auf die Bilder von dir gespannt. 😊

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      1. oh das würde es bestimmt. mal sehen, wann es sich einmal ergibt. du weißt ja selbst, manche vorhaben brauchen eine weile, bis sie sich umsetzen lassen… 🙂

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  5. Wenn mich das unvorbereitete Glück trifft löst sich bald ein Stückchen Hákarl aus meinem Magen… Wobei ich diesen Fehler nie noch einmal machen würde, den Kerl zu verspeisen.

    Ich denke jedem Menschen fällt es schwer wieder auf Play zu drücken, doch Stillstand bedeutet dass es weder vor noch zurück geht… Man könnte genauso gut tot sein oder die Stadt eben non- existent und dass würde selbst ich nicht wollen.

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