Stadt Atem

Den Herzschlag eines geliebten Menschen spürt man nicht, wenn man neben ihm sitzt. Man hört seinen Atem nicht, wenn man sich angeregt unterhält und nimmt den feinen, ganz eigenen Duft von Haut und Haaren nicht mehr wahr, wenn man ihn zu oft schon gerochen hat. Auch den Puls einer geliebten Stadt spürt man nicht immer. Man nimmt den Herzschlag als gegeben hin und ähnlich wie bei einem Menschen, muss man sich manchmal ein Stück entfernen und zurück kommen, um es wieder zu spüren. Den Atem, das Schlagen des Herzens und den ganz  besonderen Duft, der nach Heimat riecht. Münchens Herzschlag spüren Sie leicht, wenn Sie nur ein bisschen acht geben. Am besten lässt man sich einfach treiben. Der Münchner Puls schwemmt einen schon an all die schönen Orte welche die Stadt zu bieten hat. Auch den Münchner Duft fangen Sie leicht ein. Er ist ja für jeden etwas anderes. Gebrannte Mandeln, Bier oder Isarwasser – es findet sich leicht etwas. Manch ein Tourist schleppt versehentlich den Duft der Pissoirs vom Sendlinger Tor nach Hause und wird ihn nicht mehr los. (Gehen Sie immer brav direkt durch das Tor und umkreisen Sie es besser nicht.) Wenn Sie die Stadt aber atmen hören möchten, dann müssen Sie selbst still werden. Dann dürfen Sie nicht mehr rennen und hetzen. Den Atem der einer Stadt hört man am besten nachts. Ein wenig Einsamkeit schadet dabei nicht. Wenn Sie ihren eigenen Atem hören und dann die Ohren spitzen, dann hören Sie die tiefen und gleichmäßigen Atemzüge der Stadt. Sie können ruhig spazieren gehen, nachts wird es schnell frisch. Um das Geräusch Ihrer eigenen Schritte müssen Sie sich nicht sorgen. Früher oder später nehmen sie unweigerlich den Rhythmus des Atems auf. Zum Beispiel wenn Sie im dunklen über den Rindermarkt laufen und zufällig zwischen den hässlichen Glasbauten den Löwenturm sehen, an dem Sie schon so oft vorbei gelaufen sind. Nachts bleibt man eher kurz stehen und wundert sich, dass er gar keinen Eingang hat. 12 Jahrhundert, das weiß man als Münchner, aber nachts kommt es einem, dass das 12 Jahrhundert seit 900 Jahren vorbei ist. Man geht ein bisschen langsamer, weil man an 900 Jahren nicht vorbei rennt und fragt sich, ob man sie drinnen wohl spürt, die 900 Jahre.

Der Alter Peter daneben ist nicht so alt. Erwähnt wurde die Kirche St. Peter zwar auch schon damals, aber in den folgenden Jahrhunderten so oft umgestaltet oder nach Bränden aufgebaut, dass es als Münchner reicht, zu wissen, dass er schon immer da war. Deshalb ist die Kirche auch ein er – der Alte Peter. Aber nachts erinnert man sich leichter daran, dass dort oben in der Turmwächterstube bis vor fünfzehn Jahren unberührt die Kleidung und die Strohschuhe der  Brandwache lagerten, bevor sie ins Stadtmuseum kamen. Kalt muss es da oben gewesen sein und grausam, weil der arme Wächter auch im Krieg noch da oben stehen musste. Auch wenn ihre Schuhe jetzt im Museum stehen, die Atemzüge von unzähligen Brandwächtern kann man hier noch hören.

Als Münchner sollte ich wissen, wie alt die Residenz und ihre zehn Höfe sind. Ich weiß es nicht. Sie können sich ja einen Stadtführer kaufen, wenn es Sie interessiert. Schlendern Sie mit dem ruhig durch München, aber kommen Sie abends noch einmal zurück und stecken Sie ihn weg. Dann gehen Sie in die Innenhöfe und lehnen sich einfach an die alten Mauern. Sie wissen ja jetzt wie alt sie sind. Und dann lauschen Sie ein bisschen auf die Atemzüge des alten Münchens. Das Theater hat jetzt geschlossen und die Reisegruppen sind längst in ihren Hotels. Auch die Münchner finden Sie hier nicht mehr. Die haben ihre Gänge längst erledigt. Jetzt sind Sie alleine und spüren den Atem von fast 500 Jahre. Falls ihr Reiseführe ein anderes Alter angibt, glauben Sie ihm ruhig. Es ist ja auch egal. Wichtiger ist, dass Sie die Zeit im Auge behalten. Falls die Uhr der Theatinerkirche nachts um eins nicht einmal, sondern dreizehn Mal schlägt, dann machen Sie die unbedingt die Augen zu. Sonst sehen Sie versehentlich die schwarze Frau und das wäre ein großes Unglück. In Ihrem Reiseführer steht darüber natürlich nichts. Jeder der darüber berichten könnte, kann es nicht mehr, nachdem er sie gesehen hat. Ich selbst weiß es von einem, der die Augen fest geschlossen hatte. Gesehen hat er nichts. Aber ihren Atem, den hat er ganz deutlich gespürt. Vielleicht waren es auch nur die Atemzüge der Stadt, die er im Nacken gespürt hat. Gehen Sie vorsichtshalber etwas früher zurück in die Fußgängerzone.

Mit etwas Glück spielt dort Ivan Hayek auf dem Akkordeon für Sie. Sie wissen wie so ein Instrument funktioniert. Auf seine Weise atmet es. Die Atemzüge des Akkordeons von Ivan sind mit das Schönste einer Münchner Nacht.

Was wollte ich Ihnen eigentlich über München erzählen, bevor es zu einem schlecht bis gar nicht recherchierten Text über Stadtgeschichte wurde? Als ich neulich über eine Stunde bei Ivan stand, wusste ich es noch. Auch als ich letzten Dezember in einem Restaurant in der ältesten Altstadt war, hatte ich es genau vor Augen. Weg. Ich habe Sie aufgehalten. Das tut mir leid.

 

 

 

26 Gedanken zu “Stadt Atem

  1. Oft genug habe ich betont, dass ich kein Städter bin, sein will. Obwohl ich in Städten aufgewachsen bin – oder deshalb? In Mietskasernen statt auf dem Land. Auf das ich inzwischen floh. Um festzustellen, dass die Häßlichkeit der Städte allmählich das Land überwuchert, von der Industriebrache unserer durchorganisierten Landwirtschaft ganz zu schweigen.
    Aber manche Städte haben es. Diesen gewissen, durchaus auch auf die eine oder andere Art verlockenden Heimatgeruch. Das kann mitten drin sein – etwa um diese Jahreszeit die Münchner Fußgängerzone, die meiste Zeit des Jahres für mich eher abschreckend, aber jetzt, wenn es nach heißen Maroni riecht, wenn man sich an so einer Tüte festhalten kann… Oder natürlich irgendwo in den ehemals kleinen Siedlungen, die längst zur Stadt gehören, denen die Hochhäuser bis an den Rand der Siedlungshäuschen und Kirchlein gewachsen sind. Da draußen, im ehemaligen Moor- und Lehmland, wo nur eine echte Erinnerung weiter lebt, der kalt darüberstreichende Wind, der immer noch glaubt, freie Bahn zu haben… da kommen sie schließlich alle her, meine ganze Familie, nur ich bin der Fremdling, der nie so ganz dort heimisch werden konnte. Der erste Nicht – Münchner!

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    1. Ich hab „dich“ gerade aus dem Spam gefischt. Dabei sollten der Spamordner, dich nun wirklich schon kennen 😉 Schön, dass du den Maronenduft ansprichst…die sind geade in meinem Ofen. Aber da werden sie natürlich nie so gut wie in der Fußgängerzohne.

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      1. Das macht das Ambiente. Da endlich kann selbst die große Stadt mal punkten. Ansonsten laufe ich lieber vor der großen Stadt herum, ohne mir die Füße plattzustehen, das sei den städtischen Sängern gesagt.

        – He! Im Spam-Ordner! Das, meine ich, nicht verdient zu haben. Das geht schon über unwilliges Beiträge hochladen hinaus, dein Computer bedarf größerer Strenge bei den Erziehungsmaßnahmen!

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