Der letzte Erste

Ich mag Dinge die zusammen gehören. Anfang und Ende zum Beispiel. Oder das Erste und das Letzte. Die erste und letzte Seite eines Buches oder die erste und letzte Praline aus einer Schachtel. Das was dazwischen liegt kann durchaus genussvolle Freude sein, aber nie Premiere oder Abschluss. Besonders gerne mag ich den ersten Christbaum des Jahres. Den ersten echten Baum. Nicht die Dekoration in den Schaufenstern. Der erste Baum steht plötzlich an einer Kreuzung, bei einem Nachbarn auf dem Balkon oder wie heute vor dem Eingang zu meiner Firma. Mit meiner Freude über diesen ersten Christbaum habe ich meine Kollegen heute in den Wahnsinn getrieben.

Morgens, weil ich jedem einzelnen erzählte, dass heute der Baum aufgestellt wird und eine Einschätzung verlangte, ob denn am Nachmittag auch schon die Lichter brennen würden oder ob man sie erst im Advent anzündete. Mittags weil ich in den Büros mit dem besten Blick auf den Baum herumlungerte und beobachtete wie er aufgestellt und mit der Lichterkette versehen wurde. Und schließlich Nachmittags, als ich mich bei jedem einzelnen  beklagte, dass ich diesen wunderschönen, strahlenden Baum nicht einmal mit Yoga-erprobten Verrenkungen von meinem Schreibtisch aus sehen konnte. Ich beschwerte mich bitter, schlug eine neue Raumaufteilung vor und wurde gegen Abend weitestgehend gemieden. Sie konnten ja nicht wissen, dass mir der erste Baum so wichtig ist, weil er mich an den letzten Ersten erinnerte.

Es ist besser nicht zu wissen, dass man etwas schönes das aller letzte Mal sehen wird. Es trübt die Freude doch ein wenig und man kann sich der mitschwingenden Sentimentalität nur schwer erwehren. Es macht keinen Spaß eine perfekt Mousse au Chocolat vorgesetzt zu bekommen, wenn man zu gleich aufgeklärt wird, dass man so etwas feines nie wieder kosten darf. Der Gedanke daran verdirbt den Geschmack. Ähnlich wie einem, dem der Geschmack von Weihnachten bereits bitter auf der Zuge lag, als ich mich vor einigen Jahren über den ersten Christbaum freute. Der Erste, rief ich. Sein letzter Erster, antwortete er. Man kann mit drei kleinen Worten dafür sorgen, dass drei Personen in einem Auto für eine Viertelstunde gar nichts mehr sagen wollen. Der eine, weil er vermutlich nicht geplant hatte noch vor seinem vierzigsten Geburtstag sein letztes Weihnachten zu feiern, der andere weil er bereits in Erwägung zog ebenfalls keinem Weihnachten mehr beizuwohnen und eine dritte weil sie es leid war mit jedem Satz Gefahr zu laufen eine Tretmiene auszulösen. Eine Viertel Stunde betretenes Schweigen ist das Maximum, das man sich zumuten darf. Nach sechzehn Minuten warst du es, der sich räusperte und Luft holte. Mit etwas Glück sei es auch das letzte Mal, dass sein Bruder die Kapazität des Reservetanks so überstrapazierte, merkte er schmunzeln an. Es war das letzte Mal und wir schafften es noch zur Tankstelle. Dein Bruder grinste als er sich eine Biffi kaufte und betonte, dass es ganz sicher das letzte Mal sei, weil ihm dieser Fleischabfall schon seit zwanzig Jahren nicht mehr schmeckte. Meine Cola sei sicher nicht die letzte meinte ich und wir verbrachten den Advent mit Aufzählungen der Dinge, die für deinen Bruder das letzte Mal waren. Das letzte Mal in die Berge zum Skifahren, das letzte Mal eine Weihnachtskarte an die Tante schreiben, das letzte Mal die verbrannten Maronen des Vaters als gelungen loben und das letzte Mal zu spät erkennen, dass vier Flaschen Rotwein für drei Personen mindestens eine zu viel waren. Viele der „letzten Dinge“ wiederholten wir mehrfach und schoben das Ende beliebig nach hinten, so lange es ging. Man kann sich nicht vorstellen wie oft man ein Maronenrisotto, das bekanntlich nur in der Adventszeit schmeckt, zubereiten kann ohne sich hoffnungslos daran zu überfressen. Man kürt unzählige Abende zu Abschlussabenden und balanciert jeden Tag aufs neue auf einem schmalen Grad zwischen trunkener Euphorie, weil man noch zu dritt ist und vorgezogener Trauer, weil man weiß, dass man es nicht mehr lange ist.

In der Adventszeit war es leicht, sich über das Ende lustig zu machen. Zwölf Monate und einen zweiten Advent würde dein Bruder nicht schaffen, das wussten wir. Aber eine oder vielleicht sogar zwei Handvoll Monate hatten wir noch. Wenn die Zeit rinnt, erscheint sie auf wundersame Weise unendlich zu sein. Der Kopf weigert sich zu verstehen. Und wenn die Anzahl der Monate zu klein wird, dann rechnet man eben in Wochen – das klingt besser. Es ist gut, dass mir damals niemand gesagt hat, dass ich das nächste Weihnachten nicht mit einer sondern mit zwei Personen weniger verbringen würde. Es tut nicht gut zu wissen, wann man etwas das aller letzte Mal tut und wann das Ende wirklich da ist.  Ich weiß nicht, was das wirklich aller letzte war, das ihr gegessen, gesehen, gesagt oder gedacht habe. Wahrscheinlich sollte man gar nicht daran denken und sich lieber an den Anfang erinnern. An den ersten letzten Christbaum zum Beispiel. Er war genauso schön, wie der, der seit heute vor unserem Büro steht. Und das schönste ist, dass er mit etwas Glück nicht der erste Letzte sein wird.  

 

29 Gedanken zu “Der letzte Erste

  1. Liebe Mitzi,
    was mich am letzten Ersten so erschreckt, ist die Häufigkeit mit der wir die Ersten oder die Letzten erleben, wenn es nicht Pralinen sind, sind es doch meistesn Ereignisse im Laufe eines Jahres.
    Und das erleben wir nur ca. 100 Mal.
    Wenn ich drüber nachdenke, wie schnell 100 Taler in meinem Portemonnaie ausgegeben sind, sind auch 100 Weihnachtsbäume nicht sehr viel. Wie gut, dass in Ihrem Alter ein Jahr noch so lange dauert!
    Stellen Sie einen kleinen Ständer mit einem Spiegel auf, damit Sie den ersten Baum immer sehen können. Dann wird die Zeit wieder länger, bis der Letzte dann auch wieder weg ist! 😉
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, der Spiegel ist eine sehr gute Idee. Mein Kollege schlug es mir heute auch schon vor. Sie und er haben recht. Nicht schimpfen, sondern eine Lösung suchen und sich über den Baum freuen.
      Wollen wir auf viele gemeinsame Jahre hier hoffen. Ich freue mich jedesmal auf den ersten Satz ihrer Texte – und auf den letzten, weil ich dann weiß wie es ausgegangen ist.
      Herzliche Grüße

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    2. „Liebe“ ist in meinen Kommentaren immer das erste Wort!
      Nun muss ich mir noch etwas einfallen lassen, dass Heinrich nicht immer das letzte Wort ist! 😉
      Vielleicht unterschreibe ich einfach mal mit Glück oder Gesundheit oder???
      Das gilt dann (egal wieviel Weihnachtsbäume es noch gibt) auf EWIG 😉

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  2. Wow…. danke für diese Geschichte… sie geht so ziemlich unter die Haut, stimmt nachdenklich, macht aber auch darauf aufmerksam GENAU den Augenblick zu geniessen, den Moment in sich aufzunehmen, nicht an morgen oder gestern zu denken ….einfach nur SEIN. Achtsamkeit ❤
    DANKE für's Erinnern! samu

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    1. Achtsamkeit ist so ein überstrapaziertes Wort geworden. Ich lese es so oft in Zeitschriften. Schade, denn eigentlich ist es ein sehr schönes und wichtiges Wort. Für das Erinnern an dieses Wort, dessen Bedeutung und das begleiten zwischen den Bäumen, vielen lieben Dank.

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  3. Ja…wie recht du hast! Für mich ist das Wort Achtsamkeit noch nicht lange in meinem Sprachgebrauch, ich habe es immer umschrieben mit ganzen Satzkonstrukten und Erklärungen….daher war ich glücklich endlich EIN Wort für ALLES zu finden.
    Seit dem so ist, fällt mir erst auf, dass sich momentan alles um die Achtsamkeit dreht…. Kurse, Bücher, Zeitschriften sind voll mit diesem Thema…. ich hoffe für uns alle, dass diese Entwicklung auch gelebt wird, ein Umdenken bewirkt…. ich freue mich mehr von dir zu lesen!
    liebe Grüsse samu

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    1. Du hast es auf den Punkt gebracht – der Inhalt des Wortes ist sehr gut und darüber nachzudenken und es umzusetzen ein Weg für kleines Glück und Zufriedenheit. Der inflationäre Gebrauch ist mir aufgestoßen.

      Liebe Grüße und ein schönes Wochenende.

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  4. Wie sich die Tanknadel dem Anschlag nähert und sich dann doch noch einmal füllt. Dafür nimmt man wahrscheinlich auch ein Bifi in Kauf. Feiere jeden Baum, als wenn es dein letzter wäre, ist auch ein schönes Lebensmotto. Ich werde heute nach Bäumen spähen. Danke. 🙂

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  5. Der Text berührt mich sehr, zumal ich mich gestern auch so freute über den großen Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz, der gerade aufgestellt wurde. Das war mir noch nie passiert und ich fragte mich, warum diese Freude ausgerechnet in diesem Jahr. Deine Überlegungen bringen mich ein Stückchen weiter…..

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    1. Dann passte der Text dieses Jahr besonders gut für dich. Das freut mich sehr. Hoffentlich können wir die Freude die nächsten Wochen noch behalten, bevor man sich an den Anblick zu sehr gewöhnt hat.
      Liebe Grüße

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  6. Liebe Mitzi,
    dein Text von den ersten und den letzten Dingen hat mich sehr berührt.Es ist in jedem Fall angenehmer an ein erstes Mal als an ein letztes Mal zu denken. So freue ich mich lieber mit dir über den ersten Weihnachtsbaum, den du siehst und wundere mich, denn einst wurde der Baum ja erst Weihnachten aufgestellt. Dieses Voreilige macht mich in meinem Umfeld ganz nervös.
    Lieben Gruß und schönen Abend

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    1. Es geht mir ähnlich. Zwar freue ich mich über den ersten Baum und auch die Lichter in der Stadt gefallen mir, aber die ganze Hektik und das „immer früher“ machen mich ganz nervös, statt ruhiger – so wie es eigentlich im Advent sein sollte.

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  7. Danke für ein augenfeuchtes Lächeln. Erhalte Dir die Freude an den ersten Dingen, denn sie ist bezaubernd und legt sich warm um die Trauer die letzte Erinnerungen in sich tragen.

    Herzliche Grüße
    San

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  8. In unserer Familie zählen wir seit ein paar Monaten rückwärts und wissen, dass jemand, der gerade seinen 40. Geburtstag gefeiert hat, keinen weiteren mehr vor sich hat. Sie wird, wenn sie es noch schafft, am kommenden Wochenende zum letzten Mal mit ihrem kleinen Sohn in ein Musical gehen, für ihn ist es das erste Mal, und sie hat gerade erst den letzten Geburtstag mit ihrem Kind gefeiert, das im Sommer eingeschult wurde.
    Das erste und das letzte Mal, beides markiert gleichermaßen einen Endpunkt, beendet das erste Mal doch die Zeit ind er es das noch nicht gab.

    Schöner Text, der so gut zum Herbst passt.

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    1. Es ist grausam, wenn die Uhr tickt und der Kalender so gnadenlos abläuft. Zu wissen, dass man das eigene Kind nicht aufwachsen sehen wird – ich kann es mir nicht vorstellen, wie schwer das ist.
      Ich wünsche deiner Familie viel Kraft und trotz alledem viele Stunden in denen ihr gemeinsam lacht. Es klingt seltsam, aber es ist möglich und schön. Viele solcher Momente wünsche ich euch.
      Alles Liebe

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